Atom-Champion Finnland – Anlass zu Neid?
Während in Deutschland die letzten AKW heruntergefahren werden, setzt das Land immer noch auf Kernkraft. Es blickt aber auf eine Pannenserie zurück. Potenziale für Erneuerbare wurden nicht genutzt.
So mancher mag in diesen Tagen neidisch nach Finnland sehen, wenn in Deutschland nun die letzten Atomkraftwerke heruntergefahren werden. Denn das Land ist nicht nur zum sechsten Mal das "glücklichste" der Welt, es hat auch ein nagelneues Atomkraftwerk, das demnächst regulär ans Netz geht, und ein Endlager gibt es auch schon. Doch hinter dieser Momentaufnahme des aktuellen "Atom-Primus" liegen eine Reihe von Pannen, die zeigen, dass Atomkraft weder eine schnelle noch eine billige Energiequelle ist.
Das AKW, das voraussichtlich Mitte April in den kommerziellen Betrieb gehen wird, ist Olkiluoto 3 in der Kommune Eurajoki, Südwestfinnland – das Projekt, das selbst den Berliner Flughafen BER in Sachen Verspätungen und Kostensteigerungen überholt hat. Es wurde zunächst bekannt und umjubelt als der erste AKW-Neubau in Europa seit Jahrzehnten.
Ursprünglich sollte es bekanntlich 2009 ans Netz gehen. Schlagzeilen wie "Start von Olkiluoto 3 verzögert sich erneut" wiederholten sich aber praktisch ständig und dämpften die Euphorie. Und so ging es auch weiter, als das Kraftwerk Ende 2021 in den Testbetrieb ging: Aus vier Monaten wurde mehr als ein Jahr.
Das Interesse der Finnen selbst an Olkiluoto 3 stieg wieder deutlich an, nachdem ab Mai 2022 kein Strom mehr aus Russland kam – der russische Exporteur gab an, er habe kein Geld für seine Lieferungen erhalten zu haben. Die Leitung aus Russland hatte eine Kapazität von 1300 MW, und das wurde im Winter auch gebraucht. Finnland, das ein strukturelles Stromdefizit hat, war danach praktisch komplett vom Import aus Schweden abhängig.
Die Hoffnung war, dass Olkiluoto 3 zum Winter 2022/23 endlich stabil Strom ins Netz einspeisen würde. Doch so kam es nicht. Beim ersten Test der 1600-MW-Anlage unter Volllast waren danach sämtliche Impeller der Speisewasserpumpen beschädigt. Praktisch den ganzen Winter lang stand der Reaktor still, die Ursache für die Schäden musste ermittelt und Abhilfe geschaffen werden. Seit Mitte März laufen nun die letzten Tests unter Volllast, bisher fehlerfrei .
Dass Olkiluoto 3 der erste AKW-Neubau seit langem war, hat sicher dazu beigetragen, dass die Arbeiten daran holprig liefen. Die französische Firma Areva erhoffte sich von diesem Pilotprojekt eines Druckwasserreaktors die Renaissance dieser Energieform. Olkiluoto ist mit 1600 MW außerdem ein Reaktor mit sehr großer Leistung, einer der stärksten überhaupt weltweit, was auch eine besondere Dimensionierung erfordert.
Doch hinter den Verzögerungen standen auch Probleme, wie sie auf allen Großbaustellen dieser Welt zu finden sind: Pfusch, Fehler, Kostendruck. Darunter Mängel am Betonfundament und am Reaktorkühlsystem. Und natürlich wurde es teurer: Statt einem Schnäppchen von drei Milliarden wurden zuletzt elf Milliarden genannt. 14 Jahre Verspätung und ein Preis, der mehr als drei Mal so hoch ist, sind schwer als "schnelle, billige Lösung" zu verkaufen.
Olkiluoto 3 ist auch kein Einzelfall: Die Neubauten in Flamanville und Hinkley Point nehmen denselben Weg – obwohl man hier schon von den Erfahrungen aus Finnland hätte profitieren können.
Immerhin: Olkiluoto 3 liefert nun Strom, und wenn nicht noch etwas schief läuft, demnächst im kommerziellen Betrieb. Mit seiner Kapazität deckt der Reaktor zehn bis 14 Prozent des finnischen Strombedarfs. Damit kann Finnland zumindest einen Teil seines bisherigen Defizits decken und das als wichtigen Meilenstein abhaken. Atomkraft gilt in Finnland als "klimafreundlich", und Finnland war neben Frankreich ein Fürsprecher der Einstufung dieser Energieform als nachhaltig.
Das Endlager ist fast bereit
Wer Atomkraft will, muss sich auch um den Müll kümmern. Hier war Finnland konsequent: In den 1990er-Jahren wurde nach geeigneten Orten für ein Endlager gesucht, und im Jahr 2001 gab es den Grundsatzbeschluss für Olkiluoto, gleich neben den drei Reaktoren. Die hochradioaktiven Brennstäbe sollen in gusseiserne Formen gesteckt werden, welche wiederum von einer Kupferhülle umschlossen werden, welche wiederum in Löchern im Fels deponiert werden – in 450 Metern Tiefe.
Das Endlager "Onkalo" ist inzwischen fast fertig. Es wird betrieben von Posiva Oy, dahinter stehen die AKW-Betreiber TVO (Olkiluoto) und Fortum (Loviisa). Die Betriebsgenehmigung wurde Ende 2021 beantragt und wird nun von den Behörden geprüft. Die ersten Maschinen für die Verkapselung sind schon vor Ort und die ersten Probelöcher gebohrt. Die Genehmigung dafür wird Ende 2024 erwartet. Das wäre ein weiterer Meilenstein für die finnische Atompolitik, die auch gerne beweisen will, dass es möglich ist, mit dieser Energiequelle vernünftig und sicher umzugehen.
Die finnischen Altmeiler
So sieht die Situation bei den vier finnischen Altmeilern aus: Olkiluoto 1 und 2 sind Siedewasserreaktoren von jeweils 890 MW schwedischer Bauart (ABB) und gingen 1978 bzw. 1980 ans Netz. Olkiluoto 3 ist eigentlich gebaut worden, um sie abzulösen.
Die beiden Blöcke Loviisa 1 und 2, fertiggestellt 1977 und 1980, sind modifizierte sowjetische WWER 440- Druckwasserreaktoren mit jeweils rund 500 MW Leistung. Weil der finnischen Strahlenschutzbehörde der Standard damals nicht genügte, wurde auch noch ein Containment von der US-Firma Westinghouse gebaut. Die Loviisa-Reaktoren bekamen inzwischen sogar eine Genehmigung für den Weiterbetrieb bis 2050.
Dafür musste der Betreiber Fortum allerdings auch etwas tun: In den vergangenen fünf Jahren wurde nach Angaben des Unternehmens 300 Millionen Euro in die beiden Kraftwerke investiert, die nach den ursprünglichen Plänen 2027 und 2030 abgeschaltet werden sollten.
Laut Fortum sind außerdem weitere Investitionen von etwa einer Milliarde fällig, um diese beiden kleinen Reaktoren bis zum Ende der genehmigten Laufzeit 2050 zu betreiben. Sie laufen übrigens bisher mit russischem Kernbrennstoff. Fortum will dies nun ändern und hat einen Vertrag mit Westinghouse geschlossen, die Änderung ist technisch allerdings aufwendig. Die Änderung ist auch politisch erwünscht. Bis Ende des Jahres muss Fortum darüber Bericht erstatten. Insgesamt decken die fünf Reaktoren, wenn sie alle laufen, jetzt 40 bis 50 Prozent des finnischen Strombedarfs.
Millionengrab Hanhikivi
Nicht alle Atomprojekte in Finnland endeten gut. Im Mai 2022 kündigte das Konsortium Fennovoima seinen Vertrag mit der Rosatom-Tochter RAOS für das geplante AKW Hanhikivi südlich von Oulu. Dabei handelte es sich nicht nur um eine unglückliche Wendung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Das Projekt hatte von Anfang an Probleme gemacht: Erst sprang mit Eon das gewählte Partnerunternehmen ab. Als Ersatz kam Rosatom, es wurde umgeplant. Die finnische Strahlenschutzbehörde wollte Fehler wie bei Olkiluoto 3 von vornherein verhindern und setzte auf akribische Planung der Anlage. Die Zusammenarbeit soll schwierig gewesen sein. Auf der Halbinsel Hanhikivi wuchsen Straßen und Nebengebäude, aber für den Reaktor gab es noch nicht einmal eine Baugenehmigung.
Nach Kriegsbeginn zog Fennovoima die Reißleine und kündigte den Vertrag. Begründet wurde dies mit den großen Verzögerungen. Fennovoima und Rosatom beschuldigen sich nun gegenseitig und fordern Schadensersatz voneinander. Auf der Halbinsel Hanhikivi stehen Gebäude herum, die ein knappes Jahr nach dem Aus noch einen neuen Zweck suchen. Einst wuchs dort Wald und es war ein beliebtes Naherholungsgebiet.
Die finnischen Investoren, Stadtwerke und Unternehmen, rechnen damit, dass sie ihre Investitionen nie wieder sehen. Laut den finnischen Medien wurden bisher 600 bis 700 Millionen Euro dort ausgegeben.
Das letzte große Atomkraftwerk?
Immerhin liefert Olkiluoto 3 nun Strom und deckt mit seinen 1600 MW allein zehn bis 14 Prozent des finnischen Energiebedarfs. Doch die Stärke des neuen Reaktors könnte auch ein Nachteil sein, meinte Juhani Hyvärinen, Professor für Energietechnik an der Technischen Universität Lappeenranta, jüngst im finnischen Fernsehen. Denn das Hochfahren und schnelle Stopps einer so großen Einheit seien eine Herausforderung für das finnische Stromnetz. Er bevorzuge kleinere Einheiten.
Einen kleinen Vorgeschmack zum Ausfall einer großen Einheit gab es diesen Winter, als Schwedens größtes Atomkraftwerk Oskarshamn 3 gleich zweimal wegen Schäden heruntergefahren und repariert werden musste – zu einer Zeit, als Finnland noch ein großes Defizit hatte und die schwedische Produktion auch die Preise in Finnland stark beeinflusste. Dazu kam gleichzeitig eine Kältewelle. Die Preise gingen in Schweden und Finnland nach oben. Oskarshamn 3 hat mit 1400 MW fast so viel Leistung wie Olkiluoto 3.
Auch die schwer zu kalkulierenden Bauzeiten und Preise könnten zukünftige Regierungen und Unternehmen davon abhalten, weiter auf große Atomkraftwerke zu setzen. Juhani Hyvärinen gehört zu denen, die eine neue Generation Atomkraftwerke befürworten: Small modular reactors, SMR, sind das neueste Heilsversprechen dieser Branche. Edelstahlhersteller Outokumpu in Tornio, Nordfinnland, hat bereits ein Abkommen mit Fortum geschlossen, um die Möglichkeiten auszuloten.
Beide Unternehmen waren am gescheiterten Hanhikivi-Projekt beteiligt. Die Theorie hinter den kleinen modularen Reaktoren: Sie könnten in Serie gebaut werden, würden dadurch billiger, und aufgrund der kleineren Dimensionen ließen sich auch die Gefahren besser hantieren. Das ist jedoch bisher nur eine Theorie, die noch eine praktische Bestätigung wartet. Bisherige Forschung zeigt eher, dass diese Hoffnungen nicht erfüllt werden. Und eine neue Studie aus Stanford zeigt, dass dadurch sogar mehr Abfall entsteht.
Der Preis des Atom-Fokus
Olkiluoto 3 hat zunächst einmal positive Effekte für den nordischen Strommarkt gehabt, weil jetzt einfach mehr Strom zur Verfügung steht. Der langjährige Fokus auf Atomkraft hatte jedoch auch Schattenseiten: So startete die Windkraft erst sehr spät in Finnland, und die Chance auf günstige Kilowatt wurde lange nicht genutzt. Seit 2014 wächst diese Energieart jedoch deutlich – und die Gemeinde Pyhäjoki, in der beinahe ein Atomkraftwerk gebaut worden wäre, hat heute die meisten installierten Wind-Kilowatt in ganz Finnland.
Zu den Kritikpunkten daran gehört, dass die Mehrheit der Investoren aus dem Ausland kommt. Was, wenn die Millionen der finnischen Unternehmen und Stadtwerke in eigene Windkraftwerke gegangen wären, anstatt ins Pleite-Projekt Hanhikivi?
Auch die Solarindustrie ist in Finnland noch winzig. Die Vorurteile vom ungeeigneten Klima darf man gerne wegstecken: Was im Winter an Licht fehlen mag, wird dafür im Sommer mehr als ausgeglichen. Und kühlere Temperaturen sind gut für den Wirkungsgrad. Hätte man sich nicht darauf verlassen, dass die Großindustrie es schon richten wird – wo könnte man dann heute sein?
Es ist Finnland selbstverständlich zu gönnen, dass Olkiluoto 3 nun endlich läuft. Die Erfahrungen damit und mit Hanhikivi sind allerdings nicht unbedingt eine Empfehlung – unabhängig davon, was man prinzipiell von Atomkraft hält. Und die Idee von den viel billigeren SMR könnte sich ebenfalls als Sackgasse erweisen. Es hilft alles nichts: Die Energiefrage bleibt eine Herausforderung für alle Länder. Eine einfache Lösung für alles ohne Nebenwirkungen gibt es nicht.