Appetitprogramm im Hirn

Steht schon kurz nach der Geburt fest, wie viel Hunger man als Erwachsener entwickeln wird?

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Zwei unabhängige Gruppen von Wissenschaftlern stellen überraschende neue Erkenntnisse über Leptin vor, jenes 1994 entdeckte, vom Fettgewebe gebildete Proteohormon.

Die Ergebnisse könnten den Wissenschaftlern neue Erkenntnisse bringen, wie und wann Leptin seinen Einfluss auf das Körpergewicht bestimmt. Beide Gruppen untersuchen Labormäuse und entdecken, wie Leptin die Nervenbahnen im Gehirn beeinflusst. Wichtig ist hierbei der Nucleus arcuatus des Hypothalamus (ARH), welcher über zahlreiche Rezeptoren für Leptin verfügt

Sebastian Bouret und Kollegen vom Oregon National Primate Research Center berichten in Science, dass Leptin seinen Effekt sehr viel früher entfaltet als bisher vermutet. Bereits kurz nach der Geburt sorgt Leptin für die Bildung von Nervenleitungen im ARH. Dabei handelt es sich um dieselben Wege, die das Hormon später benutzt, um die Nahrungsaufnahme und die Energienbilanz einzuregeln. Mit anderen Worten: Leptinmangel induziert die Adipositas im Kindesalter - Schon in der frühen Kindheit soll das Hormon darüber entscheiden, wie viel Appetit man als Erwachsener haben wird.

Leptin fördert das Wachstum im Nucleus arcuatus des Hypothalamus (ARH) (Bilder: Science)

Shirly Pinto und Kollegen vom Howard Hughes Medical Institute der Rockefeller University in New York fanden heraus, dass fettsüchtige Mäuse, die einen Leptinmangel aufweisen, sich von normalen Mäusen anhand von Zahl und Typ der Verbindungen im ARH unterscheiden.

Der Nucleus arcuatus des Hypothalamus (ARH) gilt als eines der führenden Zentren für Leptin. Die eine Gruppe erzeugt die appetit-stimulierenden ("orexigenic") Neuropeptide, nämlich Neuropeptid Y (NPY) und aguoti-related Protein (AgPR). Die zweite Gruppe bildet die appetit-unterdückenden Neuropeptide, nämlich POMC (proopio-Melanocortin) und CART (Kokain- und Ampetamin-reguliertes Peptid). Beide Nervenzellen produzieren Leptinrezeptoren und regulieren Leptin in gegensätzlicher Weise.

Die exzitatorischen (rot) und inhibitorischen (blau) Einflüsse, die auf die NPY und AgPR (gelb) und POMC (grün) Synapsen einwirken (normale und fettsüchtige Mäuse)

So aktiviert Leptin die POMC/CART Nerven direkt, und blockt die Aktivität der NPY/AgRP Nervenzellen. NPY/AgRP Neuronen produzieren wiederum den inhibitorischen Neurotransmitter GABA (Gammaaminobuttersäure), und senden damit kollaterale Boten zu den POMC/CART Nervenzellen, die diese Zellen hemmen. Shirly Pinto und Kollegen berichten nun, dass die leptinarmen Mäuse den exzitatorischen Input auf die orexigenischen NPY/AgRP Nervenzellen ausführen und zugleich die anorexigenischen POMC/CART Neuronen blockieren. Damit führt ein Mangel an Leptin zu einer zunehmenden Aktivierung der NPY/AgRP Neuronen und zur Abnahme der POMC-Neuronen. Leptinzufuhr reduziert diesen Effekt bei den leptinarmen Mäusen sowohl elektrophysiologisch wie auch auf der ultrastrukturellen Ebene. Diese Untersuchungen lassen vermuten, dass nicht nur die Nervenzellenaktivität und die Ausschüttung der Neuropeptide verbessert wird, sondern auch die neuronale Plastizität in den hyopthalamischen Nervenzellen, womit die körpereigene Einstellung des Körpergewichts funktioniert.

Joel Elmquist und Jeffrey Flier von der Harvard Medical School in Boston sehen in ihrer Bewertung einen Bezug zu den Lernvorgängen im Hippocampus. Sie vermuten, dass eine "hypothalamische Memoriefunktion" und damit die Einregulierung des Körpergewichtes erfolgt.

Dennoch sind solche Vermutungen noch Spekulation. So ist die Frage ungeklärt, wie frühere Untersuchungen den Leptimangel mit einer stärkeren Beeinflussung des ZNS vereinbaren (Ashima, Prabakaran und Flier, Endokrinology 1999), während Bouret und Kollegen den Einfluss auf ein postnatales Zeitfenster festlegen. Auch Pinto und Kollegen stimulieren den Leptinersatz davon unabhängig.

Die Pinto-Studie unterstreicht zudem die Freisetzung von GABA und Glutamat, den überwiegenden Mediatoren des metabolischen Signals im Gehirn. Damit könnten diese Ergebnisse analog zum Stress betrachtet werden, da die Achse aus Hypothalamus, Zirbeldrüse und Nebennierenrinde als Langzeiteffekt wirkt (Meaney, Annu.Rev.Neurosci. 2001) und damit mehr Bedeutung erhält als auf den ersten Blick erkennbar ist.

Nach dem heutigen Stand der Erkenntnis sind Leptin und Ghrelin, ein Hormon der Bauchspeicheldrüse, die bedeutenden zirkulierenden Peptide, welche die Nahrungsaufnahme steuern. Leptin ist bei Übergewichtigen im hohen Maße vorhanden und sollte damit die Nahrungsaufnahme bremsen, während Ghrelin dagegen deutlich supprimiert ist. Demnach müssten sich die Übergewichtigen jenseits einer fiktiven Grenze so ernähren, dass sie ihr Übergewicht wieder abbauen. Das ist keineswegs der Fall: sie überfüttern sich und nehmen beständig an Gewicht zu. Liegt deshalb ein Rezeptor- oder Postrezeptordefekt vor? Der Ansatzpunkt hierfür könnte in der Steuerung im Hypothalamus liegen.