Anmutungen der Massenkultur
Eine Art "ästhetisches Heimweh" bemächtigt sich nicht nur der Architektur
Dass der Zeitgeist sich rückwärts orientiert, dieser Eindruck verfestigt sich. „Der Konservativismus, der über Europa liegt“, frohlockte Wolf Jobst Siedler schon vor geraumer Zeit, „signalisiert ein neues Weltverständnis, dessen Chiffre die historische Erinnerung ist.“ Die Nachschöpfung des Berliner Hohenzollern-Schlosses ist dabei nur ein, wenngleich hervorgehobenes, Beispiel; der Fachwerkstreit um die Frankfurter Altstadt oder die Kontroverse um den Neumarkt in Dresden wären weitere. Wir leben in einer Umwelt, deren Produktionsbedingungen sich ändern. Und im selben Maße scheint jedwede Produktion ohne eine Collage von historischen Bildern, die Pawlowsche Reflexe bei der Kundschaft hervorrufen, nicht mehr auszukommen. Herrschaftliches Wohnambiente und stilvolle Manieren feiern allerorts fröhlich Urständ, ebenso der klassische Dreiteiler für den Herren, die Retro-Armbanduhr oder der Art-Déco-Toster.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass unsere Gesellschaft heute mehrheitlich auf „Klassiker“ zu setzen scheint – langlebig nicht nur aufgrund von Technik und Material, sondern auch, weil sie vermeintlich über allen Moden und Trends stehen. MANUFACTUM verkörpert diese Haltung geradezu: Der seit 1988 bestehende und sich immer weiter verbreitende Versandhaushandel produziert und verkauft nur solche Klassiker:
Wir haben uns vorgenommen, Dinge zusammenzutragen, die in einem umfassenden Sinne "gut" sind, nämlich nach hergebrachten Standards arbeitsaufwendig gefertigt und daher solide und funktionstüchtig, aus ihrer Funktion heraus materialgerecht gestaltet und daher schön, aus klassischen Materialien hergestellt, langlebig und reparierbar und daher umweltverträglich.
Überflüssig zu sagen, dass diese Strategie voll aufgeht. Weswegen wohl auch mehr und mehr eine entsprechende Erwartungshaltung gegenüber unserem Staatswesen an den Tag gelegt wird: Nicht nur die Dinge, auch das Dasein selbst möge doch, bitteschön, ‚gut‘ im klassischen Sinne sein.
Die Gründe für das Unbehagen an der Moderne liegen in der optisch-sinnlichen Verarmung der (rationell erstellten) Umwelt, die – glatt und kühl – keine Identifikation erlaube. Dabei ist es ja durchaus die Frage, ob sich jeder technologische Fortschritt, jeder Wandel unserer Lebensumstände in einer neuen Gestaltung niederschlagen muss. Wobei man sehen muss, dass die Pluralität der Lebensstile schon weiter geht, als gemeinhin angenommen.
Die Individualisierung hat, beispielsweise, längst auch einen so sehr von Standardisierung und Serienfertigung bestimmten Bereich wie die Wohnungsbau erfasst. Schließlich geht es dem Konsumenten nicht um das sinnerfassende Nachvollziehen eines vom Architekten oder Wohnungsunternehmer erfundenen Inhalts, sondern um das eigene Finden von Bedeutung im Kontext des alltäglichen Lebens. Heim und Heimat entstehen heute nicht mehr beim Häuslebauen als dem aktiven Durcharbeiten der privaten Umwelt, sondern im konsumierenden Aneignen ästhetischer Identitätsangebote. Aus dieser Perspektive ist es nur konsequent, wenn die Architekturen, die vor diesem Hintergrund entstehen, dem Pragmatismus verpflichtet sind. Wenn sie bildersprachlich nur Gewohntes reproduzieren, Nostalgie beschwören und sich an den marktüblichen Standards orientieren.
Kultur zu verallgemeinern, ist ein virulenter Anspruch jeder Gemeinschaft. Auf eine gewisse Weise hat der neue Traditionalismus eben das verinnerlicht. Er stellt eine Spielart jener affirmativen Kultur dar, wie sie einmal in Bezug auf die deutsche Gesellschaft um die vorletzte Jahrhundertwende diagnostiziert wurde. Nur dass sie jetzt in einen neuen, universellen Zustand transformiert worden ist.
Wie kein zweiter hat etwa der Möbelkonzern IKEA verstanden, dass Massenkultur eine Angebotsökonomie darstellt - und natürlich entsprechend davon profitiert. Dessen Design ist weltanschaulich scheinbar neutral: Es wirkt, als sei es auf eine anheimelnde Weise nichts als praktisch. Die Nüchternheit des Preiswerten ist abgemildert durch die skandinavische Wohnfolklore, die auf einem sorgsamen Umgang mit Farben und Licht basiert. Dies wiederum hat Erwartungshaltung und Geschmack einer ganzen Generation geprägt: Gleichsam ein Klassiker in der Kunst des Understatements. Aber eben bereits ein "Klassiker".
Ästhetik und Stil sind zentrale Begriffe heutiger Selbstdefinition
Im teils vagen, teils klar bestimmt Historischen finden Ästhetik und Stil gleichsam eine neue Symbiose.
Modern ist der Individualismus. Man wird auf der Grundlage, dass man bloß sich für modern, die andern aber entweder für altmodisch oder irregeleitet erklärt, zu der gewünschten Volkskunst nicht kommen. Die Altertümelei ist doch auch etwas noch nie oder doch nur selten Dagewesenes; jene, die wir betreiben, die wissenschaftlich alles umfassende, ist nur unserer Zeit eigen. Das Nachahmen des Alten ist also sicher eine ganz moderne Tätigkeit.
Cornelius Gurlitt
Nicht frei von Ironie, verteidigte der Kritiker und Publizist Cornelius Gurlitt, vor gut hundert Jahren, die Nachahmung des "Alten" und bezeichnet es (wenn schon nicht als innovativ, so doch) als modern. Und dass der renommierte Züricher Professor Vittorio Lampugnani schon vor einiger Zeit die „Kontinuität des Dauerhaften“ nicht nur in der Architektur, sondern für die Kultur schlechthin beschwor, passt exakt ins gleiche Bild.
Ein weiterer Begriff - oder besser: Wert - ist für den neuen Traditionalismus zentral: „Konvention“. Er meint Vereinbarung und Herkommen. Wo aber kommt was her? Teilen der intellektuellen Elite geht es um den Bestand unserer westlichen Kultur, oder genauer: um das, was wir verloren haben. Und natürlich geht es ihr auch um die Definitionsmacht: Sich im Besitz der historischen Wahrheit zu wissen. Ganz in diesem Sinne hält der namhafte Architekt Hans Kollhoff eine „Rückbesinnung auf Werte, die lange verzichtbar schienen, und auf Konventionen, die als überlebt galten“, für notwendig. Wo Konventionen erodieren, müsse Architektur die „Rest-Konstanten gesellschaftlichen Zusammenlebens“ bewahren helfen. Damit sind vor allem die gesellschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Werte gemeint, die dem hektischen Großreinemachen der zwanziger Jahre zum Opfer fielen. Fürwahr, ein großer Anspruch!
Natürlich aber gibt es große Unterschiede, wie man solche Begriffe oder Werte in die Praxis übersetzt. Die Spannweite heutiger Positionen, um beim Beispiel der Architektur zu bleiben, ist schier unübersehbar. Sie reicht vom inszenierten Kulissenzauber und aquarellierten Idealbildern eines amerikanischen New Urbanism bis zur intellektuell ernstzunehmenden Versuchen, frühere Formen unter gegenwärtigen Bedingungen zu revitalisieren – seien sie nun konstruktiv-technischer, materialer oder nutzungsbedingter Natur. Und in letzteren liegt sicherlich ein gewisses Potential.
Offenbar lässt sich aus der Dialektik von Vereinheitlichen und Differenzieren, Freiheit und Bindung, universalistischer Strömung und partikularistischem Bestreben doch so etwas wie Identität schöpfen. Die Art und Weise wie wir wohnen (wollen), unterliegt offenkundig nicht der gleichen Dynamisierung wie andere Alltagszusammenhänge. Im Gegenteil: Im gleichen Maße, wie die Globalisierung eine stärkere Nivellierung der Lebensumstände provoziert, scheint, komplementär dazu, das Bedürfnis nach je eigenen Kulturen und Traditionen zu wachsen. Und wie sehr regionale, lokale oder geschichtliche Anleihen beim Planen, Bauen und Wohnen heute bereits die Marketingstrategien industrieller Hersteller bestimmen, zeigen diverse Tendenzen in den USA. Diese werden wohlgemut von breiten Schichten der Bevölkerung aufgenommen, die mangels anderer und authentischerer Offerten in den wie auch immer historisch kostümierten „neuen“ Haus- und Siedlungsformen ihre Wünsche nach Geborgenheit und Gemeinschaft, Individualität und Unverwechselbarkeit befriedigen. Die Angebotspalette der Baumärkte – ob nun Obi, Praktiker oder Bauhaus – tut auch hierzulande dann nur ein Übriges.
Bis zu einem gewissen Maß darf man in all dem kein Problem sehen. Intellektueller und kultureller Purismus war noch nie Sache einer Mehrheit, und muss es auch tatsächlich nicht sein. Von einem "Komfort des Herzens", der die Kunst erst zum Gebrauch qualifiziere, sprach einst ja bereits Walter Benjamin: Tatsächlich "lebendige Formen" gibt es für ihn nur um den Preis, dass sie in sich etwas erwärmendes, brauchbares, schließlich beglückendes haben, dass sie dialektisch den "Kitsch" in sich aufnehmen, sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch überwinden können.
Blickt man aus dieser Warte auf den "neuen Traditionalismus", dann stellt er eine ganz normale "Konjunkturwelle" dar, einen gegenläufigen Pendelschlag, wie er die Diskussion über die industrielle Massenproduktion seit jeher begleitet hat. Mit der Politur des Hergebrachten und nostalgischer Begleitmusik lässt sich eben das Neue besser ertragen, in der Politik ebenso wie in der Wohnumgebung. Modern am "neuen Traditionalismus" ist freilich, dass der Rückgriff auf histor(ist)ische Formen zur Avantgarde, zur Spitze der Bewegung erklärt wird. Und dass seine Protagonisten beständig auf der Suche sind nach dem Wahren, dem Gültigen und dem Schönen. Selbst das wäre wohl nicht weiter schlimm – wenn sie nicht glauben würden, es auch schon gefunden zu haben.