Antisemitismus-Affäre: Hubert Aiwanger am SZ-Pranger
Seite 2: Verdachtsberichterstattung
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Dabei steht selbst dieser Einzelfall schon auf wackeligen Füßen. Die SZ behauptet gar nicht, dass Aiwanger das – für uns Leser unbekannte – Flugblatt tatsächlich verfasst hat. Er habe "in seiner Jugend offenbar rechtsextremes Gedankengut" verbreitet. Er stehe "im Verdacht, als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst" zu haben.
Hubert Aiwanger hatte schon vor der ersten SZ-Veröffentlichung bestritten, das Flugblatt produziert zu haben. Inzwischen hat sich sein Bruder Helmut Aiwanger als Verfasser bekannt, womit auch ein von der SZ nachgeschobenes Schriftgutachten obsolet wäre, welches Hubert Aiwangers Schreibmaschine identifiziert haben soll.
In der SZ heißt es:
Das Flugblatt war offenbar die Reaktion auf den "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten", den nach eigenen Angaben größten historischen Forschungswettbewerb für junge Menschen in Deutschland.
"Das Flugblatt soll an der Schule in Mallersdorf-Pfaffenberg weithin bekannt gewesen sein". "Schilderungen weiterer Personen [...] legen zudem nahe, dass Aiwanger als Schüler für eine rechtsextreme Gesinnung bekannt war."
Der Text ist ein Beispiel für die derzeit ausufernde Verdachtsberichterstattung, die sich ihrer eigenen Grundlagen nicht sicher ist. Im Gegensatz zu Berichten etwa über Till Lindemann behauptet die SZ nicht einmal, es lägen ihr wenigstens eidesstattliche Versicherungen von Zeugen vor. Damit dürfte sich die Münchner Zeitung schon juristisch auf dünnem Eis bewegen.
Denn zu Aiwangers Urheberschaft des ominösen Flugblatts schreibt sie:
Ein Lehrer, der damals dem Disziplinarausschuss angehörte, sagte der SZ, dieser habe "Aiwanger als überführt betrachtet, da in seiner Schultasche Kopien des Flugblatts entdeckt worden waren".
Nicht nur der frühere BGH-Richter Thomas Fischer wird sich bei solcher Beweisführung schütteln (siehe beispielsweise zur Dieter-Wedel-Berichterstattung). Weil jemand Flugblätter in seinem Ranzen hat (von wem und warum auch immer durchsucht) ist er deren Urheber?
Wenn die SZ nicht noch einen Trumpf im Ärmel hat, wird ihr diese Logik um die Ohren fliegen müssen. An Verdachtsberichterstattung werden juristisch zurecht hohe Anforderungen gestellt. Unter anderem ist "ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst 'Öffentlichkeitswert' verleihen, erforderlich" (BGH VI ZR 1241/20).
Richtigkeit
Unabhängig von der rechtlichen Zulässigkeit haben wir es hier jedenfalls mit einem schweren Qualitätsdefizit zu tun: Die Richtigkeit der Behauptungen ist nicht bewiesen, die zentrale Behauptung Aiwangers Autorenschaft nicht einmal belegt - denn dafür genügt die zitierte Interpretation eines namenlosen Lehrers nicht.
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Lassen sich Quellen und Zeugenaussagen von den Journalisten nicht selbst auf ihre Richtigkeit prüfen – was hier angesichts der zitierten Distanzierungen offenbar der Fall ist –, dann ist neben dem deutlichen Zweifel die Nennung der Quellen unabdingbar, damit sich die Journalismus-Kunden selbst ein Bild von der Richtigkeit machen können. Doch die SZ benennt in ihrem Online-Text niemanden – außer Aiwanger.
Keiner der Zeugen, mit denen die SZ gesprochen hat, wollte namentlich genannt werden – aus Sorge vor möglichen "dienstrechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen".
Wie kann das sein, wenn doch nur die Wahrheit gesagt wurde? Welche Konsequenzen sollte da jemand zu befürchten haben – und wäre das dann nicht das eigentliche Thema?
Kann es sein, dass die SZ eine 35 Jahre alte Geschichte für so wichtig hält, dass sie diese gedruckt auf Seite 3 sowie in ihrer Online-Ausgabe ausbreitet, gleichzeitig aber niemand zur nun endlich enthüllten Wahrheit stehen mag, weil Dienstrecht und Gesellschaft sonst für nicht hinnehmbare Beeinträchtigungen sorgen?
Anders gefragt: Wie soll die Richtigkeit einer Aussage vom mündigen Bürger überprüft werden, wenn die Aussagenden unbekannt bleiben? Wie soll ein solcher Beitrag für Orientierung, für das gesellschaftliche Gespräch sorgen, wenn nur einer am Pranger steht und alle anderen aus dem Dunkeln heraus agieren?
Ja, es gibt zurecht einen Informantenschutz. Aber es gibt keinen Faktenschutz.
Wer nur ominöse Quellen bietet, um die Richtigkeit seiner Vorwürfe zu stützen, begibt sich auf dünnes Eis. Wer sich dann noch gleichzeitig von diesen Vorwürfen soweit distanziert, dass er sich keinen davon zueigen gemacht haben will, ist ins kalte Wasser eingebrochen.
Am Ende der Geschichte wissen wir also nicht einmal, was davon wahr ist. Unwahr ist jedenfalls folgende Behauptung der SZ:
Es wird berichtet, Aiwanger habe damit geprahlt, er habe vor dem Spiegel Hitler-Reden einstudiert und dessen verbotenes Buch "Mein Kampf" gelesen.
"Mein Kampf" zu besitzen und zu lesen war nie verboten, auch der Verkauf des alten Buches war es nie (BGH 3 StR 182/79). Wie immer gilt: Solche Märchenerzählungen ließen sich vermeiden, würden Journalisten all ihre Behauptungen belegen, wenigstens intern (ausführlich: "Wenn schon die Fakten nicht stimmen").
Und wer dabei war, als Aiwanger vorm Spiegel geübt hat, wüssten wir Leser auch gerne – es wird ja wohl nicht auf Hörensagen basieren wie in einem Klatsch-Blatt.
Einordnung
Ungeachtet der wichtigen Fragen nach Richtigkeit und Relevanz der SZ-Aussagen fehlt es im Beitrag völlig an Einordnung. Wird den Lesern schon mit den vielen unbewiesenen Behauptungen keine Orientierung geboten, so fehlt selbst bei Annahme ihrer Richtigkeit alles, um mit diesen Informationen etwas anfangen zu können.
Dem SZ-Beitrag lässt sich nicht einmal das Bemühen um Orientierung entnehmen. So wird trotz der völlig vagen Ausgangssituation keinerlei entlastende Position referiert. Wie wäre denn ein solches Flugblatt eins 17-Jährigen zu bewerten? Was äußern 17-Jährige so allgemein, was einzelne (z.B. statistisch gesehen)?
Was kann eine Äußerung in diesem Alter über jemanden sagen, der sich der Rente nähert? Wie besonders wäre ein solcher Ausfall? (Wer sich bspw. Schülerzeitungen anschaut – in alten Ausgaben ggf. inklusive eigener Beiträge wird da eine Ahnung haben.) Und was sagt Hubert Aiwanger heute so zu Israel, zum Holocaust, zu Rechtsextremismus, zu rechter oder rechtsextremer Satire?
Die 'Einordnung' der SZ besteht allein darin, über ihre nur im Subtext mitgelieferte Interpretation eines wiederum winzigen Ausschnitts aus einer Aiwanger-Rede nahezulegen, der bayerische Wirtschaftsminister sei wohl schon immer sehr rechts, und zwar zumindest immer wieder über das (rechtlich oder moralisch) zulässige Maß hinaus.