Angst vor Einsamkeit und viel Alkohol: Ungewohnt Nüchternes zu Finnlands Mittsommer
Zum Wohl der Tourismusbranche wird das finnische Mittsommer-Wochenende international romantisiert. Im Land selbst entsteht ein pessimistischerer Eindruck.
Nach Weihnachten gilt das bevorstehende Mittsommer-Wochenende als wichtigster feierlicher Termin in Finnland. Und bei beiden Gelegenheiten sind die internationalen Medien zur Stelle, um kostenlose Werbetexte und Werbespots für das Land zu fertigen: Der Weihnachtsmann im verschneiten Lappland, der mit dem Rentierschlitten losfährt, um den Kindern die Geschenke zu bringen. Sowie – wenn auch mit weniger Verbreitung – Seen im Abendrosa, meterhohe Johannisfeuer und Trachtentänze: die Mittsommerzeit.
Schließlich ist Finnland das glücklichste Land der Welt, zum fünften Mal in Folge, das stellte amtlich der World Happiness Report fest, der mit der UNO verbandelt ist.
Doch geht man die finnischen Medien vor dem begehrten Wochenende durch, so entsteht ein ganz anderer, pessimistischerer Eindruck.
Mit voraussichtlich mehr als 30 Grad am kommenden Sonntag bereitet sich Finnland auf ein ungewöhnlich heißes Wochenende vor, an dem die Finnen wie andere Skandinavier auch ausgiebig die Sonnenwende feiern werden.
Waldbrandgefahr hebelt wichtige Tradition aus
Die Daunenwesten und Wollsocken verbleiben somit im Schrank, auf der anderen Seite müssen die Finnen im Südwesten des Landes auf einen wichtigen Bestandteil des wichtigsten Festes verzichten – auf das Johannisfeuer. Zu groß sei die Waldbrandgefahr.
Eine heiße Mittsommerzeit habe es zuletzt 1999 gegeben, als Rekordhalter gilt das Jahr 1935 mit 33 Grad. Ob dies nun der Auftakt von weiteren heißen Sommern aufgrund des Klimawandels ist, gilt als nicht sicher.
Belegt ist jedoch, dass sich die Klimaveränderung in den nördlichen Ländern deutlicher am Thermometer fest machen lässt – während es weltweit innerhalb der letzten 20 Jahren zu einem durchschnittlichen Anstieg von einem Grad kam, sind dies in Finnland bereits 2,3 Grad. In dem skandinavischen Land drückte sich dies vor allem durch zu milde Winter aus.
Das staatliche Fernsehen Yle will nun dazu beitragen, dass die Johannisfeuer, welche die Sonnenwende symbolisieren, klimafreundlich vonstattengehen - denn die Luftverschmutzung durch Brennholz sei ernster als bisher angenommen.
Dort, wo das Feuermachen erlaubt ist, soll es doch bitte kleiner gehalten werden sollen – behandeltes und lackiertes Holz nicht genutzt werden und der Holzstoß müsse von oben angezündet werden, somit würden weniger giftige Gase freigesetzt.
Auch das Grillen wird nicht einfach gefeiert, sondern es wird auf die Krebsgefahr hingewiesen, die bei zu verbranntem Fleische drohe.
Nach finnischem Brauch wird das "Juhannu"-Holzstoß am Samstag um 22 Uhr angezündet und es ist eine ländliche Tradition – die größeren Städte leeren sich bis zur Hälfte, da viele zu ihrer Sommerhütte an einem See und die Betuchteren zu einem Domizil an der See fahren. "Hoffen wir, dass die Finnen bei der Kombination von Hitze und Mittsommer sich einigermaßen benehmen können", so Anniina Valtonen, Wetterexpertin im Dienst des Finnischen Meteorologischen Instituts.
Schwimmen im Suff als häufige Todesursache
Die Polizei kontrollierte bereits am Donnerstag auf der Straße den Alkoholpegel der Mittsommerfreunde, aber auch auf den größeren Seen ist sie unterwegs, sowie Rettungsteams. Denn in Finnland ertrinken proportional doppelt so viele Menschen wie etwa im Nachbarland Schweden.
Schwimmen im Suff ist eine verbreitete Todesursache – 44 Prozent aller Ertrunkenen hatte einen Alkoholgehalt von mehr als 0,5 Promille im Blut, die Mehrheit von ihnen wies sogar mehr als 1,2 Promille auf. Zur hohen Zahl der Ertrunkenen insgesamt trägt das Baden nach viel eingelegtem Hering, Frühkartoffeln, Erdbeertorte und nicht gezählten Schnäpsen der Marke "Koskenkorva" bei, entsprechend warnen die Medien, man möge sich doch in den weißen Nächten nur kurz nass machen.
Die Versorgung mit den hochpreisigen Schnapsflaschen musste immerhin im Voraus geplant werden, am Freitag haben die Monopolgeschäfte mit dem Namen "Alko" nur noch drei Stunden am Vormittag auf, danach sind selbst Tankstellen geschlossen.
Wenn auch die entsprechenden Fremdenverkehrstexte von fröhlichen, ausgelassenen Feiern im Rahmen von Familie und Freunde preisen, so kann das Land im Norden Europas nicht mit Brasilien gleichgesetzt werden.
In den finnischen Medien werden psychische Probleme, Einsamkeit, Ängste und Süchte sehr offen besprochen, vielleicht auch deshalb, weil man diese Themen auf der Gesprächsebene eher ausschließt.
So werden in der auflagenstärksten Zeitung Helsingin Sanomat die Ängste der Finnen vor den Mittsommerfeiern behandelt, die Sorge, nicht eingeladen zu werden, zurückzubleiben, wenn Arbeitskolleginnen und Kollegen von den kommenden Feiern sprechen, gerade da die beiden Sommer zuvor unter Corona-Auflagen eingeschränkt waren, gebe es den Druck, diesmal nichts verpassen zu dürfen, bekannt auch als "Fomo".
Denn Finnland bleibt man gerne unter sich, neue Freundschaften nach dem Kindesalter werden eher zögerlich geschlossen.
Helsingin Sanomat hat darum einen Appell veröffentlicht – da gerade durch die Corona-Zeit die Anzahl der einsamen Finnen gestiegen sei, sollte man doch auch Personen zur Traditionsfeier einladen, die nicht zum engen Kreis gehören. Die Redakteurin gesteht, selbst zu den Ausgeschlossenen zu gehören, sie habe zwar einige gute Freunde, gehöre aber zu keiner festen Gruppe, die jedes Jahr nach festen Regeln und Ritualen das Mittsommerfest zusammen feiere.
Ob die Sache mit dem "glücklichsten Land" revidiert werden sollte? Vielleicht gibt es dafür die Auszeichnung als "ehrlichstes Land". Das käme bei einem Überblick der Medien schon eher hin.
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