Atomkraft: Warum in Frankreich auch Linke den AKW-Ausbau unterstützen
Paris strebt internationale Allianz für mehr Kernkraft an. Das wird auch von unerwarteter Seite gutgeheißen. Anmerkungen zur Energiepolitik von Paris.
Am Dienstag vergangener Woche versammelte die französische Politik sechzehn Staatsführungen in der Europäischen Union zu einem Gipfel in Paris, um den Neubau von 30 bis 45 neuen Atomreaktoren innerhalb der Union anzustoßen.
Die Atomenergieproduktion soll in der EU bis 2050 von derzeit rund 100 auf 150 Gigawatt steigen.
Diese "Atom-Allianz", die durch die Umweltorganisation Greenpeace heftig kritisiert und mit Transparenten begrüßt wurden, versammelte sich bereits zum dritten Mal.
Vordergründig beruft sich diese politische Lobby innerhalb der EU, die immerhin gut die Hälfte ihrer Mitgliedsstaaten – die Bundesrepublik ist nicht darunter - umfasst, auf die Reduzierung von CO2-Emissionen durch den geforderten Ausbau der Atomenergie.
Ein eigenartiger Bund
Allerdings zögern dieselben EU-Staaten nicht, sich mit CO2-intensiven Mitgliedsländern zu verbünden. Im vorigen Jahr tat man dies, um gemeinsam die Aufnahme der Nuklearenergie und von Erdgas in die EU-Liste ("Taxonomie") förderbarer, weil angeblich klimafreundlicher Energien zu verlangen.
Vorige Woche tat man sich zusammen, um in Brüssel einen Text zu erneuerbaren Energien zu blockieren, weil dieser der Atomenergie bei der Erzeugung "grünen Wasserstoffs" keinen hinreichenden Platz einräumt.
Kein Widerstand aus Frankreich gegen Atom-Kurs
In Frankreich selbst – dem Land, das pro Kopf die höchste Atomenergieproduktion weltweit aufweist – ruft diese Politik jedenfalls bisher nur relativ geringen Widerspruch hervor, jedenfalls verglichen mit der erheblichen Polarisierung, die im Land bei sozio-ökonomischen Themen wie etwa bei der jüngsten Rentenreform anzutreffen ist.
Vielmehr kann diese Energiestrategie auf einen relativen, obwohl nicht absoluten, gesellschaftlichen Konsens aufbauen. Ihn zu verstehen, seine Grundlagen zu durchschauen, ist notwendig, um ihn auf die Dauer wirksam infrage stellen zu können.
EDF: Keine Bankrott- und Defensivsituation
Wenn der Eindruck erweckt wird, dass sich die Atompolitik in Frankreich aufgrund einer Handvoll inkompetenter oder ideologisch verbohrter Entscheidungsträger in einer Sackgasse befinde, so erklärt dies nicht den großen Konsens in Frankreich zu dieser grundsätzlichen Frage.
Auch dass der Hauptbetreiber von Atomkraftwerken in Frankreich – das früher staatliche und 2004 teilprivatisierte Unternehmen Electricité de France (EDF) – in der Defensive stecke und quasi weder mehr aus noch ein wisse, wird jedenfalls in breitesten Kreisen nicht so betrachtet.
Tatsächlich steht ein massiver Wiedereinstieg der öffentlichen Hand in das Kapital von EDF und die Rückübernahme staatlicher Kontrolle bevor; gekoppelt an die Atomenergie-Ausbaupläne von Staatspräsident Emmanuel Macron.
Allerdings wird dies weithin nicht als Bankrott und Defensivsituation erlebt. Vielmehr weist diese Strategie der Regierungspolitik zumindest einen rationalen Kern auf; gefährlich daran ist allerdings wirklich, dass dabei Prinzipien, die andernorts absolut richtig sei, dabei auf die weitere Förderung einer Energieform übertragen werden, deren Risiken und Nebenwirkungen riesig sind.
Die Fehler
Im Kern zutreffend ist die Überlegung, dass es verkehrt war und ist, wenn in diesem oder jenem Bereich wichtige Entscheidungen der wirtschaftlichen Privatinitiative überlassen bleiben, deren kurzfristiges Profitdenken längerfristige Weichenstellungen blockiert.
Dass es falsch ist, wenn technische Kompetenzen verloren gehen, wenn Ingenieurinnen und Ingenieure nicht mehr ausgebildet werden, weil man sich kurzfristig billiger auf Ingenieurswissen etwa auf den USA stützen kann; wenn Profitstreben dafür sorgt, dass man technische Ungenauigkeiten ("betrifft ja nur den Sub-Millimeterbereich") hinnimmt, die dann aber im Bereich von Hochpräzisions- und Risiko-Technologie im Nachhinein für gigantische Ausfälle sorgen.
Genau dies ist in der französischen Nuklearindustrie passiert. Die enormen Verzögerungen beispielsweise beim französischen EPR, dem "Reaktor der dritten Generation", im normannischen Flamanville, er hätte theoretisch vor nunmehr elf Jahren eingeweiht werden sollen und ist es noch immer nicht, sind just darauf zurückzuführen.
Dieses Fiasko hängt mit Schlampereien unter Kostendruck bei der Stahlherstellung in Le Creusot zusammen, aber auch mit dem Verlust von Ingenieurskompetenzen.
Wo in den Sechziger- und Siebzigerjahren ganze Ingenieursgenerationen auf Nukleartechnologie spezialisiert wurden, gab es ab den Neunzigerjahren keine Anreize mehr dafür, und Studierende der Ingenieurswissenschaften spezialisierten sich nicht mehr in diesem Bereich, da man ihn tendenziell für eine Auslauftechnologie hielt.
In anderen Bereichen, bei anderen Technologien oder in der Grundlagenforschung wäre bzw. ist es durchaus richtig, festzustellen, dass für dauerhafte Weichenstellungen massive staatliche Investitionen, eine Bildungsoffensive und Eingriffe der öffentlichen Hand notwendig sind.
Höchst fragwürdig ist hingegen die Übertragung dieser ansonsten richtigen politischen Grundkonstanten auf die Atomenergie. Dennoch findet sie statt.
Relativer Atomkonsens
Aus genau diesem Grund kann sich die Atom-Ausbaupolitik in Frankreich auf einen unvollständigen, doch realen Konsens stützen, insbesondere, weil eine historisch bedeutende Kraft auf der Linken wie die Französische kommunistische Partei (des PCF) – und Teile des früher mit ihr verbündeten Gewerkschaftsdachverbands CGT – in ihn eingebunden sind.
Dies hat geschichtliche Gründe: Das öffentliche Energieunternehmen EDF wurde 1946 durch einen PCF-Minister, Marcel Paul, durch Verstaatlichung kollaborationsbelasteter Unternehmen eingerichtet. Die französische KP war damals die stimmenstärkste Partei Frankreichs (28,3 Prozent der Wählerschaft) und bis zum Ausbruch des Kalten Krieges 1947 an der Regierung beteiligt. Aber auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, einschließlich derer des massiven Einstiegs in die Atomenergie unter Charles de Gaulle, kamen viele Angehörige des technischen Personals sowie der Verwaltung von EDF aus den Reihen der KP und der CGT.
Vor allem aber hat diese Positionierung auch aktuelle Gründe. Denn wenn die Partei auch die derzeit in Angriff genommene Rückverstaatlichung von EDF unter Verweis auf die Ausgliederung relevanter Unternehmensteile als falsche Nationalisierung kritisiert, stimmte sie doch dem vorige Woche in letzter Lesung im Parlament beschlossenen Atomenergie-Beschleunigungsgesetz mit Vehemenz zu.
Steht diese doch in ihren Augen für eine ungenügende, doch in Ansätzen richtige Politik des Wiedereinstiegs der öffentlichen Hand in industrielle Vorgänge.
Linke gespalten
Unvollständig wird der innenpolitische Atomkonsens allerdings dadurch, dass die in den letzten Jahren zu Lasten der französischen KP aufstrebende, linkspopulistische Wahlplattform LFI ("Das unbeugsame Frankreich") ihrerseits auf einen graduellen Ausstieg aus der Atomenergie setzt.
Dadurch haben sich die Gewichte innerhalb der politischen Linken, auf der früher nur die französischen Grünen und ein Teil der trotzkistischen oder libertär-kommunistischen radikalen Linken gegen Atomenergie opponierten, verschoben. Dennoch gilt, dass ohne die bereits in den Wahlkämpfen 2021/22 vorgetragene, dezidiert die Atomenergie unterstützende Positionierung der KP nicht die Rede von einem lagerübergreifenden relativen Konsens die Rede sein könnte.
So aber trifft es eben gerade nicht zu, dass Atomenergie-Unterstützung vor allem eine Frage von Parteien der politischen Rechten wäre. Auch wenn natürlich gilt, dass viele Rechte und Rechtsextreme aufgrund ihres Strebens nach "nationaler Stärke" für einen ausgeprägten französischen Nuklearsektor und für die Führungsrolle Frankreichs auf diesem Gebiet sind; und dass die seit vorigem Jahr gebildeten Regierungskoalitionen unter Beteiligung von Rechtsextremen in Italien und Schweden jeweils einen Wiedereinstieg in eine Atomenergiepolitik betreiben.
Rechtsextreme pro AKW: Nicht aus Klimaschutzgründen
Auch zeigt sich die wichtigste rechtsextreme Partei in Frankreich, der Rassemblement National, jedenfalls in jüngerer Zeit ausgesprochen nuklearfreundlich. Um Klima und Umwelt geht es dabei kaum.
Ansonsten fällt der rechtsextremen Partei zum Thema Klimaschutz übrigens vor allem ein, "Gebete für Regen" zu organisieren – im Jahr 2023 -, jedenfalls im Dürre-Katastrophengebiet um Perpignan.
Nun sage mal einer, es funktioniere nicht: An diesem Sonntag, den 21.05. regnete es in Perpignan tatsächlich, endlich, nach Monaten katastrophaler Austrocknung! Dass dies auf die rechten Gebete gen Himmel zurückzuführen sei, bleibt freilich reichlich unbewiesen. Vielleicht wären wirksame Maßnahmen gegen den menschengemachten Klimawandel ja doch besser …? Diese sind in der rechtsextremen Ideologie allerdings nicht wirklich, oder wirklich nicht, vorgesehen.
Doch wird die Vorstellung, die Atomenergiebefürwortung sei in Frankreich auf der Links-Rechts-Achse eindeutig verortetet – was i.Ü. den Vorteil böte, dass die Linke und mit ihnen soziale Bewegungen dann vielleicht stärker gegen dieselbe opponieren würden – eindeutig durch die strategisch wichtige Positionierung der KP (und mit ihr von Teilen der Gewerkschaften) konterkariert.
Politisch falsch oder kritikwürdig daran ist, diese ansonsten durchaus verteidigungswürdigen Ansätze seitens der KP auf den Umgang mit Nukleartechnologie übertragen werden.
Gefahren der Atomenergie bleiben!
Deren bedeutende Risiken und Nachteile werden dadurch natürlich nicht geringer. Beträfe dies nun die Frage des Umgangs mit Atommüll – Pläne für ein Endlager im lothringischen Bure rufen dort wachsende Widerstände hervor -, Störfallrisiken oder auch die Problematik des Zusammenhangs mit militärischem Atomkrafteinsatz, vulgo der A-Bombe, und die Gefahren nuklearer Proliferation.
Auf letzterem Gebiet war die französische Politik jahrzehntelang de facto führend. Frankreich verhalf in den 1950er-Jahren dem Staat Israel zur Atombombe – in den 1970er-Jahren dann beinahe dem Irak unter Saddam Hussein, was wiederum Israel mit militärischen Mitteln verhinderte, indem es 1981 einen im Bau befindlichen Reaktor zerstörte.
Als Premierminister verantwortlich für den AKW-Bau in Osirak, die Israelis sagten zu ihm "O’Chirac", war ein gewisser Jacques Chirac. Das hinderte denselben Chirac nicht daran, im Februar 1991, als Frankreich in den damaligen Golfkrieg gegen den Irak eingetreten war (anders als beim Krieg unter George W. Bush 2003 nahm Frankreich 1991 teil), den Ersteinsatz von Atomwaffen durch Frankreich unter Umständen zu befürworten.
Ein anderer Diktator, dem Frankreich Atomreaktoren verkaufte und dem man Waffenambitionen nachsagen durfte, war Muammar Al-Gaddafi in Libyen; das war im Juli 2007 unter Nicolas Sarkozy.
Ja, Frankreich unter Sarkozy war später, im Jahr 2011, an einer Militärintervention zum Sturz Gaddafis beteiligt. Auf denselben Sarkozy wartet derzeit noch ein Prozess wegen illegaler Wahlkampffinanzierung durch Gaddafi aus 2007.
Gefährliche Entscheider sitzen nicht nur in Tripolis und Bagdad, sondern mitunter auch in europäischen Hauptstädten. Dass man ihnen einen Finger am atomaren Drücker lässt, gehört zu den Problemen unserer Zeit.