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Angriffsziel Krankenhaus

MSF-Mitarbeiter nach der Zerstörung des Krankenhauses in Kunduz. Bild: MSF

In den vergangenen Monaten wurden Krankenhäuser der "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) in Afghanistan, Jemen oder Syrien zum Ziel von Bomben. Von Zufall kann hier keine Rede mehr sein

"Wir erleben eine Welle von Angriffen, die unsere Kernaufgaben bedroht", meinte Joanne Liu, vorsitzende Präsidentin der Menschenrechtsorganisation "'Ärzte ohne Grenzen" (MSF), vor einigen Tagen in einem aufrüttelnden Appell [1] an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Des Weiteren führte Liu aus, dass im Laufe der letzten Monate zahlreiche MSF-Krankenhäuser zum Ziel militärischer Gewalt wurden.

"Medizinisches Personal wird bedroht. Patienten werden in ihren Betten erschossen. Weitreichende Angriffe auf Gemeinschaften sowie präzise Angriffe auf Gesundheitseinrichtung werden als Fehler bezeichnet, völlig geleugnet oder einfach ignoriert", so Liu.

Besonders im Vordergrund stehen in diesem Kontext der NATO-Angriff im afghanischen Kunduz bei dem im vergangenen Oktober 42 Menschen getötet wurden, mehrere Angriffe im Jemen mit zahlreichen Toten und Verletzten sowie die katastrophale Lage im syrischen Aleppo, wo Ende April der Angriff auf ein Krankenhaus mindestens fünfzig Menschen das Leben kostete.

Liu bezeichnete diese Fälle unter anderem als massive sowie unangemessene Gewalt gegen Zivilisten und fügte hinzu, dass man teils auch von "Terrorakten" sprechen könne. Ein genauer Blick auf die Angriffe macht deutlich, dass diese Aussage keineswegs untertrieben zu sein scheint. Abgesehen davon gibt es zahlreiche Indizien, dass die jeweiligen Akteure, die sich nun allesamt jeglicher Verantwortung entziehen, vorsätzlich gehandelt haben.

Der Horror von Kunduz

Im Oktober vergangenen Jahres wurde die Provinzhauptstadt des nordafghanischen Kunduz kurzweilig von afghanischen Taliban-Kämpfern eingenommen. Der Fall der Stadt war nicht nur für das Versagen der afghanischen Regierung in Kabul, sondern vor allem für die NATO-Streitkräfte im Land symbolisch. Im Laufe der Gefechte orderte die afghanische Armee, die anfangs jegliches Gerät liegen ließ und das Weite suchte, mehrfach amerikanische Luftunterstützung an.

Am 3. Oktober wurde das MSF-Krankenhaus der Stadt, welches gleichzeitig die letzte Gesundheitseinrichtung mit Fokus auf schwere Verletzungen und Kriegstraumata war, Ziel eines dieser Bombardements. 42 Menschen, allesamt Zivilisten, wurden bei diesem Angriff getötet. Bei vierzehn von ihnen handelte es sich um Mitglieder des Krankenhauspersonals.

Kurz nach dem Angriff sprach MSF umgehend von einem Kriegsverbrechen. Andere Organisationen, unter anderem auch die UN, zogen nach und verurteilten den Angriff scharf. Währenddessen reagierte man in Washington sowie in europäischen Hauptstädten zurückgehalten. Das US-Militär leugnete zunächst, ein Krankenhaus angegriffen zu haben. Zum gleichen Zeitpunkt wollten die Regierungssprecher in Berlin nicht einsehen, warum der Angriff als Kriegsverbrechen bewertet werde. Man wolle erst einmal abwarten, hieß es.

Das Weiße Haus änderte seine Sicht der Dinge ganze vier Mal innerhalb kürzester Zeit und verwob sich damit in immer mehr Ungereimtheiten. Anschließend hieß es, dass man eine Untersuchung einleiten werde. Zum gleichen Zeitpunkt forderten MSF und andere Akteure eine unabhängige Untersuchung, die nicht der Kontrolle der Täter - in diesem Fall sowohl das US-Militär als auch die afghanische Regierung - obliegt.

Laut dem vor kurzem erschienenen, teils geschwärzten Bericht des US-Militärs wurde das Krankenhaus aufgrund "einer Folge von Fehlern" zum Ziel. Außerdem sei der Angriff nicht als Kriegsverbrechen zu bewerten. Sechzehn Angehörige des Militärs wurden mit disziplinarischen Strafen zur Verantwortung gezogen. Eine Strafverfolgung hat jedoch niemand von ihnen zu befürchten. Abgesehen davon bleiben ihre Identitäten geheim, wodurch man nicht verfolgen kann, ob ein Individuum überhaupt auf irgendeine Art und Weise zu Rechenschaft gezogen wurde.

In einem ausführlichen UN-Bericht zum Angriff wird das Vorgehen des US-Militärs unter anderem als "unentschuldbar" und "möglicherweise kriminell" bezeichnet [2] . Zu einem ähnlichen Ergebnis kam ein von MSF eigens erstellter Bericht [3], der teils schockierende Details zu jener Nacht enthält. Abgesehen davon betonen beide Berichte die Tatsache, dass MSF die Koordinaten des Krankenhauses in Kunduz mehrmals an die Kriegsparteien sowie an weitere Akteure übermittelte und deshalb sicher davon ausging, nicht zum Ziel zu werden.

Stattdessen wurde das Krankenhaus präzise bombardiert und ganze 211 Mal getroffen. Des Weiteren macht eine ausführliche Recherche [4] von The Intercept deutlich, wie widersprüchlich sich die verantwortlichen Akteure, sprich, amerikanisches und afghanisches Militär, bis heute verhalten. Vertreter der afghanischen Armee meinen weiterhin, dass sich bewaffnete "Terroristen" im Krankenhaus aufhielten. Des Weiteren kamen teils absurde Verschwörungstheorien zum Ausdruck, etwa der Vorwurf, pakistanische Militärs hielten sich im Krankenhaus auf.

Abgesehen davon wurde dank der Intercept-Recherche deutlich, was für ein Wirrwarr die westlichen Missionen in Afghanistan darstellen. De facto ist hier von zwei konkreten Missionen die Rede: "Resolute Support" von der NATO und die rein amerikanische Mission "Freedom's Sentinel". Das Problem ist jedoch die Tatsache, dass beide Missionen keine klar getrennten Kommandostrukturen haben. Stattdessen wird das Ganze als eine Art Spielbox beschrieben, in der man sich bei Bedarf beliebig bedient.

Dieses strukturelle Durcheinander, was wohl bewusst so gehalten wird, macht allerdings auch deutlich, dass die Schuldigen sich nicht nur auf Seiten des US-Militärs befinden. Den afghanischen Streitkräften war das MSF-Krankenhaus schon seit längerem ein Dorn im Auge, da es - wie man es eben von Ärzten erwartet - eine völlig neutrale Rolle einnahm und alle Menschen, auch Taliban-Kämpfer, behandelte. In diesem Kontext wurde bekannt [5], dass im vergangenen Juli afghanische Spezialkräfte einen Einschüchterungsversuch unternahmen, indem sie die Klinik stürmten und durchsuchten.

Ignorierte Zerstörung im Jemen

Im März 2015 hat Saudi-Arabien eine großangelegte Militärintervention im Nachbarland gestartet. Der vorgeschobene Grund: Die schiitischen Huthi-Rebellen, die kurz zuvor den Präsidenten abgesetzt hatten, müssten zurückgedrängt werden. Laut den Saudis werden die Rebellen vom ebenfalls schiitischen Iran gesteuert. Saudi-Arabien und Iran tragen seit Jahrzehnten eine Art Kalten Krieg in der muslimisch geprägten Welt aus und kämpfen um die Vorherrschaft in der Region. Während Riad meint, für alle sunnitischen Muslime zu sprechen, gibt Teheran vor, alle schiitischen Muslime zu repräsentieren.

Die saudischen Angriffe haben seit Beginn des Krieges über 6.000 Jemeniten das Leben gekostet. Regelmäßig werden Zivilisten angegriffen. Zu den Angriffszielen gehören etwa belebte Marktplätze, Hochzeitsgesellschaften sowie Krankenhäuser. Allein in den letzten Monaten wurden drei Einrichtungen von MSF zum Ziel von saudischen Bombardements. Ebenfalls im Oktober vergangenen Jahres wurde ein Krankenhaus in der nördlichen Provinz Saada angegriffen [6]. Mindestens sechs Menschen, allesamt Zivilisten, wurden dabei verletzt. Ähnlich wie in Kunduz war die Klinik die einzige in der Region, die schwere Verletzungen behandeln konnte. Seit Mai 2015 wurden dort 3.400 Verletzte behandelt.

Das Shiara-Krankenhaus im Jemen wurde am 10. Januar 2016 bombardiert. Bild: MSF

Im Dezember wurde eine weitere MSF-Einrichtung, diesmal in Taiz im Süden des Landes, bombardiert [7]. Mindestens neun Menschen wurden verletzt. Noch in den Tagen zuvor hatte das Krankenhaus Hunderte von Patienten behandelt.

Selbiges Szenario spielte sich auch im vergangenen Januar ab. Eine weitere Klinik von MSF wurde abermals im Norden des Landes angegriffen [8]. Mindestens fünf Menschen wurden dabei getötet, neun weitere verletzt. Unter den Verletzten befanden sich auch Mitglieder des Krankenhauspersonals.

In allen Fällen sprach MSF von Kriegsverbrechen und wies darauf hin, dass die Koordinaten aller Krankenhäuser allen Kriegsparteien, allen voran den Saudis, übermittelt wurden. Währenddessen stritt die saudische Seite jegliche Verantwortung ab oder ignorierte die Vorwürfe schlichtweg.

Über die Angriffe auf Krankenhäuser im Jemen sowie über den dort vorherrschenden Krieg findet nahezu keine Berichterstattung statt. Sowohl in Deutschland als auch in den USA hat dies einen Hauptgrund: Saudi-Arabien gehört zum "wichtigsten strategischen Partner in der Region", wie es immer wieder heißt. Aus diesem Grund wird die saudische Bombenallianz im Jemen nicht nur von den Golfstaaten oder der Türkei unterstützt, sondern auch von den USA und europäischen Staaten.

Riad wird sowohl von den USA als auch von Deutschland mit Waffen beliefert. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kamen unter anderem zum Schluss, dass im Jemen auch illegale Streumunition aus US-amerikanischer Produktion gegen Zivilisten eingesetzt wurde.

Syrien: "Patienten und Ärzte sind legitime Ziele"

Ein weiterer Schauplatz von bombardierten Krankenhäusern ist Syrien. Die meisten Angriffe in diesem Kontext sind der Armee von Präsident Baschar al Assad zuzuschreiben - etwa jener, der sich Ende April in Aleppo ereignete. Mindestens fünfzig Menschen wurden durch den Angriff [9], abermals auf eine MSF-Einrichtung, getötet. Unter den Todesopfern befand sich auch der letzte Kinderarzt der Stadt.

MSF-Kampagnenlogo

Im Laufe des Krieges kam es immer wieder zu zahlreichen Angriffen auf humanitäre Einrichtungen, hauptsächlich ausgeführt durch Kampfjets, die nur Assads Armee oder den Russen zur Verfügung stehen. Ähnlich wie in den anderen beschriebenen Fällen argumentiert Damaskus auf eine ähnlich Art und Weise und meint immer wieder, dass sich "Terroristen" in den Krankenhäusern verschanzt hätten und Zivilisten als "menschliche Schutzschilde" benutzen.

Vor einigen Tagen wurde berichtet [10], dass ein anderes Krankenhaus in Aleppo von den Raketen einer Rebellen-Gruppe angegriffen wurde. Mindestens neunzehn Menschen wurden dabei getötet.

"Patienten und Ärzte sind legitime Ziele. Frauen, Kinder, Kranke, Verwundete und jene, die sich um sie kümmern, sind zum Tode verurteilt", meint etwa MSF-Präsidenten Liu in Anbetracht der jüngsten Ereignisse in Aleppo.

Bei allen beschriebenen Angriffen kann kaum von Zufällen oder Fehlern die Rede sein. Die Koordinaten der Standorte der MSF-Einrichtungen waren allen Kriegsparteien bekannt. Stattdessen wurden sie nicht geschont, sondern gezielt angegriffen. Teils wurden die Gebäude vollständig in Schutt und Asche gelegt, während Patienten und Krankenhauspersonal ein qualvoller Tod widerfuhr.

Die verantwortlichen Akteure sind sich ihrer Taten sehr wohl bewusst. Sie wissen mittlerweile jedoch, dass sie sich für nichts rechtfertigen müssen und dass sie keine Strafe erwartet. Die Vereinten Nationen oder den Den Haager Gerichtshof erscheinen dadurch umso bedeutungsloser.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3209832

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.doctorswithoutborders.org/article/address-dr-joanne-liu-united-nations-security-council-may-3-2016
[2] https://unama.unmissions.org/sites/default/files/special_report_on_kunduz_province_12_december_2015.pdf
[3] http://www.doctorswithoutborders.org/sites/usa/files/msf_kunduz_review.pdf
[4] http://theintercept.com/2016/04/28/searching-for-ground-truth-in-the-kunduz-hospital-bombing
[5] http://www.reuters.com/article/us-afghanistan-hospital-idUSKCN0PC14Z20150702
[6] http://www.doctorswithoutborders.org/article/yemen-msf-hospital-destroyed-airstrikes
[7] http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsId=52720#.Vy8zYI1kiuV
[8] http://www.doctorswithoutborders.org/article/msf-supported-hospital-bombed-northern-yemen
[9] http://edition.cnn.com/2016/04/28/middleeast/syria-aleppo-hospital-airstrike
[10] http://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-hospital-idUSKCN0XU0X9