An der Grenzlinie

Über die Grenzen des wissenschaftlichen Erkennens.

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Zu Beginn dieses Jahrhunderts wiesen Arbeiten in der mathematischen Logik und der Berechnung auf den erstaunlichen Sachverhalt hin, daß man nicht jede Tatsache über Zahlen durch die Befolgung von Regeln, also prinzipiell durch ein Computerprogramm, erhalten kann. Diese Funde setzen unserem Wissen über die Welt der Mathematik und Logik Grenzen. Gibt es ähnliche Grenzen für die Möglichkeit, Fragen über natürliche und menschliche Sachverhalte zu beantworten? Können wir jemals die Hoffnung haben, Dinge wie die Preisschwankungen von Wertpapieren, Verkehrsstaus oder Nationalwirtschaften mit den Mitteln der wissenschaftlichen Argumentation zu verstehen? Oder gibt es einige Fragen, von denen sich logisch und nicht nur praktisch zeigen läßt, daß sie jenseits der Grenzen der Wissenschaft liegen?

John Casti

Diese Fragen scheinen besonders heute wichtig zu sein, weil wir eine sich beschleunigende Tendenz bemerken können, die von einer rationalen Analyse menschlicher Probleme zu Antworten übergeht, wie sie von fundamentalistischen Religionen, politischen Demagogen und jenen gegeben werden, die man nur als Zauberer und Okkultisten bezeichnen kann.

Die Wissenschaft als Mechanismus zur Erzeugung von Realität ist einfach eine Verfahrensweise zur Herstellung von Regeln, um Fragen über das Universum zu beantworten. Dabei handelt es sich aber nicht um irgendwelche alte Regeln, sondern sie besitzen bestimmte Eigenschaften - Explizitheit, öffentliche Zugänglichkeit, Vorurteilslosigkeit, Verläßlichkeit - und sie werden durch ein bestimmtes Verfahren, die wissenschaftliche Methode, erzeugt. Wenn wir also sagen, wir besitzen eine wissenschaftliche Antwort auf eine Frage, so bedeutet das, daß wir etwas haben, was in ein Computerprogramm mündet und die Antwort auf die Frage als Ergebnis liefert.

Wie aber würde man jetzt wirklich behaupten können, daß eine bestimmte Frage über die wirkliche Welt, nicht über die mathematische, tatsächlich wissenschaftlich unbeantwortbar ist? Eine Möglichkeit würde sein, analog den begrenzenden Ergebnissen in der Mathematik zu argumentieren, die sagen, daß die Welt der Zahlen nicht gleichzeitig konsistent und vollständig sein kann. Wenn man diese Begriffe in die Alltagssprache übersetzt, würde Konsistenz bedeuten, daß es in der Natur keine wirklich paradoxalen Sachverhalte gibt. Das Wasser fließt nicht gleichzeitig aufwärts und abwärts, und ein Elementarteilchen kann sich nicht gleichzeitig nach rechts und links bewegen. Wenn wir auf etwas treffen, das als solch ein Paradox erscheint - wie die Strömungen, die sich von Quasaren schneller als die Lichtgeschwindigkeit wegzubewegen scheinen -, dann hat im Allgemeinen eine weitere Untersuchung eine Lösung dafür bereitgestellt.

Auf dieselbe Weise bedeutet Vollständigkeit einfach, daß jedes Ereignis eine Ursache hat. Universen gehen nicht einfach spontan aus dem Vakuum hervor und Autounfälle kommen nicht aus dem Nichts. Ereignisse haben nachvollziehbare Ursachen, auch wenn es zu einer bestimmten Zeit für uns sehr undeutlich sein kann, welche Kette von Ursachen bei einem bestimmten Ereignis wirklich vorliegt. Ich glaube, daß die Natur, anders als die Welt der mathematischen Objekte, konsistent und vollständig ist. Es gibt keine wechselseitig sich widersprechenden Ereignisse und Dinge geschehen nicht nur einfach. Da dies, zumindest für manche Kreise, eine ziemlich kühne Behauptung ist, werde ich zu ihrer Unterstützung einige Gründe anführen.

Das Unberechenbare

In der Sprache der Berechnung bedeutet Unvollständigkeit die Existenz von unberechenbaren Quantitäten. Solche Quantitäten wiederum entstehen, indem man schnell und locker mit dem Begriff des Unendlichen spielt. Daher würde eine der Möglichkeiten, wie natürliche und mathematische Welten zusammengehen könnten, die Gegebenheit sein, daß es in der Natur keine wirklichen Unendlichkeiten gibt. In einem logischen System, in dem es nur eine endliche Zahl von Fragen gibt, die in einer endlichen Länge gestellt werden, kann Unvollständigkeit nicht entstehen. Der empirische Beweis für solch ein endliches Universum ist ziemlich fest. Alle Zahlen beispielsweise, die jemals niedergeschrieben, gesprochen oder auf andere Weise von Menschen ausgedrückt wurden, sind mit Gewißheit endlich. Und tatsächlich können die unberechenbaren Zahlen, deren Existenz uns die Theoretiker versichern, nicht wirklich dargestellt werden. Wenn sie dies könnten, dann wären sie nicht mehr unberechenbar, da wir dann eine Regel haben könnten, um jede Ziffer einer Zahl zu charakterisieren. Natürlich beweist dieser Sachverhalt nicht, daß es im Universum keine Unendlichkeiten gibt. Aber unser endlicher Geist hat niemals eine gesehen und würde wahrscheinlich eine solche auch nicht verstehen können, falls wir dazu in der Lage wären.

In diesem Zusammenhang sollte man nicht durch Aussagen über große Zahlen wie 1080, die Zahl der Protonen im bekannten Universum, oder über andere gewaltige Quantitäten in die Irre geführt werden. Obwohl eine Zahl wie 1080 sicherlich einigen Respekt einflößt, ist sie genauso weit vom Unendlichen wie 1 oder 2 entfernt.

Die Stabilität des Sonnensystems

Um die Probleme mit den Grenzen des wissenschaftlichen Erkennens schärfer zu fassen, wenden wir uns einer wohlbekannten Frage aus der Physik zu, die einige der Schwierigkeiten enthält, mit Grenzen zurechtzukommen. Es handelt sich um das klassische Problem der Stabilität des Sonnensystems.

Die berühmteste Frage der klassischen Himmelsmechanik ist sicherlich das N-Körper-Problem, das in vielen Formen erscheint. Eine Version hat es mit N Punktmassen zu tun, die sich in Übereinstimmung mit Newtons Gesetzen der Schwerkraft bewegen. Die Trajektorien der Partikel ergeben sich aus der Lösung dieser Differentialgleichungen:

Hier ist mi die Masse und ri der Positionsvektor des i-ten Partikels, während rij= ri - rj die euklidische Entfernung zwischen in den Partikeln i und j ist. Die Menge

ist das Selbstpotential (die negative der potentiellen Energie des Partikelsystems).

Jeff Xia von der Northwestern University benutzte in seiner Dissertation eine Arbeit von Don Saari, um die zweite Möglichkeit definitiv zu beantworten, indem er ein 5-Körper-System konstruierte, bei dem einer der Körper tatsächlich eine unbegrenzte Geschwindigkeit erhält. Die Abbildung 1 zeigt die allgemeine Idee, die der Konstruktion Xias zugrundeliegt. Sie enthält zwei binäre Systeme und einen fünften Körper, der zwischen diesen hin und her schwingt. Wenn man alles richtig anordnet, läßt sich der einzelne Körper dazu bringen, sich immer schneller zwischen den 2-Körper-Systemen zu bewegen, bis er nach einer bestimmten Zeit eine beliebig große Geschwindigkeit erreicht. Natürlich sagt dieses Ergebnis nichts über den spezifischen Fall des Sonnensystems aus, aber es legt nahe, daß es nicht stabil sein muß, und es bietet, was noch wichtiger ist, neue Mittel an, mit denen sich derartiges weiter erforschen läßt.

Xias Lösung des N-Körper-Problems

Xias Ergebnisse unterstreichen den Punkt, daß es einen riesigen Unterschied zwischen einem physikalischen Phänomen wie einer Planetenbewegung und einem mathematischen Bild dieses Phänomens gibt. Und wenn man zu den Grenzen kommt, dann sind wir an den Prozessen der realen Welt und nicht am mathematischen Modell interessiert.

Berechenbarkeit ist relativ

Man sollte sich noch einen zweiten Punkt vergegenwärtigen, nämlich das Berechenbarkeit ein relativer und kein absoluter Begriff ist. Quantitäten sind nur relativ zu einem bestimmten Modell dessen zu berechnen, was es heißt, eine Berechnung auszuführen. Das in der Wissenschaft benutzte Standardmodell wurde vom britischen Computerwissenschaftler Alan Turing Mitte der 30er Jahre entwickelt. Aber es ist keineswegs die einzige Möglichkeit, und heute können wir sehen, daß man anderen Modellen, die etwa auf den biologischen Eigenschaften der DNS oder den Eigenschaften der Quantenphänomene basieren, große Aufmerksamkeit schenkt. Ein jedes derartiges Modell erzeugt seine eigene Klasse von berechenbaren Quantitäten, und es ist eine offene Frage, ob das, was im Sinne Turings unberechenbar ist, nicht im Rahmen eines dieser anderen Modelle berechenbar wird.

Schließlich gibt es noch das Problem der Deduktion. Alle Ergebnisse, die in der Mathematik und bei Computern Unvollständigkeit belegen, beruhen auf deduktiven Schlußfolgerungen, im wesentlich aus dem Nachvollzug einer vorgeschriebenen Menge von deduktiven Regeln, die von allgemeinen Prämissen bis hin zu bestimmten Folgerungen reichen. Aber Deduktion ist keineswegs die einzige Weise des Denkens, die uns zur Verfügung steht. Es gibt auch die Induktion, in der wir aus bestimmten einzelnen Gegebenheiten allgemeine Schlüsse ableiten, und andere, weniger bekannte Argumentationsformen wie die Abduktion. Wenn wir diese Formen des Schließens benutzen, ist es nicht klar, was hier Unvollständigkeit wirklich bedeutet, einmal ganz davon abgesehen, ob das logische System diese überhaupt enthält oder nicht.

All das führt dazu, daß Behauptungen über die Grenzen des wissenschaftlichen Erkennens, die auf dem Argument der Unvollständigkeit in der Mathematik beruhen, bestenfalls von zweifelhaften Wert sind. Finitheit, andere Formen der Berechnung als die Turings und alternative Weisen des Schlußfolgerns verleihen der Vorstellung Gewicht, daß sich jede Frage, die wir an das Universum richten können, durch wissenschaftliche Regeln beantworten läßt, zu denen auch jene gehören, die man normalerweise mit der menschlichen Kreativität verbindet.

Literatur

Copyright 1997 John Wiley & Sons, Inc. Die Kolumne von John Casti ist zuerst in der Zeitschrift Complexity Vol. 3/No. 1, Sept./October 1997 erschienen. Complexity wird von Harold Morowitz und John Casti herausgegeben.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer