zurück zum Artikel

Apokalypse in Mittelitalien

Erdrutsch bei Castelluccio di Norcia. Foto: Jenny Perelli

Nach dem erneuten schweren Erdbeben lebt die Bevölkerung der betroffenen Gebieten in permanenter Angst vor Tod und Zerstörung

Gestern Morgen, kurz vor 8.00 Uhr, wurde ganz Zentralitalien von einem schweren Erdbeben der Stärke 6,5 geweckt. Das Epizentrum lag in Umbrien, zwischen Norcia und Preci. Bislang gab es nur wenige Verletzte, doch Kirchen und Gebäude sind wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen. Verzweifelt ruft der Bürgermeister der Stadt Ussita: "Ich sah die Hölle".

Die Bevölkerung der betroffenen Gebieten lebt seit dem ersten Beben am 24. August, bei dem 298 Menschen ums Leben gekommen sind, in permanenter Angst vor Tod und Zerstörung.

Erst vor wenigen Tagen waren in den gleichen Regionen mehrere heftige Beben aufeinandergefolgt. Die heutige Erschütterung hat ganz Mittelitalien getroffen und ist von Südtirol bis Apulien deutlich zu spüren gewesen.

Luftaufnahme der Feuerwehr, Castelluccio di Norcia

Laut Fabrizio Curcio, Leiter des Zivilschutzes, gebe es an die 20 Verletzte, aber zum Glück keine Todesopfer, denn als Reaktion auf die Beben der vergangenen Tage, hatten viele Menschen ihre Häuser verlassen, um in Zelten, Autos oder in sicheren Hotels zu übernachten.

In der Stadt Tolentino bei Macerata wurden drei Menschen lebend aus den Trümmern gerettet, in Norcia waren es 6. Derzeit sind viele Zufahrtstraßen blockiert und die Telefonleitungen unterbrochen. In Panik sind die Menschen auf die Straße gelaufen, in Norcia haben sie vor der eingestürzten Basilika des St. Benedikt, dem Schutzpatron Europas, auf den Knien gebetet.

Norcia, Basilica St. Benedikt - vorher nachher. Foto: Public Domain

Der Bürgermeister der Gemeinde Castelsantangelo sul Nera: "Die Häuser sind zusammengefallen, es ist eine Katastrophe. Der Boden ist aufgebrochen, überall ist Rauch. Särge sind aus den Grabnischen gefallen. Wir erleben gerade eine unbeschreibliche Situation."

Der Bürgermeister von Arquata: "Es ist alles eingestürzt. Die Dörfer existieren nicht mehr. Jetzt begehen wir die Ortschaften, um den Schaden zu erfassen."

Marco Rinaldi, der Bürgermeister der Gemeinde Ussita: "Ich sehe eine Rauchsäule, es ist ein Desaster! Ich habe im Auto geschlafen und habe die Hölle gesehen."

Das Beben erfolgte in einer Tiefe von 10 km und ist ein Nachbeben des ersten Erdstoßes vom 24. August. Es stellt, obwohl es stärker als das Auslöserbeben war, eine Fortsetzung der gleichen seismische Sequenz dar. Alessandro Amato, Seismologe des Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (INGV) bestätigt: "Die Tatsache, dass das heutige Erdbeben der Stärke 6,5 intensiver war als das der gleichen seismische Sequenz, die am 24. August mit einem Beben der Stärke 6,0 begonnen hat, ist keine Anomalie. Da gibt es keine Regeln. Wir wissen, dass sich in der Vergangenheit Ӓhnliches abgespielt hat."

Bei Castelluccio di Norcia. Foto: Jenny Perelli

In Italien treten diese Ereignisse leider recht häufig auf. Das letzte Nachbeben der Stärke 4,6 erfolgte kurz nach 13 Uhr.

Die Gefahr ist nicht gebannt, besonders die Gebirgskette des Apennins ist extrem erdbebengefährdet

Alberto Michelini, Senior Researcher des INGV, betont, dass die Gefahr keineswegs gebannt ist und höchste Vorsicht geboten ist. Die Experten erfassen mit Hilfe der Seismographen und der Satelliten zeitgleich alle Daten zur Auswertung und Lokalisierung der Folgebeben.

Fest stehe, laut Michelini, dass das Risssystem genügend elastische Energie in den Felsen angesammelt hat, die jetzt freigegeben wird.

Castelluccio di Norcia. Foto: Jenny Perelli

Die italienische Regierung schätzte die Erdbebenschäden zuletzt auf rund vier Milliarden Euro. Regierungschef Renzi versicherte vor einigen Stunden während einer Pressekonferenz in Rom: "Wir werden alles wieder aufbauen. Die Häuser, die Kirchen, die Betriebe." Er fügte hinzu, dass die obdachlose Bevölkerung in den ersten Wochen in Hotels aufzunehmen ist, da der Winter vor der Tür stehe und eine Unterbringung in Zeltstädten einfach undenkbar sei.

Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella, der sich in Jerusalem auf Staatsbesuch befindet, bittet um eine weitreichende Zusammenarbeit und den Zusammenhalt aller Politiker.

In der Hauptstadt waren die U-Bahnlinien A,B und B1 zur technischen Überprüfung vorübergehend geschlossen worden. In einem Palazzo der Innenstadt ist ein menschenleerer Aufzug abgestürzt. Das Kolosseum sowie das gesamte archäologische Areal wird derzeit minuziös kontrolliert. Der Quirinalpalast, Dienstsitz des Präsidenten der Republik, ist für Besucher einstweilig geschlossen; auch wurden einige öffentliche Veranstaltungen abgesagt.

Der Präsident der Region Marken, Luca Ceriscili schlägt wegen der Situation der Obdachlosen Alarm: "Sollten die Nachbeben weiter anhalten, kann die Zahl der Hilfesuchenden von 10.000 auf 100.000 ansteigen."

Italien ist insgesamt ein tektonisch komplexes Gebiet und die Gebirgskette des Apennins ist extrem erdbebengefährdet. Die umbrische Geologin Cristina Caldarella stimmt mit anderen Geologen darin überein, dass die dortige Risslandschaft sich nach dem Dominoprinzip verzweigt und weiterentwickelt. Seit dem Erdbeben im August sollen sich allerdings 3 neue Risse aufgetan haben, die zwar zur bereits bestehenden Risslandschaft gehören, aber nicht unbedingt einem klaren Süd-Nord Muster entsprechen. Es sei daher unmöglich, die Epizentren der nächsten Beben vorauszusehen.

Apokalypse in Mittelitalien (8 Bilder) [1]

[2]
Luftaufnahme der Feuerwehr, Castelluccio di Norcia

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3390131

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3453966.html?back=3390131
[2] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3453966.html?back=3390131