Arme Kinder in reichen Ländern
Nach der neuesten UNICEF-Studie ist die Kinderarmut in 17 von 24 OECD-Staaten gestiegen - im Westen Deutschlands hat sie sich während der letzten 15 Jahre mehr als verdoppelt
Dass die reichen Industrienationen mit wirtschaftlichen Problemen und sozialen Spannungen zu kämpfen haben, liegt in der Natur der kapitalistischen Sache. Wenn solche Schwierigkeiten befristet auftreten, können sie in aller Regel überwunden werden und mitunter sogar in eine neue, gesamtgesellschaftliche Dynamik münden. Bei Langzeitkrisen sieht die Situation anders aus. Wenn immer weniger Menschen am Spielbetrieb der westlichen Welt teilnehmen, entwickeln sich Klassen- und Parallelgesellschaften, die auf Dauer durchaus in der Lage sind, das Gesamtsystem aus der Balance zu bringen.
Viele OECD-Länder sind ganz offenbar schon länger damit beschäftigt, sich in diese Richtung zu bewegen. Darauf deuten nicht nur die hohen Staatsdefizite und Arbeitslosenquoten, Wirtschaftskrisen und Ausbildungsnotstände, sondern auch die bedrohlichen sozialen Verwerfungen hin, die sich an einer Vielzahl von Beispielen beschreiben ließen.
Ein besonders deutliches Beispiel zeigt die internationale Vergleichsstudie Child Poverty in Rich Countries 2005, die am Dienstag von UNICEF vorgestellt wurde. Demnach wachsen in den 24 OECD-Staaten mehr als 45 Millionen Kinder in Familien auf, die mit weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens leben müssen. Der Grenzwert beträgt OECD-weit pro Person und Jahr derzeit 8.700 Euro.
In Deutschland ist jedes zehnte Kind von Armut betroffen, insgesamt geht es um 1,5 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren. Deutschland liegt damit im Mittelfeld, etwa gleich weit entfernt von den OECD-Besten Dänemark und Finnland, in denen die Quote unter 3 Prozent gehalten werden konnte, und den USA, wo sie bei über 20 Prozent liegt, während Mexiko sogar einen Wert von 27,7 Prozent in die Statistik einbringt.
Hierzulande sind die Kinder von Zuwandererfamilien und Alleinerziehenden besonders häufig von Armut betroffen. "Ab Mitte der 90er Jahre zeigt sich da ein ganz deutlicher Trend, der mit der Zuwanderung aus Osteuropa zusammenhängt", erklärt Helga Kuhn, UNICEF-Sprecherin Deutschland, auf Nachfrage von Telepolis. "Den höchsten Wert haben wir bei Kindern von Alleinerziehenden festgestellt. 40 Prozent von ihnen leben in relativer Armut."
Mindestens so beunruhigend wie diese aktuellen Zahlen ist die Langzeitstatistik, die keinen Zweifel daran lässt, dass Deutschland in den letzten 15 Jahren deutlich an Boden verloren hat. Seit 1990 ist die Kinderarmut mit 2,7 Prozent deutlicher gestiegen als in den meisten anderen OECD-Staaten, in Westdeutschland hat sie sich von 4,5 (1989) auf 9,8 Prozent mehr als verdoppelt, und in Ostdeutschland lag sie 2001 bei 12,6 Prozent.
Die Studie enthüllt - wie kaum anders zu erwarten war - einen engen Zusammenhang zwischen der Höhe der Sozialausgaben und der Höhe der Kinderarmut. In Ländern, die weniger als fünf Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Sozialleistungen aufwenden, lassen sich schnell 15 und mehr Prozent Kinderarmut registrieren. Dass die skandinavischen Staaten Dänemark, Schweden und Finnland dagegen auf unter zehn Prozent kommen, hängt auch damit zusammen, dass sie in diesem Bereich über zehn Prozent ihres Bruttosozialprodukts investieren. Allerdings nicht nur, meint Helga Kuhn, denn Armut bedeute auch soziale Ausgrenzung und schlechtere Bildungschancen. Gerade hier gelte es, bessere Voraussetzungen zu schaffen:
Neue Elternfreibeträge und auch alle anderen sozialpolitischen Maßnahmen sind durchaus begrüßenswert, doch der Ausbildung kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Gut ausgebildete Kinder haben bessere Berufschancen und damit zumindest die Möglichkeit, sich selbst aus der Armut zu befreien.
Helga Kuhn
Für Kuhn ist das derzeitige Dilemma das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung, die nicht von heute auf morgen umgekehrt werden kann. Deshalb seien perspektivische Ideen und Maßnahmen erforderlich. Die politischen Entscheidungsträger in Bund, Ländern und Kommunen bestreiten diese Feststellung nicht grundlegend, verweisen aber immer wieder auf ihre prekäre finanzielle Situation. Und streiten sich wie gewöhnlich über die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten.
Familienministerin Renate Schmidt ließ am Tag, bevor Kollegin Ulla Schmidt ihren eigenen, im Tenor etwas freundlicheren Armuts- und Reichtumsbericht im Kabinett vorstellte, eine entsprechende Pressemeldung mit dem programmatischen Satz beginnen: "Gemessen an der Existenz gefährdenden Armut, wie sie etwa in Ländern der Dritten Welt herrscht, ist in Deutschland niemand arm." Um nach vielerlei Zugeständnissen, Dementis und Erörterungen aller Art schließlich zu der Erkenntnis zu gelangen:
Die unzureichende Förderung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern kann durch mehr staatliches Geld nicht beseitigt werden. Familien, die oft schon seit Generationen in Armut leben, brauchen besondere Maßnahmen, um die Kreisläufe "vererbter" Armut zu durchbrechen. Schuldnerberatung und Beratung für Haushaltsführung zum Beispiel spielen hier eine wichtige Rolle. Auch Länder und Kommunen, die für solche Angebote zuständig sind, müssen ihren Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten.
Gut möglich, dass Renate Schmidt ihr erklärtes Ziel, Deutschland zum "familienfreundlichsten Land Europas" zu machen, mit dieser Einstellung verfehlen wird. Immerhin ist nach dem aktuellen Bericht Lebenslagen in Deutschland das Armutsrisiko, also der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben (938 Euro), zwischen 1998 und 2003 von 12,1 auf 13, 5% gestiegen.
Gleichzeitig haben sich die Vermögenswerte konsequent vermehrt und beachtliche fünf Billionen Euro erreicht. Allerdings entfielen auf die vermögensstärksten 10 Prozent der deutschen Haushalte 47 Prozent dieses Vermögens, während die Hälfte aller Haushalte über weniger als 4 Prozent verfügt. Die Schere geht weiter auf. Problematisch ist auch, dass nicht nur Alleinerziehende und Arbeitslose, sondern auch jüngere Menschen eher von Armut betroffen sind. Oft ist die Einkommensarmut aber offenbar nur vorübergehend. Nach zwei Jahren haben angeblich zwei Drittel wieder die Armut hinter sich gelassen.
Für den "Ausstieg" aus der Armut spielt das Erwerbseinkommen eine maßgebliche Rolle. Gleichwohl macht die Gruppe derjenigen, die zwischen 1998 und 2003 (fast) durchgehend dem Risiko der relativen Einkommensarmut ausgesetzt waren, 7% der Bevölkerung aus. In diesem Bereich können "Armutskarrieren" entstehen, die auch auf die nachfolgenden Generationen übergreifen.
Aus dem Bericht
Renate Schmidt ist insofern zuzustimmen, als die Belastbarkeit des modernen Sozialstaates tatsächlich nicht allein unter finanziellen Aspekten diskutiert werden darf. Aber auf die politischen, gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen oder psychologischen Folgen, die sich aus der wirtschaftlichen Schieflage ergeben, gibt es bis jetzt leider erst recht keine überzeugenden Antworten.