Annalena Baerbock und die Entsorgung der deutschen Geschichte
Nur eine Außenministerin mit dem Parteibuch der Grünen kann es sich leisten, die ehemaligen Opfer der Deutschen offen zu brüskieren. Kritik gibt es in Deutschland daran kaum noch.
Laut der Polen-Korrespondentin der taz, Gabriele Lesser, hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock "Warschau einen Korb" gegeben.
Die rechtskonservative Regierung hatte der deutschen Bundesregierung die Rechnung für die Verbrechen präsentiert, die die deutsche Wehrmacht in dem Nachbarland angerichtet hatte. Auf 1,3 Billionen Euro hatte sich die Summe mittlerweile erhöht. Die polnischen Forderungen sind nicht neu. Vor einigen Wochen hatten polnische Politiker den Schadensbericht über die deutsche Aggression von 1939 bis 1945 verursachten Verluste vorgestellt
Neue deutsche Härte
Neu ist aber die Härte, mit denen die aktuelle deutsche Außenministerin sie zurückweist, wie Lesser richtig beobachtet hat: "Doch anders als bisher, als deutsche Politiker versuchten, das Reparationsthema diplomatisch zu umschiffen, sagte Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in Warschau klipp und klar, dass das Thema 'rechtlich abgeschlossen' sei."
Über diese neue deutsche Härte ausgerechnet von einer Politikerin der Grünen kann nur überrascht sein, wer noch immer nicht kapiert hat, dass Grüne in vielerlei Hinsicht Tabubrecher für ein neues deutsches Selbstbewusstsein auf ganz vielen Gebieten sind.
Nur ein Außenminister mit grünem Parteibuch konnte die Bundeswehr wieder in Kriege führen, wie Joschka Fischer in der ersten "rot-grünen" Koalition auf Bundesebene. Bei jeder anderen politischen Konstellation hätte es massive Proteste gegeben. Das gilt allerdings auch für andere politische Fragen. Nur Politikerinnen der Grünen können mit dem RWE-Konzern eine Vereinbarung aushandeln, die das Ende des Dorfes Lützerath, eines Symbols der Anti-Kohle-Bewegung, beinhaltet, ohne dass Grünen-Mitglieder geschlossen dagegen protestieren.
Und nur eine grüne Außenministerin kann den Rechtsnachfolgern der Opfer deutscher Großmachtpolitik ganz klar sagen, dass dieses Kapitel abgeschlossen ist. Dem Antisemitismusforscher Clemens Heni verdanke ich den Hinweis, dass der US-Politologe Andre Markovits bereits in den 1990er-Jahren in seinem nur noch antiquarisch erhältlichen Buch "Grün schlägt Rot" bei aller Sympathie für die Grünen klar kritisierte, wie schamlos sie in ihrer Politik über Auschwitz und den Antisemitismus hinweggehen.
Es ist die gleiche Schamlosigkeit, mit der sie jetzt der polnischen Regierung sagen, dass die Zeit vorbei ist, wo Deutschland noch für seine Verbrechen zahlt. Dazu muss man wissen, dass deutsche Bundesregierungen immer nur dann zu Zahlungen an die Opfer des deutschen Faschismus und deren Nachfahren bereit waren, wenn sonst massive wirtschaftliche Nachteile drohten.
Dazu muss man sich nur die Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter anschauen. Opfergruppen, die nicht die Macht hatten, den Wiederaufstieg Deutschland zu gefährden, gingen entweder leer aus oder wurden mit Symbolpolitik abgespeist. Immer wurde den Opfern und ihren Nachfahren, wenn sie Entschädigung forderten, vorgeworfen, dass sie nur Geld wollten und dass hinter ihren Forderungen politische Interessen verfolgt werden.
Damit sollte von der Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen abgelenkt wurden. Diese Töne hören wir jetzt auch im Fall Polens. Dort werden die Reparationsforderungen als Wahlkampfmanöver der rechten polnischen Regierung hingestellt. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Forderungen schon mehrere Jahre alt sind und nicht im Vorwahlkampf gestellt wurden.
Natürlich spielen immer auch politische Überlegungen der jeweiligen Regierungen mit hinein, die diese Forderungen stellen. Zudem wird wie auch schon bei anderen Opfergruppen darauf verwiesen, wie viel doch Deutschland schon gezahlt habe. Das hört man auch im Fall Polen.
Das Schweigen der Linken in Deutschland
Zunächst einmal aber zeigen die Forderungen, dass es noch Regierungen gibt, die es wagen, dem wiedererstarkten Deutschland selbstbewusst gegenüberzutreten und die damit deutlich machen, dass es für sie keinen Schlussstrich unter der deutschen Vergangenheit gibt. Kein Schlussstrich – das war auch Tenor vieler linker Interventionen in die Geschichts- und Gedenkpolitik nach 1989.
Die Forderungen nach Entschädigung für die Opfer Deutschlands und ihre Nachfahren hatte damals einen zentralen Stellenwert. Davon ist heute kaum noch etwas übriggeblieben. Wo bleiben die Stimmen, die in der aktuellen Debatte um Reparationen für Polen zunächst einmal darauf hinweisen, dass die Forderungen generell berechtigt sind?
Wo bleiben die politischen Kräfte, die in diesen Forderungen auch eine Herausforderung des deutschen Machtanspruchs in Europa sehen und sie aus diesem Grund unterstützen? Die Wochenzeitung Jungle Word, die lange Zeit ein wichtiges Organ dieser deutschlandkritischen Linken war, hatte kürzlich einen Themenschwerpunkt zu den Forderungen Polens an Deutschland.
Doch der Schwerpunkt lag auf der Kritik an den polnischen Forderungen – und nicht am Verhalten der Bundesregierung. "Antideutsch taugt nicht als Qualitätssiegel" lautete die Überschrift eines Artikels in der Zeitung, der manche noch immer das Adjektiv antideutsch anheften wollen.
In diesem Text wird der polnischen Seite Geschichtsrevisionismus vorgeworfen, weil sie sich angeblich nicht mit ihrem eigenen Antisemitismus auseinandersetzt. Nun ist dieser Antisemitismus, vor allem bei der polnischen Rechten, unbestritten. Doch es ist schon merkwürdig, dass nun auch in einer einst deutschlandkritischen Zeitung betont wird, dass die Opfer Deutschland auch Verbrechen begangen haben.
Dass war nach 1945 die klassische Argumentation, wenn man von den deutschen Verbrechen nichts hören wollte. Da kamen dann stets die Verweise, was denn die anderen so Schlimmes gemacht hätten. Aus einer deutschlandkritischen Perspektive wäre klargestellt worden, dass nicht der polnische, sondern der deutsche Antisemitismus zu Auschwitz geführt hatte – und dass die deutschen Verbrechen in Polen nicht dadurch relativiert werden, dass die Forderung nach Reparationen nun von einer rechtskonservativen Regierung erhoben wird.
Doch davon hört man heute nichts mehr. So muss man konstatieren, dass die Deutschlandkritiker vor 20 Jahren mit ihren Warnungen recht hatten. Der Schlussstrich unter die Vergangenheit ist gezogen – und selbst die ehemaligen Gegner haben es akzeptiert