Angst vor der Grippe-Epidemie
Wissenschaftler haben den gefährlichen Grippevirus der Epidemie von 1918 rekonstruiert, der Vogelgrippevirus H5N1, der bereits in Europa angekommen ist, gilt als Kandidat für eine neue Epidemie
Wie viele Menschen an der Epidemie des Grippe-Virus von 1918 wirklich gestorben sind, weiß man nicht. Die Schätzungen reichen von 20 über 50 bis 100 Millionen Toten und Hunderten von Millionen Erkrankten weltweit. Allerdings waren damals durch den Weltkrieg auch viele Menschen geschwächt und unterernährt, es gab weniger Medikamente, etwa auch keine Antibiotika gegen sekundäre Folgen wie einer Lungenentzündung, die medizinische Vorsorge und Versorgung war allgemein schlechter schlechter als heutzutage. Gleichwohl geht gegenwärtig die Panik auf dem Hintergrund der vielfach zitierten Grippe-Epidemie von 1918 um, da der Vogelgrippe-Virus H5N1 sich verbreitet und schon vor einiger Zeit auch auf den Menschen übergegangen ist. Bislang ist er aber noch nicht wie der Grippe-Virus von 1918 zu einem menschlichen Influenzavirus geworden, der sich von Mensch zu Mensch fortpflanzen kann. Die noch unbekannte, nur in der Imagination stattfindende und sich schleichend nähernde Gefahr, die wie ein terroristischer Schläfer jederzeit losbrechen kann, reizt aber offenbar die Fantasie der Medien und Menschen, auch wenn es noch nicht so lange her ist, als mit der SARS-Epidemie eine ähnliche Panik aufkam, ohne dass sie erfüllt wurde (Der Panikvirus; Panik wegen Sars, nicht nur in Peking).
Politiker und Experten schwanken natürlich, ob sie die Menschen beruhigen oder warnen sollen. Beides kann verkehrt sein. Allerdings steigt die Angst bereits auf irrationale Weise, da nicht nur die Vogelgrippe näher rückt bzw. bereits in Europa angekommen ist, sondern es auch allgemein heißt, dass eine Epidemie unmittelbar bevorsteht, also jetzt oder in den nächsten Jahren wahrscheinlich ist. Das hat bereits zu Hamsterkäufen des Roche-Produkts Tamiflu geführt und wird dem Unternehmen noch viel Geld einspielen. Das Medikament soll eine Infektion mildern und die Todesrate senken. Sicher ist allerdings keineswegs, ob dies auch bei einem für den Menschen gefährliche Variante des H5N1-Virus zutrifft.
Aber auch wenn es zu einer Epidemie kommen sollte, ist noch keineswegs ausgemacht, wie verheerend sie sein wird. Jährlich sterben in Deutschland Tausende von Menschen an der üblichen Grippe, was ohne große Aufregung ähnlich akzeptiert wird, wie die vielen Toten und Verletzten im Straßenverkehr. Das Leben verlangt seinen Tribut.
Doch die Stimmung ist nun aufgeheizt, weil es um einen neuen Erreger geht, der gewissermaßen einen biologischen Terroranschlag auf die Menschheit vorbereitet. Das ist eine greifbare Bedrohung, nicht eine im Alltag versteckt dauerhafte Bedrohung. Daher entzünden sich die Aufmerksamkeit und die Angst vor dem angekündigten großen Ereignis, vor der Katastrophe, die vor der Tür wartet und die angeblich mit einer größeren Weltbevölkerung, den Brutbecken der Megacities und den globalen Handels- und Reiseströmen in hoher Geschwindigkeit noch weitaus schlimmer werden könnte wie die Spanische Grippe 1918, die auch, wie das von Jeffery Taubenberger geleitete Team vom Institute of Pathology der US-Armee herausgefunden hat, von dem Vogelvirus H1N1 abstammte. Die Zahlenspiele möglicher Tote sind willkürlich, aber sie sind beeindruckend, wenn beispielsweise von 150 Millionen gesprochen wird. Damit hätte man eine Superkatastrophe, die den Tsunami in Südostasien oder das Erdbeben in Kaschmir ganz nach dem nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Medien und die Aufmerksamkeit notwendigen Prinzip des permanenten Wachstums überflügeln würde.
Die US-Wissenschaftler hatten das Genom des Grippevirus von 1918, das sie aus Leichen gewonnen hatten, die im Dauerfrostboden von Alaska gefunden wurden, vollständig sequenziert. Nur in zehn Veränderungen von Aminosäuren in den acht viralen Genen unterschied sich der Vogelvirus vom gefährlichen menschlichen Erreger, wie die Wissenschaftler in dem Artikel schreiben, der in der Zeitschrift Nature mitsamt dem gesamten sequenzierten Genom veröffentlicht wurde. Das könnte also schnell gehen, wenn die Vogelviren, die sich bereits an den Menschen als Wirt angepasst haben, noch die entscheidenden Mutationen durchmachen. Vermutlich hat der Vogelgrippevirus von 1918 nämlich mit den menschlichen Influenzaviren nicht Gene getauscht, sondern ist im gesamten zu einer für den Menschen gefährlichen Variante mutiert.
Ein anderes Team unter der Leitung von Terrence Tumpey von Centers for Disease Control and Prevention (CDC) benutzte das sequenzierte Genom, um den Virus zu rekonstruiere (Science, 310, 77–80; 2005). Sie testeten diesen wieder erschaffenen Erreger an Mäusen, Embryonen von Hühner und menschlichen Zellen, wobei es sich als tödliche Waffe erwies. Weil Taubenberger seit Jahren den Plan verfolgte, den Grippevirus von 1918 zu sequenzieren und dies im Rahmen eines militärischen Forschungsinstituts geschah, wurde das Projekt nach Bekanntwerden von Skepsis begleitet, in erster Linie freilich deswegen, weil Kritiker es gefährlich fanden, einen ausgestorbenen gefährlichen Erreger wieder zu aktivieren ([Link auf 15818]). Die Forschung ist wie meist in solchen Fällen "dual-use". Das Wissen darum, was den Virus so gefährlich macht, kann helfen, eine drohende Epidemie abzuwehren oder schneller ein Mittel zur Bekämpfung der Infektion zu finden, aber es könnte auch dazu dienen, effiziente biologische Waffen zu schmieden. Angeblich, so Taubenberger, sei die Gefahr, die von dem rekonstruierten Virus ausgehe, gering, weil das Immunsystem der Menschen nach der Epidemie bereits auf es eingestellt sei. Darüber gibt es geteilte Meinungen. Zwar ist der H1N1-Virus Bestandteil der üblichen Grippeimpfungen, aber die hier verbreiteten Variationen unterscheiden sich vermutlich von dem 1918er Virus.
Bedenken kamen nicht nur wegen der Wiedererschaffung des Grippevirus auf, sondern auch schon wegen der Veröffentlichung des gesamten sequenzierten Genoms in der GenBank und der Details über die gefährlichen Eigenschaften. Taubenberger war gezwungen, wollte er einen Artikel in den Zeitschriften Science und Nature unterbringen, das Genom mit veröffentlichen zu müssen, weil das eine Auflage von diesen ist. Weil das Virus angeblich nicht mehr wirklich gefährlich sei und eine Veröffentlichung für den Schutz der Menschen eher nützlich sei, haben nun alle Zugriff auf die genetischen Eigenschaften des Virus. Allerdings könnten nun sich Menschen, die einen Anschlag mit dem Virus planen, jederzeit die notwendigen Einzelheiten aus der Datenbank holen, sich die entsprechenden genetischen Sequenzen bestellen und dann den Virus zusammenbauen. Selbst in den USA ist die Lieferung von einzelnen Sequenzen nicht verboten, manche Firmen würden allerdings, wenn pathogene Sequenzen bestellt werden, die Kunden überprüfen.
Das Genom ist praktisch der Bauplan für eine Massenvernichtungswaffe. Kein verantwortlicher Wissenschaftler würde dazu raten, die genauen Baupläne für eine Atombombe zu veröffentlichen, und die Sequenz des Grippevirus aufzudecken, ist sogar aus zwei Gründen noch gefährlicher.
Erstens ist es einfacher diesen sehr zerstörerischen Virus aus den genetischen Daten zu erzeugen, als eine Atombombe zu bauen und zur Explosion zu bringen, wenn man nur den Bauplan hat, da man keine seltenen Rohstoffe wie Plutonium oder angereichertes Uran benötigt. Das Virus von Grund auf zu synthetisieren, wäre schwierig, aber keineswegs unmöglich. Eine einfachere Möglichkeit wäre, einen gewöhnlichen Grippevirus mit den 8 einzigartigen und jetzt veröffentlichten Genen des Killervirus von 1918 zu verändern.
Zweitens wäre die Freisetzung des Virus weit schlimmer als eine Atombombe. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Explosion einer Atombombe über einer amerikanischen Stadt bis zu einer Million Menschen töten könnte. Die Freisetzung eines hoch ansteckenden und tödlichen biologischen Virus könnte Dutzende, nach Einschätzung von manchen auch Hunderte von Millionen Menschen töten.
Ray Kurzweil und Bill Joy: Recipe for Destruction, in NYTimes vom 17.10.05
Inzwischen hat die US-Regierung allerdings reagiert. Die Centers for Disease Control and Prevention haben am 20. Oktober einen Erlass nach dem Bioterrorism Act veröffentlicht, nachdem die codierenden Regionen aller acht Gensegmente des Grippevirus von 1918 in die Liste der Agenten und Toxine aufgenommen, bei denen Forschung und Versand streng kontrolliert wird, weil sie eine ernsthafte Bedrohung darstelle. Wer über Wissen über "reverse genetics" verfüge, könne mit dem veröffentlichten Genom diesen Virus rekonstruieren.
Aber gleich ob nun ein für den Menschen gefährlicher Virus aus dem H5N1- oder aus dem H1N1-Vogelvirus entsteht, es gibt Abhilfe. Nicht nur Tamiflu verspricht Rettung, endgültigen Schutz gibt es angeblich durch neueste Hightech, nämlich durch eine NanoMaske, wirbt die Firma Emergency Filtration Products. Für 125 Dollar erhält man diese Atemschutzmaske mit 100 Filtern aus nanotechnologischem Material und einer Flasche mit Tabletten gegen Viren. Wer es billiger will, kauft nur eine Maske mit 10 Filtern für 16 Dollar 95.
Die natürliche weltweit einmalige Maske werde, so verspricht die Firma, vom Pentagon bereits für alle Truppen bestellt und vernichtet alle Viren und Bakterien, die ein- oder ausgeatmet werden. Dabei ist die Maske, auch wenn sie aus den USA stammt, in ihrer Wirksamkeit gut kommunistisch. Nach dem Kill Time Test vernichtet sie 99.999 Prozent aller Pathogene. Mit dem Restrisiko lässt es sich leben. Der Nanofilter könne auch Viren und Bakterien zurückhalten. Mit der Filterung ab einer Größe von 27 Nanometern kommen eben, im Unterschied zur Konkurrenz, auch keine H5N1- oder SARS-Viren durch.
Offenbar haben die Maskenproduzenten Erfolg bei der aufkeimenden Panik. Angeblich stellen sie nun bis zu 200.000 Masken wöchentlich her, die auch über den Ladentisch gehen sollen. Unverzeihlich sei freilich, so die Hersteller, dass bislang die amerikanischen Behörden die Wunderwaffe gegen Infektionen aller Art noch nicht gekauft haben. Denn es geht alles ganz schnell:
It'll happen this way: migratory birds will come across Alaska's 90 million acres of wetlands, then fly down across Canada, Washington and Oregon. Migratory birds from Alaska pass through every state in the Union, by the way. Five percent of Alaska's migratory birds travel to Asia and back. One unlucky American will become infected from contact. He or she will go to work, and bring America to her knees. You really only have one defense: NanoMasks and NanoFitlers. If you don't get it by now, then get your Living Will ready.