An der Tilgungsfront

Seite 4: Pilgerfahrt zu den Wirtschaftsweisen

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Wenn man - wie ich - regelmäßig die Herbstgutachten der sogenannten fünf Wirtschaftsweisen zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahren gelesen hat, ermüdet man schnell: Jahr für Jahr wird der Staat zu Haushaltsdisziplin, werden die Arbeitnehmer zu Lohnzurückhaltung gemahnt.

Professor Peter Bofinger gehört dem Rat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der übrigens vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Regierung ernannt wird, seit März 2004 an. Das ist lange, wenn man bedenkt, dass in dieser Periode inzwischen schon zwei Börsencrashs liegen. Bofinger tritt im Gegensatz zu vieler seiner Kollegen für einen starken Staat ein. So forderte er 2009 im SPIEGEL die Einführung von staatlichen Ratingagenturen. Auch die von Volkswirten gerne verwendeten Medikamente Lohndumping, Steuersenkung und Abschaffung von Kontrollen verabreicht der Würzburger Doktor nicht.

Im sechsten Kapitel der Expertise des Sachverständigenrates 2011, betitelt "Die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte" wird auf Seite 168 festgestellt:

Tendenziell wachstumsfördernd wäre eine schnelle, entschlossene Rückführung der Tragfähigkeitslücke, die vornehmlich auf der Ausgabenseite ansetzt.

Dazu muss man als Laie wissen, dass die Volkswirte weitgehend die Ansicht vertreten, Wachstum senke den Schuldenstand. Da dieser am Bruttosozialprodukt gemessen wird, ist es deshalb das größte Bemühen aller Regierungen, auf dem Papier das Bruttosozialprodukt zu steigern. Ob durch Kriege, Gefängnisse und Justiz - wie in den USA - oder durch zwangsweise Wochenendunterbringung von Kranken in Spitälern - wie in Deutschland und Österreich -: der Phantasie sind dabei wenig Grenzen gesetzt. Allerdings erhöhen auch die Staatsausgaben selbst dann das Bruttosozialprodukt, wenn sie durch Schulden finanziert werden. Die Wirtschaftsweisen empfehlen auf Seite 275:

Hohe Steuer- und Abgabensätze mindern die Leistungsanreize sowie die Kapitalakkumulation und führen so zu einem niedrigeren Wachstumspfad. Vor diesem Hintergrund wären Ausgabensenkungen vorzuziehen.

Schlechte Aussichten für eine Tilgung, denn Ausgabensenkungen senken ja allenfalls - wie in der unsinniger weise sogenannten "Schuldenbremse" - die Neuverschuldung. Übrigens kommt der Begriff "Tilgung" im Gutachten der Wirtschaftsweisen nicht vor.

Ein Wirtschaftsweiser infiziert sich mit dem Tilgungsvirus

Nachdem doch eine erstaunliche Zahl von Medien über die zugegebenermaßen kümmerlichen Tilgungsversuche berichtete, so das ARD-Morgenmagazin, die Financial Times, Focus, Wirtschaftswoche, Frankfurter Rundschau und SPIEGEL-Online, könnte davon ausgegangen werden, dass der Zusammenhang von Tilgung und dem Zahlen derselben mit eigenem Vermögen als unliebsame Aussicht nun durchaus bekannt ist. Umfragen von STERN und T-Online ergaben eine breite Zustimmung zum Tilgungsvorschlag.

Wann würden sich erste Politiker und Wirtschaftsweise davon infizieren lassen? Da die gesamten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden etwa 550 Milliarden betragen, würde eine Ausgabensenkung in Höhe der Neuverschuldung von 300 Milliarden Euro zum sofortigen Zusammenbruch der Bundesrepublik Deutschland führen.

Wir schreiben den 11. August 2011. Das nächste Herbstgutachten steht bevor. Same procedure as every year. Oder doch nicht? Zwischen den Zeilen eines Gastbeitrages von Peter Bofinger entdecke ich eine erstaunliche, nein, eine sensationelle Passage. Sie umfasst nur wenige Zeilen:

Auch aus Gründen der Gerechtigkeit wäre es naheliegend, die Kosten der Krisenbewältigung von jenen tragen zu lassen, die von den Fehlentwicklungen der Boomjahre und der anschließenden Rettung am meisten profitiert haben. Dies könnte dafür sprechen, die zusätzlichen Einnahmen nicht nur über die Einkommensteuer, sondern auch über Vermögensabgaben zu erbringen. Auch hier kann Deutschland als Vorbild dienen.

Obgleich das Wort "Tilgung" noch immer fehlt - dies könnte ein erster Hinweis darauf sein, dass in der nächsten Expertise der Wirtschaftsweisen deren Weisheit in Sachen Staatsschulden steigt. Und vielleicht haben wir Kleintilger dazu ein wenig beigetragen.