Apologie des Nichtwählens
Wenn Wahlen nur noch die bestehenden Verhältnisse reproduzieren, wird Nichtwählen zu einer echten Option
Der derzeit zu beobachtende Auswuchs eines medialen Meinungssturms gegen Nichtwähler ist nur schwer zu ertragen. Das Verhalten derjenigen, die gegen die Nichtwähler mobil machen, hat viele Anzeichen eines Glaubenskrieges: Mit reichlich Überzeugung, aber mit fragilen Argumenten, wird versucht, die eigene Meinung als die einzig legitime Sicht zu beanspruchen. Wer widerspricht, wird als träge, frustriert und arrogant beschimpft und ausgegrenzt. Doch die komplexen politischen Verhältnisse sind nicht durch einen Tunnelblick zu erfassen. Die Verweigerung der Wahl ist in demokratischen Systemen eine Art Notsignal. Nichtwählen ist die letzte Möglichkeit, die bleibt, um unmissverständlich klar zu machen, dass das Schiff Leck geschlagen und schwere Schlagseite hat. Rettung ist dringend notwendig. Auf die Frage, ob die Wähler am Sonntag zur Wahl gehen sollen, gibt es zwar keine einfache Antworten, aber fest steht: auch Nichtwählen ist eine Option.
In der aktuellen Ausgabe des Spiegels heißt es auf dem Titel: "Wie Nichtwähler die Demokratie verspielen." Für diese Überschrift darf man der Redaktion gratulieren. Aber vielleicht anders, als es ihr lieb ist. In dem Titel kommt das ganze Dilemma zum Vorschein, das man immer wieder antrifft, wenn überzeugte Wähler meinen, missionieren zu müssen. Ein offensichtlich nur sehr bedingt reflektiertes politische Wirklichkeitsverständnis reduziert Komplexität, um die eigenen Grenzen seines Seins nicht zu gefährden.
Wer den Begriff Demokratie so unreflektiert gebraucht, wie es im Spiegel geschieht, unterdrückt eine dringend notwendige Debatte um die Schwächen (und Stärken) unseres politischen Systems und über den Zustand der so genannten westlichen Demokratien.
Wer sagt: Wenn man in einer Demokratie lebt, muss man auch wählen gehen, so wie es der Tage immer wieder zu hören ist, darf sich vor der ketzerischen Frage über die Substanz dessen, was da als Demokratie bezeichnet wird, nicht verschließen. Doch bereits an dieser allerersten Hürde scheitert eine konstruktive Diskussion. Mit Angriffen auf die Person, mit Abwehrhaltung und klapprigen Phrasen wird häufig versucht, die Fundamentaldiskussion zu unterdrücken. Das ist bitter. Denn so besteht erst gar nicht die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, in wie fern die derzeitigen westlichen Demokratien ihren eigenen Ansprüchen überhaupt gerecht werden (und gerecht werden können).
So lässt sich eben kaum eine Debatte darüber führen, wie abträglich oder zuträglich ein vorgelagerter politischer Formationsprozess einer Machtelite ist, wie er seit vielen Jahrzehnten zu beobachten ist und wie ihn die Soziologie in ihrem Zweig der Machtstrukturforschung untersucht.
Was hat es mit der längst legendären Theorie der Machtelite, wie sie von dem US-amerikanischen Soziologen Charles Wright Mills in den 50er Jahren des vergangen Jahrhunderts entworfen wurde, heute noch auf sich? Bereits damals konstatierte Mills eine unheilvolle Verzahnung zwischen Politik, Wirtschaft und Militär in den USA und verwies auf eine Untergrabung der demokratischen Strukturen. Er knüpfte auch an an die ebenso grandiose Forschungsarbeit eines Floyd Hunters, der noch vor Mills die Funktionsprinzipien einer Elite-Macht auf lokaler Ebene herausarbeitete und welche Bedeutung dies für die ablaufenden demokratischen Prozesse hatte. Wenngleich Hunters und Mills Werke sich auf die US-amerikanische Gesellschaft konzentrierten, so erkannten sie doch allgemeingültige Prinzipien und Handlungsweisen, die auch in anderen Demokratien zu erkennen sind.
Ist es, wenn man über die tatsächliche Reichweitenmacht der eigenen Stimme für eine Wahl nachdenkt, nicht essentiell, dass man auch die Schattenseiten der westlichen Demokratie hinterfragt - die heute noch stärker ausgeprägt sind, als zu Zeiten von Mills -, um überhaupt erst einmal genauer zu analysieren, welchen Einfluss die Stimmabgabe oder Nichtabgabe eigentlich hat?
Die "Argumente" der Wahleuphoriker
Wer völlig ignorant gegenüber neueren Ansätzen ist, die das Schlaglicht auf die Superreichen richtet (Die Geldelite verselbständigt sich), wer die vielfältigen Einflussnahmen auf das (wirtschafts-) politische Geschehen einer globalen Klasse nicht wahrnimmt, dürfte nur schwer verstehen, warum man längst von einer Erosion der Demokratien sprechen kann.
Darf man die Frage aufwerfen, inwieweit die westlichen Demokratien tatsächlich noch funktionierende Demokratien sind? Darf man, wenn man aus der Machtstrukturforschung kommt, ansprechen, dass es geradezu ein globales Netzwerk an enorm einflussreichen Institutionen gibt, die in einem hochkomplexen Prozess auf die demokratischen Strukturen, auf den politischen Meinungsbildungsprozess einwirken? Darf man die Erkenntnisse einer herrschaftskritischen Sozialwissenschaft über das romantische Bild der demokratischen Wahlen legen, um dieses zu kontrastieren?
Selbstverständlich darf man es, oder besser: Nein, als Demokrat muss es sogar die Pflicht sein, auf die enormen Belastungen, die von außen wie von innen auf die noch als Demokratien bezeichneten westlichen Staatssysteme einwirken, hinzuweisen.
Aber das ist sicherlich nur eine Meinung. Der Spiegel sieht das in der bereits angesprochenen Titelgeschichte etwas anders. Dort wird etwa der Wirtschaftswissenschaftler Max Otte angeführt, der sich als Nichtwähler zu erkennen gibt. Als Grund dafür, dass er nicht wählen geht, führt Otte den Begriff "Plutokratie" an. Der Spiegel erklärt seinen Lesern was das ist: "eine Herrschaft der Reichen".
Doch damit ist die Informationsstunde für die Spiegel-Leser, die doch bekanntlich "mehr wissen" schon zu Ende. Kein Wort dazu, warum Otte von einer Plutokratie spricht. Kein Wort dazu, warum Otte die gegenwärtige Situation für so bedenklich hält, dass er seine Stimme nicht abgeben möchte. Stattdessen greift der Spiegel zum allseits beliebten Instrument der Diffamierung, das gerne dann Anwendung findet, wenn man sich nicht mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzen möchte.
Die Hochmütigen halten sich für die bessere Demokraten, besser jedenfalls, als die Parteien und ihr ach so mediokres Personal.
Der Spiegel
Für den Spiegel sind gebildete Menschen wie Otte, die sich nicht zur eher ungebildeten Unterschicht zählen lassen, offensichtlich ein echtes Ärgernis.
Man muss sich auch diesen Abschnitt auf der Zunge zergehen lassen:
Während den Nichtwählern aus unteren Gesellschaftsschichten auch die Bildung fehlt, die immer komplexeren Zusammenhänge der Politik zu verstehen, missbrauchen die neuen Nichtwähler ihre Bildung, um sich über das politische System zu erheben.
Der Spiegel
Gerade der letzte Teil der Einlassung bewegt sich auf dem qualitativen Niveau einer "Du-bist-doof-Aussage". Was will man schon sagen, wenn einer sagt: "Du bist doof!" Wie kann man nun, wenn man sachlich vorgehen möchte, sich auf eine Diskussion mit dieser Spiegel-Aussage einlassen?
Nichtwähler missbrauchen also ihre politische Bildung, um sich über das System zu erheben, meint der Spiegel. Wenn das Nachrichtenmagazin nun wenigstens noch Argumente dafür liefern würde, warum es zu dieser Aussage kommt, dann ließe sich eine Diskussion führen. Aber nichts. Leere. Im nächsten Satz lässt man dann Moritz Bleibtreu zu Wort kommen.
Kaum fassbar auch der erste Teil des angeführten Zitats aus dem Spiegel. Nichtwählern aus den unteren Gesellschaftsschichten fehlt also die notwendige Bildung, um die "immer komplexeren Zusammenhänge der Politik zu verstehen"?
Mit welcher unglaublichen Arroganz hier der Spiegel im Prinzip einer großen Gruppe von Menschen, ja von Staatsbürgern, ihre politische Mündigkeit aufgrund einer offensichtlich nicht standesgemäßen Bildung, wie sie der Spiegel für notwendig hält, abspricht, sucht seines Gleichen. Als ob auch ein Ungebildeter nicht den Verstand hat, zwischen Wahlversprechen und Bruch des Wahlversprechens, zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden und daran auch seine Stimmabgabe ausrichtet.
Je mehr man sich mit der "Argumentation" und dem politischen Verständnis der Wahleuphoriker auseinandersetzt, umso deutlicher wird, dass die Stimmen der scheinbaren Vernunft erschreckend substanzlos sind.
Man beachte den folgenden Abschnitt aus der Spiegel-Geschichte:
Anders, als sie sich vorgaukeln, beschleunigen Nichtwähler keineswegs den ersehnten Wandel, sie stabilisieren nur die Macht jener, die über die sie klagen. Sie machen die Parteien sogar größer, als sie tatsächlich sind. Wer zuhause bleibt, weil er Angela Merkel nicht mehr sehen kann, begünstigt in Wahrheit ihre dritte Amtszeit.
Der Spiegel
Wenn es nur so einfach wäre. Zwar ist die Aussage nicht falsch, dass, wer Merkel nicht mehr sehen kann und deshalb "zuhause bleibt", höchstwahrscheinlich Merkels "dritte Amtszeit" begünstigt, doch findet in den Zeilen eine Komplexitätsreduktion statt, die einmal mehr zeigt, dass die Wahlmissionare offensichtlich den Kern des Problems nicht im Ansatz verstehen.
Aber: Dass der Spiegel die Ansichten und Meinungen der Nichtwähler hier auf ein bloßes Sympathieproblem reduziert, das diese gegenüber der Kanzlerin (oder eines anderen potenziellen Kandidaten) haben, verniedlicht die Verhältnisse auf ein geradezu lächerliches Maß.
Das demokratische System wurde längst so eingestellt, dass es nahezu nur noch eine Negativauslese hervorbringen kann
Was soll ein Wähler machen, der weder CDU, SPD noch die anderen Parteien für wählbar hält?
Eine einfache Antwort lautet: Sich für das kleinere Übel entscheiden. Wie man diesen Ratschlag angesichts einer Staatsverschuldung von über 2.000 Milliarden Euro, an der alle zentralen Parteien der vergangenen Jahrzehnte maßgeblich beteiligt waren, geben kann, ist nicht nachzuvollziehen.
Klar ist: Über die Möglichkeit zur Stimmabgabe zu verfügen bedeutet, auch eine enorme Verantwortung zu haben. Wer seine Stimme abgibt, unabhängig davon, welche Partei er wählt, muss bedenken, dass er letztlich das System legitimiert, in dem sich jene Parteien bewegen, die in den vergangenen Jahrzehnten den demokratischen Gedanken zum Teil mit Füßen getreten haben. Soldaten, die mit "demokratischer Legitimierung", im Auftrag des Parlaments in fremde Länder entsandt werden, dort töten und getötet werden, Chemikalienlieferungen an diktatorische Regime, mit denen dann Giftgas produziert und Menschen massenhaft getötet werden können, Jugendarbeitslosigkeiten von über 50 Prozent inmitten des "vereinten Europas" - die Liste dessen ist lang, was direkt oder indirekt auf das Konto "der Politik" geht.
Die Stimmabgabe bei der Wahl ergibt dann Sinn, wenn Wahlen nicht nur die bestehenden Verhältnisse reproduzieren und wenn Parteien zur Verfügung stehen, die die vorherrschenden Verhältnisse tatsächlich zu einem besseren verändern können.
Doch, solch eine Partei gibt es nicht. Aber die Situation ist noch schlimmer. Nicht nur, dass es derzeit keine Partei gibt, die tatsächlich mit ruhigem Gewissen gewählt werden kann: Voraussichtlich wird es eine solche Partei unter den gegebenen Umständen nie geben. Die Parteiendemokratie ist kein Hort des Friedens, kein Ort, an dem hohe moralische Ansprüche oder Tugendhaftigkeit die Währung sind. In der Parteiendemokratie herrscht ein erbitterter Kampf um die Wählerstimmen, also um die politische Macht.
Nehmen wir die Grünen: Die Grünen haben es als neue Partei, geschafft, sich innerhalb des Parteiensystems zu etablieren. Als die Grünen in den 1980er Jahren antraten, waren sie zunächst eine "Alternative". Was aus einer alternativen Partei wird, die sich den Weg bis zur Spitze der Macht über Jahrzehnte in den Mühlrädern des politischen Systems erkauft hat, muss nicht wirklich thematisiert werden. Die Teilnahme von deutschen Soldaten an "Stabilisierungseinsätzen" wird längst selbstverständlich unterstützt und auch auf den wenig demokratischen Bilderberg begibt man sich gerne, so man denn eine Einladung erhält.
Die Linke, die sich aus PDS und WASG geformt hat, ist die zweite Partei, die sich als "Alternativpartei" mittlerweile relativ fest im Parteiensystem etabliert hat. Sollte sie einmal den Weg bis zur Regierungsverantwortung auf Bundesebene schaffen, wird es ihr kaum anders ergehen. Ist es wirklich nötig, auch noch ein Wort zu den Piraten oder der Alternative für Deutschland (AfD) zu verlieren?
Die Verweigerung der Wahl ist in demokratischen Systemen eine Art Notsignal
Was ist nun mit den 30 Prozent Nichtwählern? Liegt es nicht an ihnen, die Verhältnisse zu ändern? Wenn alle 30 Prozent der Nichtwähler gemeinsam eine Alternativpartei wählen würden, dann gäbe es natürlich eine zusätzlich starke Stimme innerhalb der Parteiendemokratie. Doch diejenigen, die nicht wählen gehen, sind keine homogene Masse. Unterschiedliche Motive, Hintergründe, Ansichten und Meinungen zeichnen sie genauso wie die Gruppe der Wähler aus.
Unter den gegebenen Voraussetzungen würde auch ihre Teilnahme nur zu einer Festigung des politischen Status quo führen.
Ist also Nichtwählen vielleicht die einzig echte Alternative derzeit? Welche Konsequenzen hat es, wenn über 30 Prozent der Bürger eines Landes, nicht zu Wahl gehen? Die Fragen zu beantworten ist nicht einfach. Sie können an dieser Stelle auch nur oberflächlich behandelt werden.
Die Verweigerung der Wahl ist in demokratischen Systemen eine Art Notsignal. Nichtwählen ist die letzte Möglichkeit, die bleibt, um unmissverständlich klar zu machen, dass das Schiff Leck geschlagen und schwere Schlagseite hat. Rettung ist dringend notwendig.
Das Nichtwählen hat konkrete Auswirkungen auf Wahlergebnisse. Stimmen, die die eine oder andere Partei unbedingt haben möchte, können ihr fehlen. Somit ist die Enthaltung der Stimme eine klare Ansage an die Parteien, die um ihre Stimme werben. Je größer die Summe der Nichtwähler, desto fragiler wird das bestehende System. Parteien regieren dann mit Mehrheiten, die durch eine kleine Gruppe von Wählern erzeugt worden sind.
Konsequent zu Ende gedacht, stünde am Ende eine Art Dolchstoß, das System würde zusammenbrechen. Wenn eine große Zahl der Bürger nicht mehr zur Wahl geht, kann nur noch eine solche Stimmung vorherrschen, dass es zu einer Revolution kommt. Das wäre das schlimmstmögliche Szenario.
Und weiter gedacht: Die Geschichte zeigt, dass auch nach Revolutionen, nach Umstürzen, selbst wenn durch sie schon viel erreicht wurde, die alten Mechanismen von Herrschaft und Beherrschtheit, von Lügen, Gier und kalter Macht sich ihren Weg bahnen. Auf die ein oder andere Weise.
Am Ende dieser Auseinandersetzung kann daher nur die Erkenntnis stehen: Das schwächste Glied in der Kette eines gerechten, eines anständigen Systems, oder wie auch immer man es nennen will, ist der Mensch. Ihn im Griff zu halten ist schwer. Auch das hat die Geschichte bewiesen. Die westlichen Demokratien mit all ihren Institutionen und Sicherungsmechanismen zeigen, dass sie als Staatsysteme viele Vorzüge gegenüber anderen Systemen haben. Die Demokratien, so wie sie derzeit in der Praxis vorkommen, sind, von einzelnen Schwachstellen abgesehen, im Prinzip gute Konstruktionen. Aber sie zerbröseln immer weiter durch den Druck, den diejenigen Akteure auf sie ausüben, die sich als Demokraten tarnen, aber in Wirklichkeit eine knallharte Machtpolitik auf ihrer Agenda haben, die mit der Orientierung am demokratischen Gemeinwohl, nichts mehr zu tun hat.
Dem demokratischen System, so wie wir es kennen, steht eine Art Schattensystem gegenüber, aus dem unzählige Angriffe und Übernahmeversuche stattfinden. Längst merken viele Bürger, dass ihre Demokratie sich verändert hat.
Auch am Sonntag, wenn Bundestagswahlen sind, wird es wieder Bürger geben, die keine andere Möglichkeit mehr sehen, als ihre Stimme nicht abzugeben. Sie senden ein Notsignal aus, das alles andere als einen anti-demokratischen Hintergrund hat. Im Gegenteil, es ist vielmehr ein längst unübersehbar gewordener Hilferuf zur Errettung der Demokratie.
Längst merken viele Bürger, dass ihre Demokratie sich verändert hat und entwickeln ihre eigenen kreativen Modelle , um ihren Unmut auszudrücken, indem sie etwa zum Ungültigwählen aufrufen oder eine Nein-Partei gegründet haben. Auch die Satirepartei Die Partei ist hier zu nennen.