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Antisemitismus: US-UniversitÀten im freien Fall

Sebastian Wessels

Auch an der altehrwĂŒrdigen Harvard-UniversitĂ€t ist die Sicht verbreitet, dass Juden einfach nur "weiße Kolonisatoren" seien. Foto: Daderot / CC0 1.0

Steht an US-Hochschulen linkes SelbstverstĂ€ndnis noch fĂŒr AufklĂ€rung? Hamas-Taten wurden mindestens verharmlost. Das hat Folgen.

"Glauben Sie, dass Juden als Klasse unterdrĂŒckerisch sind und als UnterdrĂŒcker behandelt werden sollten, oder ist das eine falsche Ideologie?"

Rund 2.000 wahlberechtigte US-Amerikaner beantworteten Anfang Dezember unter anderem diese Frage von Harvard Harris Poll [1], einer Kooperation von Politikwissenschaftlern der Harvard-UniversitĂ€t und des Marktforschungsunternehmens Harris Poll. 67 Prozent der 18- bis 24-JĂ€hrigen stimmten zu: Juden als Klasse (!) seien UnterdrĂŒcker und sollten als solche behandelt werden.

Diese Altersgruppe antwortete als einzige mehrheitlich positiv. Je höher das Alter, desto geringer war die Zustimmung. Die Ergebnisse relativieren sich ein wenig dadurch, dass die Befragung keine neutrale Option ("Weiß nicht") anbot. Doch eine verbreitete Einstellung "Im Zweifel gegen die Juden" ist auch dann ein Befund, wenn Zweifel tatsĂ€chlich vorhanden sind.

Auch die Frage, ob weiße Menschen UnterdrĂŒcker seien, fand in der jĂŒngsten Kohorte - und nur dort - mehrheitliche Zustimmung: 79 Prozent bejahten.

Höhere Bildung in der Vertrauenskrise

Es ist etwas faul an den UniversitĂ€ten der USA. Umfragedaten von Gallup [2] zeigen einen rapiden Verlust öffentlichen Vertrauens in die Einrichtungen der höheren Bildung seit 2015. Am grĂ¶ĂŸten ist er bei AnhĂ€ngern der Republikaner. Sie sprachen den Unis im Jahr 2023 nur noch zu 19 Prozent ihr Vertrauen aus - ein Einbruch um 37 Prozentpunkte seit 2015.

AnhÀnger der Demokraten stehen den UniversitÀten ideologisch nÀher; bei ihnen sieht es dementsprechend besser aus. Doch ein AbwÀrtstrend zeigt sich auch hier. Der Anteil derjenigen, die ihnen vertrauen, sank um neun Punkte von 68 auf 59 Prozent.

Diese Zahlen wurden im Sommer 2023 erhoben. Die desaströse Reaktion der Hochschulöffentlichkeit auf das Massaker der Terrorgruppe Hamas in Israel am 7. Oktober ist somit noch gar nicht eingepreist. Nicht nur zeigten sich die UniversitÀten zögerlich dabei, die Taten zu verurteilen - viele Einzelstimmen und Gruppen feierten sie geradezu.

Professor nach Hamas-Massakern "berauscht"

Auf einer Kundgebung in New York schwÀrmte etwa der Geschichtsprofessor Russell Rickford [3] von der Cornell-UniversitÀt, er sei danach "berauscht" gewesen.

An der George Washington University projizierten Studenten offene SolidaritĂ€tsbekundungen fĂŒr die Hamas [4] an ein GebĂ€ude, darunter "Glory to our martyrs" - "Ehre unseren MĂ€rtyrern".

Auf X, ehemals Twitter, verherrlichte eine Reihe von Professoren die terroristischen Morde und Vergewaltigungen mit der einen oder anderen sinngemĂ€ĂŸen Variation von "Dekolonisierung ist kein Ponyhof" [5].

30 studentische Gruppen der Harvard-UniversitĂ€t erklĂ€rten [6], das israelische "Apartheidregime" trage die alleinige Verantwortung fĂŒr die Gewalt. Die AufzĂ€hlung ließe sich noch lange fortsetzen [7]. All das blieb in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht unbemerkt [8].

Eine Anhörung im ReprÀsentantenhaus und die Folgen

"Die gute Nachricht ist, dass der freie Fall der Akademie jetzt vorbei ist", schrieb der Sozialpsychologe Jonathan Haidt [9] kurz vor Weihnachten.

Haidt gehört als Pionier der Moralpsychologie zu den heute einflussreichsten Vertretern seines Faches und hat die Organisation Heterodox Academy [10] gegrĂŒndet, in der sich einige Tausend Hochschulmitarbeiter fĂŒr mehr Perspektivenvielfalt an den links dominierten US-UniversitĂ€ten einsetzen.

"Die höhere Bildung Amerikas", so Haidt weiter, "ist am 5. Dezember 2023 in jenem Anhörungsraum des Kongresses auf dem Boden aufgeprallt."

Das House Committee of Education and the Workforce des ReprĂ€sentantenhauses hatte vier HochschulprĂ€sidentinnen eingeladen, um ĂŒber Antisemitismus in ihren Einrichtungen auszusagen. Drei kamen: Liz Magill von der UniversitĂ€t Pennsylvania, Claudine Gay von der Harvard-UniversitĂ€t und Sally Kornbluth vom Massachusetts Institute of Technology.

"Globalisiert die Intifada"

Zu Beginn der Anhörung zeigten Videoaufnahmen, wie studentische Demonstranten der betreffenden UniversitÀten unter anderem "Lang lebe die Intifada" und "Globalisiert die Intifada" skandierten.

Der arabische Ausdruck "Intifada" bedeutet etwa "Aufstand" und steht im Nahost-Kontext zumindest auch fĂŒr palĂ€stinensische Militanz. Es braucht daher nicht viel bösen Willen, um diese Parolen als Aufrufe zu Gewalt gegen Israel und Juden zu verstehen.

Von dem Mitschnitt der mehr als fĂŒnfstĂŒndigen Anhörung verbreiteten sich vor allem einige Minuten [11] wie ein Lauffeuer, in denen die republikanische Abgeordnete Elise Stefanik versucht, den PrĂ€sidentinnen ein klares Ja auf die Frage zu entlocken, ob ein Aufruf zum Genozid an Juden gegen den Verhaltenskodex ihrer HĂ€user verstoße. Es gelingt ihr nicht.

Alle drei PrĂ€sidentinnen verurteilten solche Aufrufe, stuften es aber als "kontextabhĂ€ngig" ein, ob sie gegen Regeln verstießen. Man pflege eine Kultur der Redefreiheit.

Zweifelhaftes Bekenntnis zur Redefreiheit

Als allgemeine Auslegung des ersten Verfassungszusatzes, der Redefreiheit, trifft das zu - auch die BefĂŒrwortung von Gewalt ist geschĂŒtzt, wenn sie nicht im jeweiligen Kontext geeignet ist, tatsĂ€chlich Gewalt auszulösen.

Doch eine Pose ausgerechnet der US-UniversitĂ€ten als Bastionen des Free-Speech-Absolutismus ist wenig glaubwĂŒrdig.

Dort werden etwa lange Listen "schÀdlicher" Wörter zusammengestellt, die "eliminiert" [12] werden sollten, und Mitarbeiter verlieren wegen Aussagen wie "Schwarze Leben zÀhlen, aber alle Leben zÀhlen auch" [13] ihren Job.

Reizthemen: Halloween-KostĂŒme und nur zwei Geschlechter

Andere kĂŒndigen schließlich unter fortgesetztem Druck, nachdem sie die Meinung geĂ€ußert haben, dass Studenten den Anblick unsensibler Halloween-KostĂŒme verkraften [14] könnten – oder dass es nur zwei biologische Geschlechter [15] gebe.

Anfang September stellte die Organisation Foundation for Individual Rights and Expression ihr viertes jĂ€hrliches Ranking der US-UniversitĂ€ten nach Redefreiheit [16] vor. DafĂŒr wurden gut 55.000 Studenten an 248 Einrichtungen befragt.

Faktoren der Bewertung sind etwa die Erfolgsquote von Deplatforming-Versuchen, die BefĂŒrwortung von Störaktionen zur UnterdrĂŒckung freier Rede und Parteilichkeit bei der Akzeptanz kontroverser Redner.

Zwei der UniversitĂ€ten, deren PrĂ€sidentinnen vor dem House Committee die Redefreiheit fĂŒr Genozidaufrufe gegen Juden in Anspruch nahmen, belegen im Ranking als absolute Schlusslichter die PlĂ€tze 247 und 248: Pennsylvania und Harvard.

Unis im Kreuzfeuer

Das Echo der Anhörung war heftig. Aus Politik, Wissenschaft und Medien hagelte es RĂŒcktrittsforderungen an die PrĂ€sidentinnen. Reiche Spender rebellierten. Der Fondsmanager Bill Ackman, Harvard-Alumnus und -Kritiker, erklĂ€rte auf X [17], er wisse persönlich von mindestens einer Milliarde US-Dollar an Harvard-Spenden, die aufgrund des Antisemitismus auf dem Campus vorerst ausfielen.

PrĂ€sidentin Magill von der Uni Pennsylvania stand bereits im Oktober aufgrund ihrer laschen Reaktion auf die Hamas-Massaker und der Duldung eines in Teilen antisemitischen Literaturfestivals auf dem Campus unter Druck [18] von vermögenden Spendern. Tage nach der Anhörung Anfang Dezember trat sie schließlich zurĂŒck.

Plagiats-EnthĂŒllungen zur Unzeit

Claudine Gay entschuldigte sich [19] in der Unizeitung Harvard Crimson fĂŒr ihre Wortwahl wĂ€hrend der Anhörung. Nach einer kurzfristig anberaumten Notsitzung erklĂ€rte das FĂŒhrungsgremium von Harvard, dass die UniversitĂ€t an ihr als PrĂ€sidentin festhalte.

Wenig spĂ€ter allerdings wurde Gay von einem zusĂ€tzlichen Problem eingeholt: StĂŒck fĂŒr StĂŒck wurde bekannt, dass sie in ihrer Dissertation und knapp der HĂ€lfte ihrer veröffentlichten Fachartikel Textstellen plagiiert hat.

Wie die New York Post berichtete [20], waren die PlagiatsvorwĂŒrfe in Harvard bereits bekannt, bevor sie in der Presse auftauchten. Dennoch hatte die UniversitĂ€t der Zeitung gegenĂŒber im Oktober heftig dementiert und mit AnwĂ€lten Druck aufgebaut, nicht zu berichten.

Eine Diversity-PrÀsidentin?

Kurz vor Weihnachten schloss sich dann der Linguist und vielfache Buchautor John McWhorter in der eher linken New York Times [21] den Forderungen nach Entlassung oder RĂŒcktritt Gays an.

Ihre Publikationsliste sei ohnehin fĂŒr eine Harvard-PrĂ€sidentin ungewöhnlich kurz und unspektakulĂ€r, so McWhorter. Lasse man ihr jetzt noch Plagiate durchgehen, beschĂ€dige das die Institution – und das Anliegen des Antirassismus. Es drĂ€nge sich der Eindruck auf, dass an Gay als schwarze Frau niedrigere AnsprĂŒche gestellt werden, als sie an einen weißen Mann gestellt wĂŒrden.

Der Verdacht, dass Gay ihren Posten nicht zuletzt aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts innehat, birgt eine gewisse Ironie: Das oberste Gericht der USA hat im Sommer die Praxis fĂŒr verfassungswidrig erklĂ€rt, bestimmte Studienplatz-Bewerber nach EthnizitĂ€t zu bevorzugen.

Von dieser Praxis benachteiligte Asiaten hatten Harvard wegen Diskriminierung verklagt und Recht bekommen.

Schwarz-Weiß-Denken und die Folgen

Folgt man der Analyse Haidts, fĂŒgt sich all das zu einem schlĂŒssigen Gesamtbild zusammen. VerstĂ€rkt durch die sozialen Medien, habe sich seit etwa 2014 eine Denkweise an den UniversitĂ€ten ausgebreitet, die der Psychologe als "UnterdrĂŒcker/Opfer-MentalitĂ€t" charakterisiert.

Die Hochschulbildung konzentriert sich demnach immer mehr darauf, sĂ€mtliches Weltgeschehen als Konflikt zwischen UnterdrĂŒckern und Opfern zu deuten. Dies war bereits die These des Bestsellers The Coddling of the American Mind, den Haidt 2018 zusammen mit dem Rechtsanwalt und Redefreiheits-Aktivisten Greg Lukianoff veröffentlicht hat, sowie eines vorangehenden gleichnamigen Artikels von 2015 [22].

Psychologisch gesehen lernten Studenten damit eine sogenannte "kognitive Verzerrung", die man vor allem bei Depressiven prominent antreffe: Schwarzweißdenken. Unter den Folgen seien politische Radikalisierung, ein Verlust der FĂ€higkeit zu kritischem Denken und eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit [23].

Konsequent durchgefĂŒhrte UnterdrĂŒcker-Opfer-Moral

So gesehen ist es keine Doppelmoral, Redefreiheit auf der einen Seite zu canceln und auf der anderen Genozidaufrufe unter ihren Schutz zu stellen. Es ist vielmehr konsequent durchgefĂŒhrte UnterdrĂŒcker-und-Opfer-Moral – schließlich ist Israel in diesem Schema ein "Siedlerkolonialistisches" Projekt.

Unehrlich ist es allerdings, auf dieser Linie stehend das Publikum glauben zu lassen, man folge immer noch der liberalen Ethik, aus der sich die Redefreiheit begrĂŒndet.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9584137

Links in diesem Artikel:
[1] https://harvardharrispoll.com/wp-content/uploads/2023/12/HHP_Dec23_KeyResults.pdf
[2] https://news.gallup.com/poll/508352/americans-confidence-higher-education-down-sharply.aspx
[3] https://www.youtube.com/watch?v=yAZcG-ZHOz4
[4] https://www.timesofisrael.com/glory-to-our-martyrs-protected-onto-building-at-george-washington-university/
[5] https://twitter.com/Jairo_I_Funez/status/1710724640551674351
[6] https://twitter.com/ianbremmer/status/1711153384953348169
[7] https://www.thefp.com/p/campus-cowardice-and-where-the-buck
[8] https://www.insidehighered.com/news/students/free-speech/2023/10/11/universities-slow-responses-hamas-attacks-draw-scrutiny
[9] https://www.afterbabel.com/p/antisemitism-on-campus
[10] https://heterodoxacademy.org/
[11] https://www.youtube.com/watch?v=5VtAZBvmzcQ
[12] https://s.wsj.net/public/resources/documents/stanfordlanguage.pdf
[13] https://www.foxnews.com/us/dean-fired-after-saying-black-lives-matter-but-also-everyones-life-matters-in-email
[14] https://www.thefire.org/research-learn/halloween-costume-controversy
[15] https://whyevolutionistrue.com/2022/11/11/the-cancellation-of-carole-hooven/
[16] https://www.thefire.org/research-learn/2024-college-free-speech-rankings
[17] https://twitter.com/BillAckman/status/1733985787455168906
[18] https://edition.cnn.com/2023/10/12/business/upenn-antisemitism-israel-hamas/index.html
[19] https://www.thecrimson.com/article/2023/12/8/gay-apology-congressional-remarks/
[20] https://nypost.com/2023/12/22/news/plagiarism-harvard-cleared-claudine-gay-then-investigated/
[21] https://www.nytimes.com/2023/12/21/opinion/harvard-claudine-gay.html
[22] https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2015/09/the-coddling-of-the-american-mind/399356/
[23] https://www.afterbabel.com/p/mental-health-liberal-girls