Angst ist Angst
Egal ob Ängste von wirklichen Erlebnissen oder Vorstellungen ausgehen, reagiert das Gehirn ähnlich
Man sagt ja gerne, dass Kinder noch nicht in der Lage wären, immer zwischen fiktiven und realen Ereignissen zu unterscheiden. Das wird gelegentlich auch als Argument verwendet, um Darstellungen wie Gewaltszenen in Medien wie Filmen oder Computerspielen zu beanstanden. Allerdings scheint zumindest auch das Gehirn von Erwachsenen nicht nur auf Ängste vor gesehenen oder vorgestellten Ereignissen, sondern auch vor nur verbal berichteten Warnungen ähnlich zu reagieren wie auf wirklich erlebte Ängste.
Ausgangspunkt der Neurowissenschaftler von der New York University für ihr Experiment war, wie Elizabeth Phelps et. al. in Nature Neuroscience vom 1. April 2001 schreiben, die Vermutung, dass es die adaptive Funktion von Gefühlen sei, "künftige Interaktionen mit Reizen zu steuern, die mit emotionalen Reaktionen verbunden sind". Zur Untersuchung dieses "emotionalen Lernens" habe sich die Angstkonditionierung als geeignet gezeigt. Bei Menschen und Tieren ist Angst eng mit dem zum sogenannten limbischen System gehörenden Gehirnareal Amygdala verbunden. Ist man einmal von einem Hund gebissen worden, meldet sich, wenn man einem Hund begegnet, die Amygdala - und wir empfinden Angstgefühle.
Zumindest bei Menschen spielt sich das Lernen oft gar nicht direkt durch das wirkliche Erleben eines gefährlichen oder schmerzvollen Ereignisses ab, sondern die Angstkonditionierung geschieht beispielsweise auch dadurch, dass man in Medien solche Ereignisse vorgeführt bekommt oder andere Menschen nur davon reden, dass beispielsweise ein Hund gefährlich sein könnte. Solche für wahr gehaltenen oder auch nur beeindruckenden Erzählungen oder Hinweise können ausreichen, um unser Verhalten dementsprechend zu beeinflussen: "Wir vermeiden gefährliche Stadtviertel oder Strände, an denen es Haie gibt, nicht weil wir Opfer eines Verbrechens geworden sind oder von Haien angegriffen wurden, sondern weil wir von ihren abschreckenden Eigenschaften gehört haben."
Schon bei anderen Untersuchungen hatte sich gezeigt, dass für eine nur kognitive Repräsentation der abschreckenden Eigenschaften eines Reizes nicht die Amygdala aktiv sein muss. Dazu reicht die Aktivierung der Gedächtnisfunktionen des Hippocampus. Allerdings wird die Amygdala dann aktiv, wenn eine konditionierte Angstreaktion auf einen Reiz ausgedrückt wird, also schlicht, wenn man dabei auch Angst empfindet.
Die Wissenschaftler wollten jetzt eruieren, ob die Amygdala auch dann aktiv wird, wenn Menschen nur vor möglichen Gefahren gewarnt wurden, noch enger: wenn ihnen nur davon verbal erzählt wurde. Allerdings muss man einschränkend sagen, dass die Situation sehr nahe an ein Erlebnis kommt, denn den Versuchspersonen wurde nicht etwa gesagt, dass sie hier oder dort aus diesen oder jenen Gründen nicht hingehen sollten, sondern ihnen wurden drei Symbole auf einem Computerbildschirm gezeigt und angedroht, dass sie bei einem dieser Reize einen leichten Stromschlag über die an ihrem Handgelenk angebrachten Elektrode erhalten können. Das nennt sich "antizipierte Angst", also vorweggenommene Angst, und wird auch als "gelernte Angst" bezeichnet. Hier weiß man schon, dass die Angstreaktionen ganz ähnlich wie bei der konditionierten Angst ausfallen und entsprechend etwa über Hautwiderstand gemessen werden können, zumindest wenn Ankündigung und Ereigniseintritt so kur aufeinander folgen.
Den Versuchspersonen, deren Hirnaktivität mit fMRI (funktionale Kernspin-Tomographie) aufgezeichnet und deren Hautwiderstand gemessen wurde, zeigte man jeweils nacheinander drei Symbole: ein gelbes Viereck, ein blaues Viereck und das Wort "rest". Ihnen wurde gesagt, dass sie bei einer Farbe einen Elektroschock erhalten können, während sie nichts zu befürchten hätten, wenn das andere Symbole käme. Jeder Versuch dauerte 18 Sekunden, jedes Symbol wurde 5 Sekunden gezeigt. Die Versuche wurden mehrmals nacheinander durchgeführt, die Symbole abgewechselt. Alle Versuchspersonen berichteten danach, sie hätten Angst gehabt, tatsächlich einen Schlag zu erhalten (was einerseits verwundert, warum Menschen bei solchen Experimenten mitmachen, die ja auch nicht gerade gemütlich in den Kernspin-Tomographen liegen müssen, sondern dass sie auch damit rechnen, tatsächlich im Dienst der Wissenschaft einen Stromschlag zu erhalten, was an die berühmt oder berüchtigt gewordenen Milgram-Experimente erinnert). Es handelte sich also um keine entfernte Möglichkeit, sondern eigentlich um eine aktuelle Bedrohung, die nicht visuell, sondern verbal übermittelt wurde.
Bei den Versuchspersonen ließen sich Erregungspotentiale in der Amygdala feststellen, wenn das Symbol auftauchte, von dem man ihnen erzählt hatte, dass mit ihm möglicherweise ein leichter Stromschlag geschehen würde. Auch der Hautwiderstand reagierte so, als würden sie abschreckende Reize erfahren, sehen oder sich visuell vorstellen. Im Unterschied zu der Reaktion bei Angstkonditionierung, die sich in der linken Amygdala abspielt, führt die nur verbal induzierte Angst in der rechten Hälfte zur Erregung. Möglicherweise liegt der Grund darin, spekulieren die Wissenschaftler, dass die Versuchspersonen wissen, dass es sich um abschreckende Reize handelt, es könnte aber auch sein, das die rechte Amygdala eher auf visuelle Reize reagiert. Visuelle Reize rufen nach den Wissenschaftlern eine unmittelbare, negative Reaktion hervor, die von den Menschen nicht groß verarbeitet werden müssen, was man an Patienten mit Hirnschäden habe beobachten können. Wenn der angstauslösende Charakter eines Reizes aber nur verbal gelernt wurde, müsse erst eine mentale Repräsentation aufgebaut werden, was vielleicht eher mit der linken Hälfte der Amygdala verbunden ist. Neben der Amygdala ließen sich noch weitere aktive Areale feststellen wie die "Insel" des Cortex, die mit der Antizipation von Angst zu hat, und Teile des prämotorischen Cortex und des Striatum.
Ob es sich bei der festgestellten Erregung der linken Hälfte der Amygdala nur um eine "kognitive Repräsentation von Angst" gehandelt hat, wenn doch die Versuchspersonen jeden Augenblick damit rechnen mussten, einen Schlag zu erhalten, sei dahin gestellt. Die Konsequenz, dass Ängste, die nur imaginiert und antizipiert sind, dieselben Hirnareale aktivieren wie Ängste, die durch Erfahrung gelernt wurden, ist bei aller Vorsicht sicherlich interessant, auch was die Diskussion über Erfahrungen in Medienwelten betrifft. Konnte man allerdings bislang darauf verweisen, dass Darstellungen vielleicht desto gefährlicher seien, je realistischer sie sind, so ließe sich dieses Ergebnis der Neurowissenschaftler so interpretieren, dass alle Einflüsse Auswirkungen haben können, auch wenn sie nur gesagt werden. Und wenn tatsächlich unser Gehirn erst einmal auf den tieferen Ebenen nicht zwischen Gefühlen unterscheidet, die von vorgestellten und wirklichen Erlebnissen verursacht wurden, dann spricht etwas für diejenigen Positionen, die sagen, dass man zumindest bei noch nicht wahrnehmungsvernarbten Kindern überlegen sollte, welchen Erlebnissen man sie aussetzt, auch wenn sie auf höheren kognitiven Ebene durchaus zwischen imaginär, fiktiv, virtuell oder wirklich unterscheiden können.