Antisemitismus, Israel und deutsche Staatsräson: Widersprüche und Doppelstandards
Streit um Palästina-Parolen: Was fehlt, ist eine Bewegung gegen jeden Antisemitismus – unabhängig vom staatstragenden Freund-Feind-Schema. Ein Kommentar.
Der jüngste Krieg im Nahen Osten hat schon jetzt weltweite Auswirkungen – zumindest auf die Prioritäten der öffentlichen Wahrnehmung. Da interessiert es gleich noch viel weniger, dass Klimaforscher wieder einmal Alarm schlagen: Die Gletscher in unseren Breiten, aber auch an den Polen schmelzen schneller als erwartet.
Die Folgen für das Ansteigen der Meeresspiegel sind noch unklar. Doch dieses Thema ist in den letzten Wochen weit an den Rand gerückt. Denn nach dem russisch-ukrainischen Krieg – der zwar noch läuft, aber von Politik und Medien im Westen weiter unten einsortiert wird – lenken nun die Pogrome der Hamas in Israel und die Bombardements des Gazastreifens die Aufmerksamkeit weg von der gemeinsamen "Menschheitsherausforderung", wie Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) die Klimakrise nannte.
Eigentlich könnte die Klimabewegung Fridays for Future genau darauf hinweisen und deutlich machen, dass die Umweltveränderung keine Pause macht, nur weil ein Großteil der Menschen wegen der anderen Schrecken des Spätkapitalismus keine Zeit hat, sich darum zu kümmern.
Doch das Klimaschutz-Netzwerk steckt nach der Positionierung seiner schwedischen Initiatorin Greta Thunberg und des Social-Media-Teams von Fridays for Future international selbst in einer Krise – und manche sehen gar die Existenz der Organisation in Deutschland bedroht. So sieht die linksliberale Frankfurter Rundschau (FR) deren Weiterexistenz als immer unsicherer an.
Die Shoah war ein deutsches Mordprogramm
Interessant ist die Personifizierung, wenn in der FR die deutsche Sektion von Fridays for Future mit Luise Neubauer gleichgesetzt wird, die als aktives Mitglied der Grünen bekannt ist. Dabei weiß auch die FR, dass für Fridays vor Future – eigentlich – niemand sprechen kann, weil es eine dezentrale Organisation ist.
Daher ist es auch absurd, wenn der deutsche Ableger für Statements von Fridays for Future International zum Nahostkonflikt verantwortlich gemacht wird, die zumindest als regressiv antizionistisch mit einer offenen Flanke zum israelbezogenen Antisemitismus klassifiziert werden können.
Doch die Aufregung darum ist in Deutschland ist schwer erklärlich. Fridays for Future ist eine junge internationale Klimabewegung. Es ist bekannt, dass in vielen Ländern der Nahostkonflikt völlig anders als in Deutschland diskutiert wird. Das hat seinen schlechten Grund: Die Shoah war ein deutsches Mordprogramm – und es war die Anti-Hitler-Koalition, die Deutsche 1945 vom weiteren Judenmord abhalten musste.
Es dauerte schließlich mehrere Jahrzehnte, bis sich in der BRD eine Auseinandersetzung mit dem mörderischen deutschen Antisemitismus entwickelte – zunächst gegen den erbitterten Widerstand der deutschen Eliten. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die deutschlandkritische Linke der frühen 1990er-Jahre vor allem aus der Erkenntnis gespeist war, dass ein Land, das die Shoah verbrochen hatte, nicht wieder Weltpolitik machen sollte.
"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" lautete eine der Parolen dieser antideutschen Linken vor rund 30 Jahren. Damals war auch in der deutschlandkritischen Linken die Überzeugung verbreitet, dass gerade Deutschland außenpolitisch Zurückhaltung üben sollte (überspitzt hieß es "Deutschland halt's Maul"), vor allem, wenn es um die Länder geht, deren Bevölkerung am meisten unter Deutschlands Verbrechen gelitten hatte: Neben Israel, in dem viele europäische Holocaust-Überlebende einen Neuanfang gewagt hatten, war das unter anderem Russland.
Dieser kleine historische Exkurs ist nötig, weil heute Deutschland sich als Weltmeister in Kampf gegen Antisemitismus präsentiert und den Anspruch erhebt, damit in aller Welt verbindliche Ansprüche zu formulieren.
Verordneter Kampf gegen den Antisemitismus?
Nur so kann man die aktuelle Debatte um Fridays For Future verstehen, wo auch deutsche Politiker völlig unbefangen ihre Forderung an eine staatsunabhängige Klimabewegung formulieren. Nun könnte man argumentieren, es sei doch nichts dagegen einzuwenden, wenn auch deutsche Politiker nun den Kampf gegen Antisemitismus zum höchsten Ziel erklären und überall in der Welt durchsetzen wollen.
Doch dabei wird vergessen, was hier durchgesetzt werden soll, ist die Staatsräson des wiedergutgemachten Deutschland, für das der israelsolidarische Publizist Eike Geisel, höchstens Spott übrig gehabt hätte. Geisel wurde von einer deutschlandkritischen Linken viel gelesen, für die der Kampf gegen den Antisemitismus und der Kampf gegen großdeutsche Ambitionen untrennbar verbunden waren. Davon ist heute kaum etwas übrig geblieben.
Nötig sind Standards für eine emanzipatorische Politik
Dabei wäre eine Bewegung gegen Antisemitismus und regressiven Antizionismus auch in Deutschland bitter nötig. Sie würde zunächst einmal klarmachen, dass es ihr nicht um eine Staatsräson geht, schon gar nicht um die deutsche, sondern um eine Verständigung auf Standards für eine emanzipatorische Politik. In dieser Position könnte sie auch sehr entschieden den regressiven Antizionismus benennen, der in den inkriminierten Tweet von Friday for Future international zu finden waren.
Aber eben nicht in der Rolle der Verteidigung einer Staatsräson, sondern als Teil einer weltweiten Bewegung, die für vernünftige Zustände in aller Welt kämpft. In einer solchen Welt haben Antisemitismus, Islamismus keinen Platz. Eine solche Bewegung in Deutschland würde sich gegen die als Staatsraison verordnete Lesart des Antisemitismus für einen linken Kampf gegen jeden Antisemitismus aussprechen.
Eine solche Bewegung dürfte sich dann auch nicht auf den israelbezogenen Antisemitismus konzentrieren und so den Eindruck erwecken, in Deutschland gäbe es andere Formen nicht mehr. Wo blieb denn auch nur ein Bruchteil der Empörung, die jetzt gegen Fridays for Future trifft, als Hubert Aiwanger und seine "Freien Wähler" bei der bayerischen Landtagswahl mit einem Stimmenzuwachs belohnt wurde, nachdem publik geworden war, dass er als Jugendlicher antisemitische Schriften in der Schultasche gehabt hatte und er sich als Opfer einer linken Kampagne sah?
Wo bleibt die Kritik daran, dass in zur deutschen Staatsräson auch die bedingungslose Solidarität mit dem Teil der ukrainischen Nationalbewegung gehört, der in den letzten Jahren Antisemiten wie Stepan Bandera Denkmäler setzte?
Karl-Carstens-Preis - kein Thema für Kritik?
Da interessiert auch nicht mehr, dass die Macher des staatstragenden Podcasts "Sicherheitshalber", der für militärische Unterstützung der Ukraine mobilisiert, kürzlich den Karl-Carstens-Preis für sicherheitspolitische Kommunikation verliehen bekommen haben und ihn auch gerne annahmen.
Es regte sich kaum eine kritische Stimme, obwohl dieser Preis nach einem Ex-NSDAP-Mitglied benannt ist, gegen dessen Wahl zum Bundespräsidenten es 1979 breite Proteste aus der antifaschistischen Bewegung gab. Der Preis wird übrigens vom Freundeskreis der Bundesakademie für Sicherheitspolitik verliehen, die 2017 kurz in den Fokus antimilitaristischer Proteste geriet.
Zu den aktuellen Preisträgern gehört auch der von taz bis Welt beliebte Professor an der Hochschule der Bundeswehr, Carlo Masala. Eine linke Bewegung, die nicht deutschen Staatsinteressen das Wort redet, könnte hier intervenieren. Und sie könnte auch klar Stellung beziehen gegen regressiven Antizionismus, wo immer eher vorkommt, auch bei Teilen der Klimabewegung.
Eine solche Bewegung könnte sich die Situation in der DDR zum Vorbild nehmen. Dort war ja der Antifaschismus Staatsräson, was viele Kritiker vor allem aus dem Westen vom "verordneten Antifaschismus" reden ließ. Doch in den späten Jahren der DDR gründeten junge Antifaschisten eine Autonome Antifa Ostberlin, die Antifaschismus nicht als Staatsräson, sondern als Essential einer antiautoritären linken Bewegung verstanden hat.
Diese Antifaschisten wurden dann im Herbst 1989 auch Bündnispartner von Antifaschisten aus der Bundesrepublik und Westberlin. Die Beziehungen waren nicht konfliktfrei. Hier könnten sich auch Linke ein Vorbild nehmen, die sich für einen Kampf gegen jeden Antisemitismus und jede Staatsräson einsetzen wollen.
Der Autor ist Herausgeber des Buches "Kurze Geschichte der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken" in der Edition Assemblage herausgegeben.