Atomare Kriegsgefahr: Politik am Rande des Abgrunds
Seite 4: John Mearsheimer: Eine nukleare Eskalation des Ukraine-Kriegs ist möglich
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- John Mearsheimer: Eine nukleare Eskalation des Ukraine-Kriegs ist möglich
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Der renommierte US-Politologe John Mearsheimer kommt in einer ausführlichen Analyse vom 23. Juni 2022 auch auf die Frage einer möglichen Eskalation dieses Krieges zu sprechen, den er als Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA mit den Ukrainern auf dem Schlachtfeld einschätzt.3
Er sagt, dass unter den Wissenschaftlern für Internationale Beziehungen weithin anerkannt sei, dass es eine starke Tendenz zur Eskalation langwieriger Kriege gebe und auch die Möglichkeit bestehe, dass Atomwaffen in der Ukraine eingesetzt werden und dies sogar zu einem nuklearen Schlagabtausch zwischen Russland und den Vereinigten Staaten führen könnte, weil für beide Seiten viel auf dem Spiel stehe.
Wie John Mearsheimer immer wieder betont hat, glauben Putin und seine Militärs, dass der Beitritt der Ukraine zum Westen und zur Nato eine existenzielle Bedrohung für Russland darstelle, die beseitigt werden müsse. In der Praxis bedeutet das, dass Russland seinen Krieg in der Ukraine gewinnen muss. Eine Niederlage ist inakzeptabel.
Die Biden-Regierung hingegen habe betont, dass ihr Ziel nicht nur darin bestehe, Russland in der Ukraine entscheidend zu besiegen, sondern auch mit Sanktionen der russischen Wirtschaft massiven Schaden zuzufügen.
Die amerikanische Politik habe zwei wesentliche Konsequenzen, sagt Mearsheimer. Zunächst einmal verstärke sie die existenzielle Bedrohung, der Moskau in diesem Krieg ausgesetzt ist, erheblich und mache es wichtiger denn je, dass Russland sich in der Ukraine durchsetzt.
Gleichzeitig bedeute dies, dass die Vereinigten Staaten sich zutiefst dafür einsetzen, dass Russland verliert. Die Biden-Regierung habe jetzt so viel in den Ukraine-Krieg investiert- sowohl materiell als auch rhetorisch-, dass ein russischer Sieg eine verheerende Niederlage für Washington bedeuten würde.
Offensichtlich können aber nicht beide Seiten gewinnen, sagt der Wissenschaftler. Darüber hinaus bestehe die ernsthafte Möglichkeit, dass eine Seite zu verlieren beginnt. Wenn die amerikanische Politik erfolgreich ist und die Russen auf dem Schlachtfeld gegen die Ukrainer verlieren, könnte Putin zu Atomwaffen greifen, um die Situation zu retten.
Avril Haines, die US-Direktorin des Nationalen Geheimdienstes, habe im Mai 2022 vor dem Senatsausschuss für Streitkräfte ausgesagt, dass dies nach ihrer Einschätzung eine der beiden Situationen sei, die Putin dazu bringen könnten, Atomwaffen in der Ukraine einzusetzen.
Für diejenigen, die dies für unwahrscheinlich halten, verweist John Mearsheimer darauf, dass die Nato während des Kalten Krieges den Einsatz von Atomwaffen unter ähnlichen Umständen geplant hatte.
Wenn Russland Atomwaffen in der Ukraine einsetzen würde, ist es unmöglich zu sagen, wie die Biden-Regierung reagieren würde, aber sie würde sicherlich unter großem Druck stehen, Vergeltung zu üben, was die Möglichkeit eines Atomkriegs zwischen den Großmächten erhöhe.
John Mearsheimer schätzt die derzeitige höchst bedrohliche Situation im Ukraine-Krieg deshalb wie folgt ein:
Hier ist ein perverses Paradoxon im Spiel: Je erfolgreicher die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bei der Erreichung ihrer Ziele sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Krieg nuklear wird.
Lassen Sie uns den Spieß umdrehen und fragen, was passiert, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten auf eine Niederlage zuzusteuern scheinen, was effektiv bedeutet, dass die Russen das ukrainische Militär vertreiben und die Regierung in Kiew Schritte unternimmt, um ein Friedensabkommen auszuhandeln, das so viel wie möglich vom Land retten soll.
In diesem Fall gäbe es großen Druck auf die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, sich noch tiefer in die Kämpfe einzumischen. Es ist nicht wahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass amerikanische oder vielleicht polnische Truppen in die Kämpfe hineingezogen werden, was bedeutet, dass sich die Nato buchstäblich im Krieg mit Russland befinden würde.
Dies ist laut Avril Haines das andere Szenario, in dem sich die Russen Atomwaffen zuwenden könnten. Es ist schwierig, genau zu sagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden, wenn dieses Szenario eintritt, aber es steht außer Frage, dass es ein ernsthaftes Potenzial für eine Eskalation geben wird, einschließlich der nuklearen Eskalation. Die bloße Möglichkeit dieses Ergebnisses sollte uns allen Schauer über den Rücken jagen.
John Mearsheimer, im Juni 2022
Ted Postol: Eine eindringliche Warnung des Atomwaffenexperten
Ted (Theodore) Postol ist ein weltweit anerkannter US-Atomwaffenspezialist, der viele Jahre in hohen Funktionen im Pentagon gearbeitet hat, bevor er als Professor an der Stanford University und dann am MIT bis zu seiner Emeritierung tätig war. Er unterstützt seit Jahren die Friedensbewegung in den USA.
Bei meinen Recherchen bin ich auf ein Interview gestoßen, das der US-Journalist Robert Scheer, Autor des Buches "With Enough Shovels: Reagan, Bush und der Atomkrieg", mit Ted Postel geführt hat und das in dem Blog "Scheer Intelligence" am 23.3.2022 veröffentlicht worden ist.4 Darin wird diskutiert, was zu erwarten ist, wenn im Ukraine-Krieg tatsächlich Atomwaffen zum Einsatz kommen.
Es handelt sich um ein langes, aber höchst bemerkenswertes Gespräch zwischen zwei Fachleuten auf diesem Gebiet, die sich seit Jahrzehnten mit dieser Materie befasst haben und auf die ich die Leser von Telepolis gerne aufmerksam machen möchte.
Im Verlaufe des Gesprächs fragt Robert Scheer seinen Gast:
Ich frage sie also nochmals, worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden doch nicht über einen weiteren Irak oder ein weiteres Vietnam. Wir reden über Hiroshima und Nagasaki und was ihr Schicksal für Städte in den USA bedeutet.
Daraufhin antwortet Ted Postol:
Wir reden von einer Feuerwand, die alles um uns herum mit der Temperatur des Sonnenmittelpunkts einschließt. Die Explosion von Nuklearwaffen würde uns buchstäblich in weniger als Asche verwandeln. Ich kann nicht genug betonen, wie mächtig diese Waffen sind. Wenn sie detonieren, sind sie vier- oder fünfmal heißer als das Zentrum der Sonne, das 20 Millionen Grad Kelvin hat. Im Zentrum einer Detonation dieser Waffen herrschen 100 Millionen Grad Kelvin.
Menschen können sich das Ausmaß dieser Hitze nicht vorstellen. Ich habe wiederholt Artikel über die Folgen der Explosion von Atomwaffen auf Städte geschrieben. Sie sind so schwerwiegend, dass sie die menschliche Vorstellungskraft sprengen.
Im Zentrum der Explosion wird die Erdoberfläche fünfmal so heiß, wie das Zentrum unserer Sonne. Im Explosionsgebiet wird buchstäblich alles in weniger als Asche verglühen. Mir fehlen einfach die Worte, um vor dem wirklichen Ausmaß der Gefahr zu warnen.
Robert Scheer erwidert:
Ich verstehe eigentlich nicht, warum man Menschen, die vor dieser großen Gefahr warnen, als Verteidiger Putins verunglimpft. Wir machen uns doch auch Sorgen über den Klimawandel und die Erderwärmung, fangen endlich an, etwas dagegen zu tun, und das erfordert doch die Zusammenarbeit der ganzen Welt. Die heraufziehende Gefahr eines Atomkrieges ist auf kurze Sicht sicherlich viel größer. Warum wird darüber nicht ernsthaft diskutiert?
Das ist merkwürdig, denn auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurde heftig darüber diskutiert- auch während der Kuba-Krise. Präsident Kennedy war die damalige Gefahr ziemlich klar. Auch McNamara hat darüber geschrieben und gesprochen. Tatsächlich hat McNamara, der während des Vietnamkriegs unser Verteidigungsminister war, die letzten Jahre seines Lebens damit verbracht, den Vietnamkrieg zu bereuen und über die reale Gefahr von Atomwaffen zu sprechen. Vielleicht ist das etwas, worüber man nachdenken sollte. Was hat unser Bewusstsein in dieser Frage so sehr eingeschläfert?
Gegen Ende des Gesprächs sprechen die Beiden über diejenigen aus der US-amerikanischen politischen Elite, die davon überzeugt waren und sind, dass man einen begrenzten Atomkrieg führen und überleben könne.
Robert Scheer weist auf das oben genannte Buch von ihm aus den 80er Jahren mit dem Titel "With Enough Shovels" hin, was besagt, man braucht nur genug Schaufeln, um ein tiefes Loch in die Erde graben zu können. Man muss dann ausgehängte Türen darüberlegen, diese mit etwas Erde bedecken und schon könne man einen Atomkrieg überleben. Und diese (naive) Ansicht sei wesentlicher Bestandteil der nuklearen Verteidigung und der gesamten Star-Wars-Strategie gewesen.
Dann fährt er fort:
Nun befürchte ich, und damit greife ich Ihren Punkt auf, dass wir uns in einer Situation befinden, in der wir uns von dieser Ansicht verabschieden müssen, wenn wir überleben wollen. Ich stimme mit Ihnen in der Verurteilung von Putins Invasion überein, aber trotzdem können wir die Folgen eines Atomkrieges nicht einfach beiseiteschieben, als gäbe es sie nicht- auch wenn Madeleine Albright und sogar Hillary Clinton gefragt haben, warum wir diese Waffen überhaupt bauen, wenn sie nie benutzen.
Und jetzt reden wir nicht einmal mehr über die Bedrohung, die von Atomwaffen ausgeht. Vielleicht sollten wir doch mehr über Diplomatie oder über Alternativen nachdenken. Ich überlasse Ihnen also das letzte Wort.
Daraufhin erwidert Ted Postol:
Nun, wenn wieder eine Atomwaffe eingesetzt würde, wird zunächst niemand wissen, was eigentlich passiert ist und was als Nächstes kommt. Denken Sie an die Situation nach dem Anschlag auf das World Trade Center, als wir nicht mit einer Atomwaffe angegriffen wurden.
Wenn eine Atomwaffe auf dem Gefechtsfeld gezündet wird, weiß zunächst niemand, was das bedeutet. War es eine einzelne Waffe? Werden ihr in wenigen Minuten oder Stunden weitere Atomexplosionen folgen? Wird der Gegner, den Sie gerade angegriffen haben, sofort oder erst in einigen Tagen mit einer oder mehreren Waffen nachziehen? Wird er versuchen, ihre Atomwaffenstandorte anzugreifen (und ihre wichtigen Kommandozentralen in Bündnisstaaten wie zum Beispiel die US-Air-Base Ramstein)?
Keiner weiß, was der andere tun wird. Es ist wie ein Schachspiel auf einem Brett, bei dem man immer nur die Figur sehen kann, die gerade bewegt wird. Sie und ihr Gegner könnten auch schon die Kontrolle über die eigenen Figuren und die gegnerischen Züge verloren haben.
Es herrscht ein totalen Chaos, und ehe man sich versieht, explodieren nicht nur ein paar Dutzend oder Hunderte, sondern Tausende von Atomwaffen. Das ist einfach unvermeidlich. Es ist wie bei der Finanzkatastrophe von 2008/2009 (in den tatsächlichen Auswirkungen aber unvorstellbar desaströser). Bei den bestehenden Instabilitäten wird die Katastrophe nicht aufzuhalten sein. Deshalb sollten alle wirklich davor zurückschrecken, Atomwaffen auch nur auf niedrigstem Niveau einsetzen zu wollen.
Zum Schluss sagt Robert Scheer:
Wenn jetzt, in einer angespannten weltweiten Situation, eine einzige Atomwaffe explodiert, gibt es kein Zurück mehr. Das wäre das Ende der Menschheit. Wissen die Politiker nicht, dass sie mit ihrem leichtfertigen Gerede über den Einsatz von Atomwaffen das Ende der Menschheit riskieren?
Ted Postol entgegnet:
Dabei ist es doch ganz einfach. Wer den Einsatz kleiner Atomwaffen propagiert, will uns einreden, ein kleiner Funke in einem mit Benzindämpfen gefüllten Raum wäre kein Problem. Das ist keine schlechte Analogie. Es ist zwar eher ein physikalisches als ein soziales Phänomen, aber im Grunde ist es die gleiche Situation. Man kann keinen kleinen Funken in einem Raum auslösen, der mit Benzindämpfen gefüllt ist. Das würde kein gutes Ende nehmen.
Das sind einige Auszüge aus dem langen bemerkenswerten Gespräch zwischen Robert Scheer und Ted Postol. Das vollständige Interview, das von Fee Striemer und Wolfgang Jung dankenswerter Weise übersetzt und mit höchst informativen Links ergänzt worden ist, kann hier aufgerufen werden.
Ich empfehle meinen Lesern sehr, sich die Zeit für diese Lektüre zu nehmen.