Argentinien im Umbruch
Welche historische Bedeutung haben die Proteste in Argentinien und welche politischen Kräfte spielen darin eine Rolle? Ein Einblick in die Konzepte oppositioneller Gruppen und die Stimmung unter den DemonstrantInnen
"Was sind Menschen eigentlich?" Fragte der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano vor kurzem in einem Essay. Und er antwortete: "Für die Wirtschaftswissenschaftler sind sie Zahlen, für die Banker: Schuldner, für die Technokraten: Ärgernisse, und für die Politiker: Wählerstimmen." Kaum jemand dürfte das derzeit in solcher Deutlichkeit erfahren wie die Bevölkerung des krisengeschüttelten Argentinien. Auf den Massendemonstrationen, die das Land seit Wochen erlebt, verzichten sie auf politische Reden - denn diese sind per se diskreditiert. Die Argentinier drücken ihren Unmut bekanntlich statt dessen mit Lärm aus: durch Klappern mit leeren Kochtöpfen.
Trotz dieser Sprachlosigkeit sind diese cacerolazos, die Kochtopf-Märsche , für Galeano Ausdruck einer neuen demokratischen Energie. Und in der Tat: Die Menschen geben sich nicht mehr damit zufrieden, alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen. Der Gewählte, so empfinden sie, tut ohnehin das Gegenteil dessen, was er im Wahlkampf versprochen hatte. So regnete es schon bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr leere und ungültige Stimmen in bislang ungekanntem Ausmaß. Die realexistierende repräsentative Demokratie ist in Argentinien in Misskredit geraten. Und alle großen Parteien mit ihr.
So ungewiß der Ausgang der jetzigen Krise auch sein mag, es liegt in diesem Punkt auch etwas Positives. Denn seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hatten fortschrittliche Kräfte in dem südamerikanischen Land all ihre Ressourcen und Hoffnungen immer in ein- und dasselbe politische Projekt investiert: Den Peronismus. Dieser scheint seine historische Attraktivität jetzt endgültig verspielt zu haben.
Perón, der von 1946 bis 1955 argentinischer Präsident war, erließ damals eine Reihe sozialpolitischer Gesetze, mit denen er sich eine Massenbasis in der Arbeiterschaft sicherte. Er förderte einerseits die Gewerkschaften, praktizierte eine Politik der Umverteilung von Reichtümern und verstaatlichte einige Unternehmen. Andererseits band er die Gewerkschaften aber in ein von oben gesteuertes, korporatives System ein und säuberte sie auf höchst repressive Art von allen sozialistischen, anarchistischen und kommunistischen Einflüssen. Da Argentinien ökonomisch vom fernab ausgetragenen Zweiten Weltkrieg stark profitiert hatte, funktionierte das peronistische Umverteilungsmodell in jener Zeit, ohne der Oberschicht allzu große Konzessionen abzuverlangen. Als dann die wirtschaftliche Lage in den 50er Jahren schwieriger wurde und Perón zu Steuererhöhungen zwang, war der peronistische Traum schnell zu Ende und der Oberst mußte ins Exil. Was weiterlebte, war die Legende, Perón und seine erste Frau Evita hätten die Interessen der Armen vertreten. Auf Grund dieser populistischen Mischung von Sozialpolitik und Autoritarismus wurde Perón zu Lebzeiten sowohl von der linken peronistischen Jugend als auch von stramm rechten Gewerkschaftsfunktionären zum Hoffnungsträger stilisiert.
Doch als er dann 1973 aus dem Exil zurückkehrte, begannen schon wenige Monate später die ersten politischen Morde in den Reihen der Juventud Peronista und der peronistischen Guerilla Montoneros. Letztlich verfolgte Perón dieselbe Politik wie in den 40er Jahren: Einen paternalistischen Regierungsstil, bei gleichzeitiger Liquidierung aller linksradikalen Strömungen. Nur dass in den siebziger Jahren eine ganz neue Generation junger Aktivisten an dem Glauben zerbrach, ausgerechnet Perón würde im brodelnden Argentinien den revolutionären Umsturz anführen. Perón selbst starb wenig später am 1. Juli 1974, und seine zweite Frau Isabel führte mit einem reaktionären Beraterstab den schmutzigen Krieg gegen die linksgerichtete peronistische Jugend fort, bis 1976 die Militärs die Macht übernahmen. Das Ergebnis waren 30 000 Verschwundene und Ermordete und unzählige Gefolterte.
Trotz dieses für das Land sehr folgenreichen Comebacks wurde Perón bis in die Gegenwart immer noch mythisch verehrt. Wegen seines frühzeitigen Todes wurde er von der Verantwortung für die blutige Repression der 70er Jahre freigesprochen. So kam auch noch in den 90er Jahren Carlos Menem, der Präsident der Korruption und der Skandale, über das Ticket des Peronismus an die Macht. Und er wurde von peronistischen Gewerkschaften dabei unterstützt, die neoliberale Strukturanpassung möglichst reibungslos umzusetzen, die geradewegs in die jetzige Krise geführt hat - auch wenn diese Strukturanpassung der keynesianistischen Politik des alten Perón diametral widersprach. Josefina Juste von der Menschenrechtsorganisation Mütter der Plaza de Mayo kommentiert die Rolle der peronistischen Gewerkschaften in der Amtszeit Carlos Menems so:
"Die beiden Gewerkschaftsdachverbände waren Komplizen der politischen Machenschaften. Heute wohnen die Gewerkschaftsführer in riesigen Palästen und haben überall Bankkonten. Sie haben das Land ausgeliefert. Denn als die Staatsunternehmen privatisiert wurden, haben die Gewerkschaften, anstatt die Proteste anzuführen, die Arbeiter zurückgehalten, die bei ihnen organisiert waren. Es ist beschämend, denn dafür haben sie auch noch Schmiergelder genommen. Die Privatisierungen wurden zwar vom Staat durchgeführt, aber die Vertreter der Arbeiter haben zugestimmt und ihnen dadurch Legitimität verliehen."
Der einzige Gewerkschaftsdachverband, der noch nicht diskreditiert ist, ist die oppositionelle CTA. Ihr Generalsekretär Edgardo Petri betont, daß Argentinien, früher einmal das reichste Land Südamerikas, auch heute keineswegs arm ist:
"Wirtschaftsfachleute sagen, dass das durchschnittliche Jahres-Pro-Kopf-Einkommen in Argentinien 8400 Dollar beträgt. Es wird also im Grunde von allen gemeinsam genug Reichtum erwirtschaftet. Das Problem ist die ungerechte Verteilung dieses Reichtums. Wir treten dafür ein, die drängendsten Probleme zuerst anzugehen: d.h. Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung. Wir wollen eine Arbeitslosenversicherung einführen, ein allgemeines Kindergeld und eine Mindesrente für alle Personen im Rentenalter, die über keinerlei Einkommen verfügen. Das würde zu einer drastischen Umverteilung der nationalen Reichtümer führen, die selbstverständlich vom Staat durch eine neue Steuerpolitik finanziert werden müsste, in der er die reichsten Sektoren zur Kasse bittet. Das würde gleichzeitig auch eine tiefgreifende Demokratisierung des politischen Systems mit sich bringen. Die politische Krise, die Argentinien erlebt, wird sich nicht mehr auf irgendwelchen Treffen von vier bis fünf Anführern oder allein in Parlamentsdebatten lösen lassen. Man muss die Allgemeinheit miteinbeziehen, man muß einen Konsens erzielen, der die Bevölkerung einschließt."
Das sehen die Bürger von Buenos Aires genauso, weshalb sie sich längst basisdemokratisch organisiert haben und mit neuen Mitbestimmungsmodellen experimentieren. Jeder Stadtteil von Buenos Aires hält eine wöchentliche Versammlung ab, wo neue Protestaktionen und Forderungen besprochen werden. Sonntags werden alle Beschlüsse in einem Stadtpark zusammengetragen, im Internet werden Debatten weitergeführt und ihre Ergebnisse sowie die Termine der nächsten Versammlungen und Protestaktionen veröffentlicht.
Die Vorschläge und Diskussionsbeiträge auf diesen Versammlungen sind sehr variabel - jede und jeder kann sich zu Wort melden. Eine etwa zwanzigjährige Frau, die sich als Bebi vorstellt, sagt beispielsweise auf einer dieser Versammlungen im Hauptstadtviertel La Paternal:
"Für mich zählen auch die Supermärkte zu unseren Feinden. Sie schaffen ihre gesamten Gewinne außer landes, und beuten Kids wie mich extrem aus, indem sie miserable Arbeitsbedingungen bieten. Das weiß jeder, der einen Freund oder Sohn hat, der im Supermarkt arbeitet. Außerdem treiben sie die ganzen umliegenden kleinen Geschäfte in den Bankrott. Deswegen möchte ich vorschlagen, auch um den Beschluß der zentralen Versammlung letzten Sonntag umzusetzen, daß mehr gegen Supermärkte und Banken gemacht werden soll, daß wir eine Aktion gegen den Supermarkt hier in San Martin Coto machen. Wir könnten zum Beispiel fordern, daß große Lebensmittelpakete gratis an die Bedürftigsten Leute des Viertels ausgeteilt werden, die wirklich hungern müssen, für die Leute von der stillgelegten Milchfabrik zum Beispiel oder für andere Arbeitslose."
Das wachsende Heer der Arbeitslosen spielt seit einiger Zeit auch in der argentinischen Politik eine zunehmend wichtige Rolle. Der radikalste Teil hat sich Arbeitslosenbewegung der piqueteros organisiert, die schon lange vor der Krise vom vergangenen Dezember gegen die Folgen der neoliberalen Globalisierung auf die Straße ging. Luis D'Elia, ein Sprecher der piqueteros, plädiert für einen Perspektivwechsel in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte:
"Abwertung oder Dollarisierung, das sind die Debatten der Reichen, des Establishment. Die Bevölkerung fordert, den Schuldendienst einzustellen und die Reichtümer durch eine Steuerreform umzuverteilen. Das würde bedeuten, den Subventionen für Konzerne ein Ende zu setzen, und auch der Kapitalflucht, wie sie von dieser Mafiabande in der City von Buenos Aires in großem Stil betrieben wird: Die Kapitalflucht beläuft sich in Argentinien auf 30 Milliarden Dollar im Jahr."
So ist vielleicht das interessanteste an der aktuellen Situation in Argentinien, daß die politische Kultur des Landes sich im Umbruch befindet. Während der Peronismus endgültig als ein Projekt der Herrschenden erkennbar wird und altlinke Splittergruppen wie die zahlreichen trotzkistischen Gruppen nach wie vor wenig Attraktivität ausstrahlen, vermischen sich an der Basis neue experimentelle Organisationsansätze der verarmenden Mittelschicht mit Ansätzen wie dem der Arbeitslosenbewegung, die militanter sind und mehr analytischen Weitblick haben. Das Ergebnis ist eine recht explosive Mischung, in der auch die Jugend endlich wieder eine große Rolle spielt. Für den 23jährigen Studenten Daniel beispielsweise sind die Stadtteilversammlungen etwas ganz Besonderes:
"Es ist eine sehr spezielle Atmosphäre, weil die ganzen Nachbarn zusammenkommen, egal zu welcher Partei sie gehören. Das einzige was zählt ist, daß Du hier wohnst. Da tut sich ein Feld für Befreiung auf, an dem alle mitwirken. Bis jetzt steckt der Prozess noch in den Anfängen, aber es könnte dazu kommen, daß die ganze Bevölkerung sich so organisiert. Hier wird auch nicht nach Klassen unterschieden. Es gibt nicht eine Versammlung für die Mittelschicht und eine andere für die Unterschicht. Es ist der erste Schritt zur Schaffung von Machtinstanzen, in denen wirklich die Bevölkerung das Sagen hat. Weil wenn die Leute sich über die Situation in ihrem Land nicht bewußt sind, und wenn sie keine eigenen Vorschläge haben, können sie auch nicht regieren. Dann werden sie die Macht immer delegieren müssen und eben die Kröten schlucken, die damit verbunden sind - bis sie dann selbst auf die Beine kommen. Deswegen ist es für uns so wichtig, daß die Leute selber ihre Entscheidung treffen."
Bisher ist offen, in welche Richtung sich die Lage entwickeln wird. Fest steht bisher nur, daß das Land auch unter Eduardo Duhalde nicht zur Ruhe kommt. Die Protestbewegung zwingt den Peronisten Duhalde, der die Staatsgeschäfte derzeit mehr wie ein Platzhalter lenkt, vielmehr zu einer Politik, die den Ausgleich zwischen den Interessen der internationalen Gläubiger und denen der argentinischen Bevölkerung sucht. Da es diesen Ausgleich nicht geben kann, hängt alles weitere nun von der Mobilisierungsfähigkeit und dem Durchhaltevermögen der Protestbewegung ab. Sie könnte zumindest künftige Privatisierungen oder andere neoliberale Maßnahmen durch massenhaften Widerstand vereiteln, und damit ein Stück direkte Demokratie zurückerobern. Für den 53jährigen Oscar Ramírez gibt genau das Anlaß zur Hoffnung:
"Auf jeden Fall erleben wir einen grundsätzlichen Umbruch. Ich bin zwar kein Hellseher und kann deswegen nicht sagen, was daraus hervorgehen wird. Aber irgendetwas wird daraus entstehen, und zwar etwas Gutes. Das hat es in Argentinien noch nie gegeben, daß die Leute so zusammenkommen, um Ideen auszutauschen und sogar gemeinsam Sachen zu planen, oder um konkrete Forderungen an Parlament und Regierung zu stellen. Denn hier geht es immer um Konkretes, ob es nun die eingefrorenen Bankkonten sind oder das korrupte Justizsystem."