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Angst und Politik

Francisco de Goya (1746-1828): Torheit der Furcht

Die Bereitschaft, sich Demagogen anzuvertrauen, ist ein wiederkehrendes Phänomen

Berühmt wurde der Satz, den Franklin D. Roosevelt zu seiner Amtseinführung 1933 sprach: "The only thing we have to fear is fear itself." [1] Die Zeiten waren alles andere als sicher. Reicht das als Diagnose damaliger Befindlichkeiten: die Angst vor der Angst?

Knapp 100 Jahre zuvor, auch damals standen umstürzlerische Bewegungen ins (europäische) Haus, beschrieb der Philosoph Søren Kierkegaard Angst als Verzweiflung vor den Möglichkeiten, auf die hin wir handeln und die wir doch nicht kennen. Fehlt nicht die Angst als Furcht vor etwas Konkretem, vor dem Zerbrechen sozialer und familiärer Beziehungen, vor Karriereknicks und Entlassung, vor der Auflösung der Milieus, in denen wir leben?

Beide Arten von Angst fasste der Politikwissenschaftler Franz L. Neumann [2] 1954 in seinem Aufsatz "Angst und Politik"1 [3] zusammen. Neumann war knapp den Nazis entkommen. Im amerikanischen Exil wurde er durch "Behemoth", sein Schlüsselwerk zum nationalsozialistischen Herrschaftssystem, bekannt. Er stellte auch die Weichen zum Aufbau einer "demokratiewissenschaftlichen" Politologie in der amerikanischen Zone Westdeutschlands und Berlins.

Angst und Politik (0 Bilder) [4]

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Sollte die Etablierung der Politologie im Zuge der Re-Education [6] von der Hypothese ausgegangen sein, es sei Aufgabe dieser Wissenschaft, die Bundesbürger durch Aufklärung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen, so beweist der kleine Aufsatz von Neumann, dass es immer wieder zu zivilisationsfeindlichen Gegenbewegungen kommen kann. Das ist heute der Fall.

Lapidar beschreibt Neumann zunächst die Realangst. Sie kommt auf, wenn Individuen, Gruppen oder die Masse in den Strudel der Deklassierung gerissen werden. Nicht nur geht es um diesen Prozess, sondern auch um ein Allgemeines unserer Gesellschaft, die Entfremdung mit ihren Ausformungen Arbeitsteilung, Konkurrenz und Hierarchien.

Karl Marx würde an dieser Stelle noch weiter bohren, hat doch die "entfremdete Arbeit" durchaus dynamischen, potentiell umwälzenden Charakter, aber Neumann begnügt sich mit der Feststellung sozialer Disparitäten. Die Spaltung der Gesellschaft ist für die reale Angst verantwortlich. Diese Aussage trifft unabhängig von den politischen Regimes zu.

In der gegenwärtigen Diskussion werden die Disparitäten meist auf die Schieflage der Mittelklasse fokussiert, die vom Abstieg nicht nur bedroht, sondern auch befallen sei. Dem Soziologen Heinz Bude ist das jedoch zu stereotyp. In seinem Werk "Die Gesellschaft der Angst" konstatiert er einen Austausch innerhalb dieser Schicht (wenn man sie noch so bezeichnen will). Ist auch der Mittelstand vergleichsweise gut abgesichert, so leiden die akademisch Ausgebildeten zunehmend an Brüchen in "vulnerablen Karrieren". Bude spricht von der Paradoxie aus Privilegiertheit und Verwundbarkeit.

Illustration zu R.L. Stevensons Doppelgänger-Novelle von 1886. Bild: National Prtg & Engr. Co/Chic / CC-BY-SA-3.0 [7]

Architekten, Anwälte, Apotheker und Journalisten rutschen häufig vom Start weg ab, weil sie sich unter Qualifikation verkaufen und viele Anläufe nehmen müssen. Beruflich gesehen führen sie ein "Leben im Wartezimmer". Für den Architektennachwuchs gilt zum Beispiel das Bonmot: Man muss schon fünf Schulen gebaut haben - die Qualifikation dafür erworben haben -, um eine Schule bauen zu dürfen.

Von Akademikern gegründete Ein-Mann-Firmen schrammen signifikant an Pleiten entlang. Dennoch lösen sie unter dem Etikett der "Kreativklasse" Verdrängungswettbewerbe aus. In Banken sagen die jungen Informatiker und Mathematiker den angestammten Juristen und Betriebswirten, wo es lang geht. Der Wissensumschlag beschleunigt sich exponentiell. Die Mittelklasse hat gleichsam Angst vor sich selbst.

Der Vergleich mit den Mitmenschen mündet in die Angst, den Kürzeren zu ziehen. Die Angst vor den Ansprüchen anderer lähmt und löst die Gemeinschaftsbindung von Individuen in ihren Milieus auf. Sie werden zur "einsamen Masse". Dabei wurde ihnen in der offenen Gesellschaft ein Versprechen gemacht: Jeder mit Leistungsvermögen findet den ihm gebührenden Platz. Alles können zu dürfen, ist eine Aufforderung zur Selbstwerdung durch Entgrenzung, zur ständigen Überbietung eigener Leistungen, nur um festzustellen, dass man von anderen überholt wird. Über sich hinauszugehen, wird zum Zwang. Dahinter steht eine Exklusionsdrohung. Das Leben, eine Castingshow.

Das Unheimliche und die soziale Neurose

Wenn Bude von der "ängstlichen Möglichkeit zu können" spricht, ist er bereits beim Existentialismus Kierkegaards [8] gelandet. Die Selbstüberschreitung des Ichs macht es zum Anhängsel eines Ichideals, ihm fehlt das Bewusstsein der Kräfte, die die Leistungssteigerung durchkreuzen. Konnte die Realangst vordergründig noch in die Marxsche These eingepasst werden, wonach das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, so kommt an dieser Stelle die Psychologie, die Analyse innerer Kräfte ins Spiel, um die lähmende Angst zu erklären. Diese Art nennt Neumann "neurotische Angst" und greift auf die Psychoanalyse zurück.

Aus Cola di Rienzo (ca. 1313-1354) wurde ein machthungriger Demagoge. Gemälde von W.H. Hunt

Neurotische Symptome wie der Zwang zur Wiederholung bestimmter Handlungen oder die Vermeidung der Berührung bestimmter Gegenstände und der Annäherung an bestimmte Menschen (etwa "Böser Blick") lassen nach Sigmund Freud auf zielgehemmte Triebe und Gefühlsregungen im Individuum schließen. Woher diese Hemmungen kommen, gerät im Lauf des Heranwachsens immer mehr in Vergessenheit.

Das Vergessen wird durch unbewusste Verdrängung reguliert, aber an der Verdrängung vorbei machen sich Abkömmlinge jener ursprünglichen Triebkräfte geltend - und machen uns Angst. Was in den abgespaltenen Teilen des Bewusstseins schlummert, kehrt in wechselnder Gestalt immer wieder. Die Gestalt kann finster, kann uns unheimlich sein. Sie ist ein nicht erkannter Doppelgänger wie der Sandmann E.T.A. Hoffmanns oder Mr. Hyde bei R.L. Stevenson. Sie ist ein Peiniger.

Die Personalisierung des Unheimlichen, das uns merkwürdig vertraut vorkommt, macht uns von Chimären abhängig, die uns bedrohen. Diese Angst ist für politische Demagogen ein willkommenes Medium zur Herrschaft. Denn die Angst ist nun nicht mehr in der Realität begründet, sondern die Individuen machen sie mit sich selbst, innerhalb ihres psychischen Apparates ab.

Die Demagogen haben gewonnen, wenn die reale Angst in neurotische Angst umgesetzt ist. Sie müssen den richtigen Zeitpunkt abpassen, an dem die Abkömmlinge (Derivate) der gesperrten Triebe sich nicht mehr im Zaum halten lassen, sondern letzte Schwellen überspringen und sich zu einem gemeinsamen Bild aller zusammensetzen. Das erstrebte Glück wird einer Person zugeschrieben, dem heilsbringenden Führer, das Unglück aber auch: dem finsteren Feind, dem Fremden.

Edvard Munch: Der Schrei (1893)

Der Plural des "Wir" und "Uns" ist gerechtfertigt, weil diese Phänomene aus individuellen Ängsten und Vorstellungen eine Masse formen. Aufgabe des Demagogen ist es, der Masse das Feindbild zu enthüllen. Der gemeinsame Feind wird auf der Bühne des Affekttheaters vorgeführt. Es dient der Mobilisierung der Emotionen und der Triebabfuhr zugleich und bedarf der bildlichen Zurichtung von Opfern. Der Demagoge erteilt im gegebenen Moment die Lizenz zur Verfolgung und lenkt die massenhafte Aggression in die für seine Interessen günstigsten Bahnen. Auf makabre Weise ist die Realität wieder erreicht. Es darf Gewalt bis zum Massenmord ausgeübt werden.

Gustave Le Bon [9] schrieb schon 1895: Die im Geiste der Masse hergestellten Bilder werden von dieser für real gehalten. Das kann auf die aktuelle Debatte angewendet werden: Der Glaube an Verschwörungstheorien ist die eigentliche Realität von Verschwörungstheorien. Die Gründe der Angst liegen in den Gläubigen.

In seiner Freud-Rezeption gelingt es Neumann, die individualpsychologischen und die massenpsychologischen Elemente zu einem sozialen Tableau zusammenzuführen. Befremdlich wirkt jedoch schon bei Freud der Ausgangspunkt, die neurotische Angst. Sind wir alle krank? Freuds Antwort wäre: ja. Er drückt es ex negativo aus: "Nur der Barbar hat es leicht, gesund zu sein." Schwer hat es der Kulturmensch.

Die von Demagogen und Diktatoren ausgeschlachtete Neurose ist eine gesellschaftliche Krankheit, die sich ebenso gut und gern in Demokratien entwickelt, wo die Minimierung staatlicher Kontrolle ein Mehr an individueller Selbstregulierung auf Grundlage flexibilisierter Normen verlangt.

Unter solch freiheitlichen Umständen übernimmt die Kulturindustrie die Kanalisierung der (sozialen) Neurose in Bild und Ton. Wie rief Helene Fischer kürzlich ins Publikum? "Wenn ich Euch irgendwie heilen kann..." Sie traf ins Schwarze. Die Kulthandlung ist zugleich ein Reinigungsakt. Die Reinigung bringt den Schmutz erst hervor.2 [10] Der Schmutz wird gleichsam geheiligt. Die "singende Sagrotanflasche" [11] ist ein demokratisches Totem. Einen Hinweis auf die Urquelle des Schmutzes gab der Maler Max Ernst: "Das Scheibenputzen zieht Sauberkeit in Liebesdingen nicht unbedingt nach sich."

Unlust, Zerstreutheit und Glückspillen

Rassismus und Ethnozentrismus haben ihren Zündpunkt in der Mitte der Gesellschaft. Es wäre eine fadenscheinige Entlastung des Mittelstandes, diese Symptome allein auf dem Pegida-Mob abzuladen. Die Symptombildung ist auch weitgehend unabhängig von der Frage des Arbeitsverhältnisses. Und der Intellektuelle hat die gleichen Vorurteile wie das bildungsferne Volk. Vielleicht kennt er seine Vorurteile besser, aber dadurch sind sie allenfalls verfeinert, nicht abgeschafft.

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich [12] fragte 1965, ob die Gestaltung unserer Städte Wirkmomente von Neurosen enthalte oder ob "Stadt" ein Heilmittel gegen die Neurose der Dörfer und Kleinstädte sei. Der Zusammenhang von Gesellschaft und Krankheit lässt sich im Besonderen aufklären, wenn er auf den räumlichen Kontext bezogen wird. Nach Mitscherlich ist es das Dogma von der Unverletzlichkeit des Privateigentums, das eine neurotische Angstabwehr auslösen kann.

(Vor-)Stadt(un)behaglichkeit. Aus dem Band "Over" von Alex MacLean. Bild: Alex MacLean / mit freundlicher Genehmigung von Schirmer/Mosel

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Die Unverletzlichkeit ist psychologisch als Tabu zu deuten. Wenn diese Tabus ins Innere der Individuen gewandert sind, haben sie sich die Verbote, die äußerlich durch Grenzen markiert sind, selbst auferlegt. Die Angst dient hier zur vorauseilenden Anpassung. Die den unsichtbaren Schranken entgegen wirkenden Triebkräfte sind bereits beschrieben, und der innere Kampf löst Unlust, Zerstreutheit und Zerstörungswut aus. Es ist ein Wechselspiel aus Frustration und Aggression. Diese Prozesse dürften sich sowohl in der Stadt als auch auf dem Land abspielen. Sie sind allgemein-gesellschaftlich. Mitscherlichs Thema steht heute wieder unter dem Namen Neuro-Urbanismus auf der Agenda.

Die von Mitscherlich konstatierte Zerstreutheit lässt auf noch tiefer, unterhalb der Neurose sitzende Krankheitssymptome schließen wie Depression, Depression durch Erschöpfung. Der Zwang zur Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung durch ein neues Identitätsdesign löst im Gegenzug einen Ich-Schwund aus, wie Neumann sagen würde. Die Frage ist heute nicht mehr: Habe ich das Recht, es zu tun, sondern: Bin ich in der Lage, es zu tun? Ständig über sich selbst hinauswachsen zu müssen, führt irgendwann zur Frage: Wozu das alles? Führt dazu, überhaupt nicht mehr handeln zu können.3 [14]

Gegen die nervliche Erschöpfung, gegen die große Müdigkeit werden großflächig Psychopharmaka zur Konditionierung der Leistungsfähigkeit eingesetzt. "Glückspillen" heißen sie bei Aldous Huxley [15]. Sie führen den Idealzustand des Ichs herbei, der zum Normalzustand werden soll. Entsprechend wird die Medikamentengabe zum Dauerzustand. Alain Ehrenberg: "Wenn eine Person zugleich gesund ist, dank des Medikaments, und krank, nämlich ohne das Medikament, wer ist dann die wahre Person?" Die Medikamente dienen der Krankheilung, und das Ergebnis ist der "gesunde Kranke".

Der Kreis schließt sich, denn schon Freud hatte den Begriff der Krankheilung in Zusammenhang mit Neurosen gebraucht. Neurosen können den Ausbruch jener tiefer sitzenden, lebensbedrohlichen psychischen Krankheiten verhindern. Sie sind so etwas wie ein selbst gezimmerter Abwehrzauber der Patienten. Sie sollten nicht unbedingt therapiert werden. Das ist noch einmal ein Beleg für ihre Gesellschaftlichkeit.

Auch in der Demokratie wird das Unheimliche, Unbestimmte visualisiert und personifiziert. Freud: "Die Dämonen sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregungen." Es sind Vampire, Werwölfe, mordend herumziehende Körperteile [16], schwarze Männer ("und wenn er kommt, dann laufen wir") und schwarze, weil verhüllte und blicklos beobachtende Frauen. Welche Art von Realität kommt diesen Wesen zu?

Woher kommen die Monstren? Aus den Träumen der Vernunft? Aus den Kellern der Narrentürme? Oder aus den Pflegeheimen für die Unheilbaren und Schwerbehinderten? Sind es Ungeheuer, die sich sehen lassen, obwohl sie nicht existieren, oder solche, die wir nur ausnahmsweise sehen, obwohl sie existieren?

Thomas Macho

Es kommt nichts Gutes dabei heraus, wenn die Menschen sich von der Politik ihre Ängste abnehmen lassen, bevor sie sie kennengelernt haben.


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[1] https://www.youtube.com/watch?v=nHFTtz3uucY
[2] http://www.jura.uni-bielefeld.de/lehrstuehle/fisahn/veroeffentlichungen/1997/Franz_Leopold_Neumann.pdf
[3] https://www.heise.de/tp/features/Angst-und-Politik-3737568.html?view=fussnoten#f_1
[4] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3737564.html?back=3737568;back=3737568
[5] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3737564.html?back=3737568;back=3737568
[6] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43278734.html
[7] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
[8] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article115846928/Der-Mensch-braucht-Angst-sonst-lernt-er-nichts.html
[9] http://politik.brunner-architekt.ch/wp-content/uploads/le_bon_gustave_psychologie_der_massen_1985.pdf
[10] https://www.heise.de/tp/features/Angst-und-Politik-3737568.html?view=fussnoten#f_2
[11] http://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/02/jan-boehmermann-zdf-neo-magazin-royale
[12] https://www.hdg.de/lemo/biografie/alexander-mitscherlich.html#jpto-1930
[13] http://politik.brunner-architekt.ch/wp-content/uploads/le_bon_gustave_psychologie_der_massen_1985.pdf
[14] https://www.heise.de/tp/features/Angst-und-Politik-3737568.html?view=fussnoten#f_3
[15] https://www.britannica.com/biography/Aldous-Huxley
[16] https://s-media-cache-ak0.pinimg.com/originals/f6/7c/ba/f67cbab7a42793a9cbf43edc096b6976.jpg