Angriff auf Nachdenkseiten: Als die "Zeit" Journalismus zu bewerten versuchte
Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Albrecht Müller. Bild: Screenshot Youtube-Video / NachDenkSeiten
Medienschelte: Sahra Wagenknecht und die Webseite als Vorreiter des russischen Totalitarismus? Über die Grenzen zwischen Journalismus und Diffamierung.
Welche Art von Kritik verträgt die lebendige Demokratie, wo hört die Legitimität auf, wann wird sie zur Propaganda? Das sind Fragen, die nicht letztgültig beantwortet werden können. Die Antwort ist abhängig vom Selbstverständnis derjenigen, die das im öffentlichen Gespräch aushandeln.
Markus Linden, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier und Publizist, hat für die Nachdenkseiten eine eindeutige Zuordnung gefunden: Propaganda. In einem Artikel, erschienen am 8. Dezember in der Zeit [1], erklärt er, dass sich die Webseite "zu einem postfaktischen Propagandamedium" entwickelt habe.
Parallelen zwischen Wagenknecht und Nachdenkseiten
Nach einem Beginn als kritische Webseite, gegründet von "zwei SPD-Urgesteinen als keynesianische Reaktion auf die neoliberale Politik der Schröder-Ära", sei es später "qualitativ tief bergab" gegangen.
Als ältestes Datum dafür nennt Linden das Jahr 2011, markiert durch einen Vortrag von Sahra Wagenknecht in Pleisweiler-Oberhofen, wohin die Nachdenkseiten zu Gesprächen laden, die seit 1986 dem Anspruch folgen, eine "ungeschminkte öffentliche Debatte" [2] zu Probleme unserer Zeit zu führen.
Warum der Vortrag Wagenknechts 2011 für den Politikwissenschaftler den Wendepunkt zum qualitativen Abstieg der Nachdenkseiten markierte, erschließt sich der Leserschaft des Zeit-Artikels lediglich andeutungsweise. Sie oder er erfährt, dass der Vortrag nach Einschätzung Lindens "intellektuell anspruchsvoll" war.
Dem folgt sogleich ein Kernsatz der Kritik Lindens an den Nachdenkseiten, deren Entwicklung von ihm mit der von Sahra Wagenknecht parallelisiert und verquickt wird. Das kommt ziemlich passgenau zu Zeiten, in denen Wagenknecht vor dem Kick-off ihrer neuen Partei steht.
Damals, zu den kritischen Zeiten, galt nach seiner Beobachtung noch:
Allianzen wurden nicht mit despotenfreundlichen Lagern und Realitätsverweigerern gesucht, sondern mit verschiedenen analytischen Schulen der Ökonomie.
Markus Linden, Die Zeit [3]
Danach folgte, so Linden, der qualitative Abstieg. Erst bei den Nachdenkseiten, später dann bei der Linken-Politikerin. Der Abstieg führte laut Linden direkt in die Propaganda. Diese eröffnet, so sein Vorwurf, Allianzen mit Despoten, namentlich Putin, und mit "Realitätsverweigerern". Das sind diejenigen, die das Wort von der Fassadendemokratie führen.
Das ist das tragende Leitmotiv des anprangernden Artikels in der Zeit.
Eine weitere Parallele: Zur AfD
Linden veranschaulicht seinen Propaganda-Vorwurf an die Nachdenkseiten und parallel dazu an Wagenknecht mit einer weiteren Parallele. An deren Ende steht dann ein Mann, der gerichtlich als "Nazi" [4] bezeichnet werden darf: Björn Höcke.
Analog zum Verhältnis des Compact-Magazins zur AfD sieht Linden die Nachdenkseiten als mediales Vorfeld mit Vorreiterrolle für eine Politik, die, wie er das bei Wagenknecht beobachtet, in eine "immer offensivere Propaganda für die Narrative des neuen russischen Totalitarismus" umschlägt.
Im Gegensatz zu Höckes offenem Neofaschismus ist Wagenknecht aber weiterhin so gewieft, die harten Formulierungen aus diesem medialen Vorfeld oder aus ihrer personellen Umgebung nicht direkt zu übernehmen, sondern vor allem den dort verbreiteten Tenor anzutriggern.
Die Zeit [5]
Hier verschafft sich eine ungewöhnliche, bissige Schärfe der Kritik an einem Magazin Luft, das als Alternativmedium gilt und sich als Anlaufstelle für Leser präsentiert, die einen offenen Dialog suchen.
Die Attacke geschieht in einem Medium, der Zeit, das als Leitmedium des sogenannten seriösen Journalismus gilt und das zu dieser Art von Gegenöffentlichkeit, die die Nachdenkseiten für viele verkörpern, die eine wichtige Anlaufstelle für Kritik an der Berichterstattung sind, in Konkurrenz steht.
Geschäftsmodelle
Die Propaganda sei ein Geschäftsmodell, behauptet Linden. Er ist seinerseits für eine Denkfabrik tätig, deren Geschäftsmodell das Aufspüren von Desinformation ist. Dafür bekommt sie staatliches Geld.
Auffällig ist die Kluft zwischen den schweren, rufschädigenden Vorwürfe des Politikwissenschaftlers und Spezialisten für "neue Rechte und Rechtspopulismus sowie digitale Alternativmedien und Verschwörungstheorien" und seinen inhaltlichen Begründungen.
Reicht "der Tenor, der angetriggert wird" für eine solche Attacke?
Man bekommt den Eindruck, dass Tendenz angemahnt und dabei selbst Tendenzielles, also wenig Sachliches, zur Anwendung kommt.
Konkrete Vorwürfe
Es gebe einige Ex-Mitarbeiter vom mittlerweile verbotenen RT-Deutschland, die für die Nachdenkseiten arbeiten, und es würden weiterhin Beiträge auf RT verlinkt, untermauert Linden seine Propaganda-These. Die Nähe der Nachdenkseiten zum russischen Staatsfernsehen ist für ihn mit solchen Indizien belegt.
Aber was ist mit kritischen Lesern?
Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass sich RT nach Beginn des russischen Angriffs im Februar 2022 auf die Ukraine radikalisiert hat und dadurch keine Quelle von sachlichen Nachrichten zum Ukraine-Krieg und Hintergründen sein kann. Sie wissen das und sie dürften erkennen, wie parteilich die Berichterstattung ausfällt. Das war schon zuvor nicht schwer zu erkennen.
Dennoch gab es Artikel, die ein Licht auf die russische Sichtweise werfen und die dadurch auch interessant sind. Nicht nur was den Konflikt mit der Nato und dem Westen betrifft, wenn das auch ein Schwerpunkt ist, sondern auch auf Vorgänge im Westen: Ein Beispiel dafür waren lange Dokumentationen über Ausschreitungen bei Demonstrationen in Frankreich.
Was kann man Lesern zumuten?
Kann man das den Lesern nicht zumuten, weil sie eben nicht mündig und klug sind, sondern allzu aufnahmebereit für Propagandakost?
Ist dies das Bild der lesenden Bürger in einer lebendigen Demokratie, dass sie nur Medien lesen sollen, die ein TÜV-Siegel von Demokratieexperten bekommen, die Platzanweisungen verteilen, damit das Haus sauber bleibt?
Nähe zu Verschwörungsmythen
Es geht Linden aber nicht nur um Propaganda für das autoritäre und repressive russische System, sondern auch um eine von ihm vorgeworfene Nähe der Nachdenkseiten zu Verschwörungstheorien, so wie er sie detektiert hat.
Seinen Beobachtungen nach stehen die Nachdenkseiten mit Verschwörungstheorien zu 9/11 und neuerdings zum Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen im Bunde.
Lindens Argument: Beide Male werde eine These vertreten, wonach die US-Regierung im September 2001 und die israelische Regierung Anfang Oktober 2023 trotz Warnungen der Geheimdienste nicht mit nötigen Gegenmaßnahmen reagiert hätten. Das ist bis dahin ein Vorwurf, der auch in Medien kursiert, die zum akzeptierten Kanon gehören.
Die Begründungen dazu unterschieden sich, da teilen sich die Ansichten - in Parallelwelten. So wird die Passivität von einigen mit folgender Absicht erklärt: Weil die Attacke der politischen Agenda der Regierungen zupass gekommen sei.
Im aktuellen Fall des massenmörderischen und unglaublich brutalen Massakers der Hamas, begangen an Menschen in Israel, zitiert Linden Albrecht Müller, einen der Gründer der Nachdenkseiten:
Man kann davon ausgehen, dass Israel die Vorbereitung auf die Angriffe aus dem Gazastreifen wahrgenommen hat. Israel hat diese Vorbereitungen und dann auch die palästinensische Militäraktion vermutlich hingenommen, um nach den Angriffen einen weltweit publizierten und akzeptierten Grund dafür zu haben, im Gazastreifen aufzuräumen.
Albrecht Müller, zitiert nach Markus Linden [6]
Dass israelische Geheimdienste gewarnt haben, war auch eine Nachricht bei Ha’aretz [7], aber der Schluss, dass "Israel diese Vorbereitungen und dann auch die palästinensische Militäraktion vermutlich hingenommen" hätten, um "aufzuräumen", findet sich nicht in dem Medium Ha‘aretz, das als sehr regierungskritisch einzuordnen ist und wegen seiner scharfen Kritik von der Regierung Netanjahu und Anhängern diskreditiert wurde.
(Ergänzung: Solche Unterstellungen wie von Müller finden sich ausgearbeitet etwa bei apolut, wo man von unterstellten Konspirationen zwischen der Israel und dem WEF ausgeht, nach dem Motto "wer im Hintergrund die Fäden zieht", - deutsche Mondscheinsonaten.)
Raunende Spekulationen
Das ist seitens Albrecht Müllers pure, raunende Spekulation. Er fällt immer wieder mal durch eigenartige Interventionen auf. Etwa durch die Unterzeichnung des "Neuen Krefelder Appells" im November 2021 mit dem Titel: Den Kriegstreibern in den Arm fallen [8].
Dort stehen Sätze, die durchaus als anschlussfähig für Verschwörungsmythen sehen kann, wenn diese Nähe in den Fokus gerückt wird.
Aber die Machthaber dieser Welt führen Kriege auch an neuen, andersartigen Fronten. Unter dem Deckmantel der Pandemie-Bekämpfung wird das Leben von Milliarden Menschen gefährdet. Das betrifft vor allem Länder der so genannten "Dritten Welt". Allein in Indien hat der Lockdown nach Angaben der "World Doctors Alliance" Millionen Menschenleben gekostet. Eine noch größere Gefahr geht von der "Impf"-Kampagne aus – für Milliarden von Menschen. Dahinter steht die Strategie des "Great Reset" des Forums der Superreichen, das sich "Weltwirtschaftsforum" nennt (…).
Neuer "Krefelder Appell" [9]
Und die Meinungsfreiheit?
Es geht dem Autor dieser Zeilen aber nicht darum, kritisierbare, überreizte Inhalte der Nachdenkseiten gegenüber der Kritik Lindens in Schutz zu nehmen.
Der Autor ist da inhaltlich, – konkret, was die erwähnten Aussagen von Müller über Israel wie auch zum "Deckmantel" Pandemie-Bekämpfung betrifft, aber auch an anderen Stellen –, überhaupt nicht einverstanden, sondern findet sich auf der Gegenseite.
Vielmehr geht es ihm darum, dass solche Platzanweisungen, wie sie Markus Linden mit seinem Propaganda-Vorwurf macht, ihrerseits in die Kritik zu nehmen sind. Weil sie den Ausschluss von anderen Sichtweisen versuchen, weil sie von oben herab mit Lesern umgehen, als handele es sich um ABC-Schüler, die es nötig haben, vom Medien-Lehrerzimmer darüber belehrt zu werden, was sie lesen dürfen.
Das ist neben Rufschädigung des Magazins, die einer Cancel-Kultur sehr nahe kommt, da sie wirtschaftliche und berufliche Konsequenzen für eine Konkurrenz auf dem Markt der Meinungsbildung hat, eine abfällige Unterschätzung der Lesekompetenz von Mediennutzern.
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[2] https://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/21_pleisweiler_gespraech_einladung_wagenknecht.pdf
[3] https://www.zeit.de/kultur/2023-12/nachdenkseiten-nachrichtenportal-blog-sahra-wagenknecht-propaganda/komplettansicht
[4] https://www.tagesschau.de/inland/regional/hessen/hr-staatsanwaltschaft-frankfurt-demonstranten-duerfen-bjoern-hoecke-als-nazi-bezeichnen-100.html
[5] https://www.zeit.de/kultur/2023-12/nachdenkseiten-nachrichtenportal-blog-sahra-wagenknecht-propaganda/komplettansicht
[6] https://www.zeit.de/kultur/2023-12/nachdenkseiten-nachrichtenportal-blog-sahra-wagenknecht-propaganda/komplettansicht
[7] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-12-05/ty-article/.premium/despite-intel-warnings-about-a-hamas-attack-the-army-didnt-evacuate-the-nova-festival/0000018c-3993-dc03-a9ec-3dfb2cda0000
[8] https://peaceappeal21.de/
[9] https://peaceappeal21.de/
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