Auf dem Holzweg
Erklärte Anhänger der Evolution können so falsch liegen wie Kreationisten - Teil 2
Im zweiten Teil der Telepolis-Serie zum Thema "Evolution" werden die Argumente der Befürworter der Darwin'schen Evolutionstheorie kritisch betrachtet. Kritik ist auch dringend angebracht, denn sie argumentieren sehr oft dermaßen ungeschickt, dass man meinen könnte, sie wollten die Evolutionstheorie ad absurdum führen.
Was ist "Evolutionstheorie a la Darwin"?
Der Evolutionsbiologe Ernst Mayr führt in seinem Buch "What Evolution is" aus, wie Darwins Evolutionstheorie auf fünf konzeptionell verschiedenen Einzeltheorien fußt:
Darwins Evolutionstheorie
- Die Wandelbarkeit der Arten (Mayr: "Die fundamentale Evolutionstheorie.")
- Die Abstammung aller Organismen von gemeinsamen Vorfahren
- Die Stetigkeit der Evolution (keine diskontinuierlichen Entwicklungssprünge)
- Die Vervielfältigung der Arten (Entstehung des Artenreichtums)
- Natürliche Selektion
Man beachte, dass keinerlei Bezüge auf "Fortschritt" oder "Höherentwicklung von Lebensformen" auftauchen. Evolution bedeutet Anpassung, nicht Fortschritt. Heute lauern vor allem bei der Stetigkeit der Evolution und der natürliche Selektion argumentative Fallstricke.
Mayr betont, dass nach 1859 nur die ersten beiden Theorien in Fachkreisen schnell an Boden gewannen, während die letzten drei sogar bei eifrigen Befürwortern heftig umstritten blieben. Beispielsweise lehnte kein geringerer als T.H. Huxley die natürliche Selektion ab. So entstanden in den verschiedenen biologischen Spezialdisziplinen zunächst recht unterschiedliche Lesarten der Evolutionstheorie. Die letzten drei Theorien Darwins wurden erst im Zeitraum von etwa 1937 - 47 allgemein akzeptiert, als die "synthetische Evolutionstheorie" entstand. In dieser Zeit wurde erkannt, dass mit Hilfe der bis dahin umstrittenen drei Darwinschen Theorien die unterschiedlichen evolutionären Auffassungen wie die aus der Paläontologie oder aus der experimentellen Genetik vereinigt werden konnten. Auch Erkenntnisse aus anderen Naturwissenschaften spielten dabei eine wichtige Rolle, der Geologie und der Astrophysik, beispielsweise.
Die Bezeichnung "Zweite Darwinsche Revolution" kennzeichnet diese Phase daher äußerst treffend, denn es wurde keine grundlegend neue Evolutionstheorie entworfen, wie es der in diesem Zusammenhang ebenfalls benutzte Terminus "Neodarwinismus" suggeriert. Vielmehr wurde Darwins Evolutionstheorie nach achtzig Jahren endlich in ihrer Gesamtheit akzeptiert - durch eine Synthese von Erkenntnissen verschiedener Spezialdisziplinen. Wenn in dieser Telepolis-Serie also von "Evolution" oder "Evolutionstheorie" die Rede ist, dann immer im hier definierten Sinne Darwins.
Geschönte Geschichtsschreibung
Die verkürzte, idealisierte Geschichte des Erfolges der Evolutionstheorie, wie sie in Lehrbüchern meist zu finden ist, lautet ungefähr so: Darwin veröffentlichte sein Hauptwerk und die biologische Fachwelt akzeptierte dessen Aussagen innerhalb weniger Jahre. Dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen. Drei von fünf theoretischen Bestandteilen waren lange Zeit umstritten. Die Standarddarstellung schmeichelt zwar dem Ego der Biologen, hat aber zwei schwerwiegende Konsequenzen.
Erstens stattet sie die Gegner der Evolutionstheorie mit einem praktisch unerschöpflichen Fundus von evolutions-kritischen Äußerungen erklärter Anhänger der Evolution aus acht Jahrzehnten aus. Ein wichtiger Munitionsvorrat für den Beschuss des interessierten, wissbegierigen Laienpublikums, das bekanntlich von kritischen Äußerungen von Fachleuten, die scheinbar im Widerspruch zur "offiziellen Doktrin" stehen, besonders zu beeindrucken ist.
Zweitens können die Gegner, wie beispielsweise der Biologe Wolf-Ekkehard Lönning, eine vermeintlich sinnvolle Differenzierung von Begriffen wie zwischen "Darwinismus" und "synthetischer Evolutionstheorie" einführen, die den Eindruck erweckt, Darwins Theorie sei von wissenschaftlicher Seite zumindest schon modifiziert worden. Dies ist ein erster taktischer Schritt auf dem Weg zur Ablehnung von Darwins Theorie.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, dass idealisierte Geschichtsdarstellungen in den Naturwissenschaften auch an anderen Stellen vorkommen. Das sicherlich bekannteste Beispiel ist die in physikalischen Lehr- und Schulbüchern überwiegend anzutreffende Darstellung, der physikalische Atombegriff des 20ten Jahrhunderts habe sich quasi zwangsläufig aus dem der Antike entwickelt. Tatsächlich jedoch lehnte die Mehrzahl der Physiker Ende des 19ten Jahrhunderts die in der Chemie längst etablierte "Atomhypothese" ab. Darunter waren paradoxerweise auch die beiden Begründer der Quantentheorie, Max Planck und Albert Einstein. Planck berichtete später, er habe die Quantenhypothese nur unter Qualen aufstellen können, weil sie seinem zutiefst verinnerlichten kontinuierlichen Weltbild widersprochen habe. Zum Glück für die Physik hat sich aus dieser Idealisierung jedoch kein Akzeptanzproblem der Quantenphysik entwickelt.
Die Heimat der Evolution: Ökosysteme
Wie sieht es denn mit konkreten Ökosystemen im Lichte der Evolution aus? Da Darwin die reale Welt erforschte, wurden Beschreibungen existierender oder Hypothesen über vergangene Ökosysteme von ihm natürlich evolutionär interpretiert. Gerade in den Annahmen über die Vorzeit war Darwins Wissen zeitgemäß jedoch äußerst beschränkt, so dass er, aus heutiger Sicht, mit seinen konkreten Vermutungen oft falsch lag.
Er war z.B. der Meinung, in der Steinzeit seien Männer vor allem Jäger und Frauen vor allem Sammler gewesen. Dies wird heute nicht mehr so einfach gesehen, wie noch zu diskutieren sein wird. Man muss also unterscheiden, ob ein Argument sich mit der Evolutionstheorie an sich oder nur mit einem konkreten Ökosystem beschäftigt. Auf beiden Feldern können Fehler gemacht werden.
Richtige Theorie, falsche Argumente
Beginnen wir mit typischen, die Evolutionstheorie selbst betreffenden Fehlern. Die natürliche Selektion ist sicherlich die Theorie Darwins, die nicht nur von Sozialdarwinisten falsch verstanden und missbraucht wurde, sondern die auch heute noch intellektuell die meisten Probleme bereitet. Vor allem das nicht zielgerichtete Funktionieren, bei dem im Laufe sehr langer Zeiträume doch sehr komplexe Lebensformen entstehen können, bereitet offensichtlich nicht nur den Gegnern der Evolutionstheorie intellektuell große Probleme. Für den einflussreichen Trend-Guru Matthias Horx, der sich explizit auf die Evolution beruft, sind die "Evolutionskräfte im Hintergrund" beispielsweise ein "Metatrend", der beständigen Fortschritt garantiert ("Wir wollen nie mehr um einen Arbeitsplatz betteln!").
Auch der allwissende Dietrich Schwanitz hätte es eigentlich besser wissen müssen. Denn in seinem erfolgreichen Bestseller "Bildung. Alles, was man wissen muss", geht er auch auf die Evolutionstheorie ein. Viel ist es zwar nicht, was man laut Schwanitz an naturwissenschaftlicher Bildung mitbringen muss - und da geht er gleich mit gutem Beispiel voran: Seine völlig falsche Darstellung der Relativitätstheorie Einsteins löst beim physikalisch gebildeten Leser entweder Entsetzen aus oder Belustigung. Seine Ausführungen zu Darwin sind allerdings im Großen und Ganzen nicht falsch. Aber auch er hat Probleme mit den fehlenden evolutionären Zielen, wenn er schreibt, mit Darwin würden " … jahrhundertelang geglaubte Vorstellungen über den Haufen geworfen: der biblische Schöpfungsbericht …; die Vorstellung, dass hinter jeder zielgerichteten Entwicklung ein göttlicher Planer stehen müsse… ". Somit wird aus der Evolution bei ihm eine gottlose, zielgerichtete Entwicklung, wobei sie doch laut Darwin zumindest das zweite ganz sicher nicht ist.
Die Missverständnisse waren übrigens schon vorprogrammiert durch die gängige deutsche Übersetzung von "The Origin of Species", die unglücklicherweise mit "Von der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" betitelt wurde. Denn "Züchten" ist ein von Menschen durchgeführter, zielgerichteter Prozess, also definitiv keiner, bei dem der Zufall eine entscheidende Rolle spielt. Wahrscheinlich ist es also kein Zufall, dass der schon erwähnte Evolutionskritiker Wolf-Ekkehard Lönning ausgerechnet am Max-Panck-Institut für Züchtungsforschung arbeitet (zur Ehrenrettung des Instituts muss gesagt werden, dass Lönning nur seine persönliche Meinung repräsentiert).
Die Stetigkeit der Evolution ist begrifflich ebenfalls nicht leicht zu fassen. Intuitiv führt der Begriff auf Änderungen, die sich mit gleich bleibendem Tempo ereignen. Dies führte beispielsweise zu der klassischen Darstellung der Evolution des Menschen, die Stephen J. Gould zu Recht so vehement bekämpft:
Ein vierbeiniges, affenähnliches Wesen wird schrittweise größer, richtet sich graduell immer mehr auf und führt zielsicher zum Homo Sapiens. Nur hat die heute bekannte Evolution des Menschen nichts mit dieser omnipräsenten Ikone zu tun. Schon vor über 3 Mio. Jahren ging Australipithecus Afarensis aufrecht, hatte jedoch ein Gehirn so groß wie das eines Schimpansen. Zudem verzweigte sich der Stammbaum des Menschen immer wieder und diverse Homo-Gattungen lebten gleichzeitig auf dieser Erde (Die Rückkehr der Hobbits).
Dass solche linearen Darstellungen automatisch mit der Evolutionstheorie identifiziert werden, ist daher äußerst kontraproduktiv. Es ist zudem längst bekannt, dass sich evolutionäre Änderungen zwar stetig, aber nicht notwendigerweise mit konstanter Geschwindigkeit vollziehen. Ist der Selektionsdruck hoch, beispielsweise nach einer globalen Katastrophe, ändern sich die überlebenden Arten schnell, bis wieder ein mehr oder weniger stabiler Zustand erreicht ist, der sehr lange anhalten kann. Daher gibt es Fälle, in denen Übergangsformen durch Fossilien nicht belegt sind. Allerdings gibt es auch eindrucksvolle Beispiele, für die viele Missing Links belegt sind. Die Evolution des Menschen ist eines davon. Die der ersten Säugetiere, die sich praktisch zeitgleich mit dem Auftreten der ersten Dinosaurier vor mehr als 200 Mio. Jahren entwickelten, ein weiteres.
Schlechte Nachrichten für Machos und Emanzen
Der Dauerbrenner unter den im Zusammenhang mit der Evolution diskutierten Ökosystemen ist die menschliche Vorzeit. Wie haben wir Menschen denn "in der Steinzeit" gelebt? Hier sind immer wieder dezidierte Meinungen von Zeitgenossen zu hören, die von sich behaupten, evolutionär zu argumentieren. Beispielsweise die schon erwähnte These, Männer seien Jäger gewesen und Frauen Sammler. Daraus werden dann schnell genetische und verhaltenstypische Unterschiede zwischen den Geschlechtern abgeleitet.
Die schon im ersten Teil der Serie erwähnte Tatsache, dass Farbenblindheit ein primär männliches Problem ist, dient als ein Standardbeweis der Jäger-Sammlerinnen-Hypothese. Farben differenzieren zu können, ist für einen Jäger nämlich nicht unbedingt von Vorteil. Die meisten Säugetiere sind schließlich farbenblind, einschließlich der räuberischen. Eine Sammlerin sollte hingegen eine noch grüne von einer schon roten Frucht unterscheiden können.
Insgesamt krankt die in der Öffentlichkeit so beliebte Diskussion über die menschliche Vorzeit an der ganz offensichtlich hartnäckigen Vorstellung, dass es in grauer Vorzeit genau einen Grundzustand für alle Menschen gegeben hat, von dem aus sich die modernen Menschen und ihre Gesellschaftsformen entwickelt haben. Archaische Vorstellung vom "Paradies" oder vom "Goldenen Zeitalter" lassen grüßen. Dies gilt auch für den immer noch populären Gegenentwurf zum Jäger-Sammlerinnen-Modell, der davon ausgeht, dass die Menschen ursprünglich in einem Matriarchat lebten, das erst im Laufe der Zeit durch das Patriarchat ersetzt wurde. Auch diese Hypothese wird oft so verwendet, als basiere sie auf längst gesicherten Fakten, was jedoch schlichtweg nicht der Fall ist. Es muss allerdings gesagt werden, dass für viele Anhänger matriarchalischer Modelle die Evolution aus utopistisch-ideologischen Gründen ein eher rotes Tuch zu sein scheint als eine Erklärungshilfe.
Die Vorstellung, dass es schon seit Jahrzehntausenden völlig unterschiedliche menschliche Überlebensstrategien gegeben haben könnte, liegt uns intuitiv offensichtlich fern. Aber genau dies entspricht dem Bild, das sich den Paläontologen und Archäologen zunehmend bietet (Mann und Frau). Je nach den Gegebenheiten konnten Frauen und Männer alle möglichen Aufgaben erledigen, Frauen waren auch Jägerinnen, Männer auch Sammler. Die Gemeinschaften, die sich so formten, entwickelten völlig unterschiedliche und teilweise konträre Strategien des Zusammenlebens, je nachdem, wie der Selektionsdruck beschaffen war. Nur so konnte sich die menschliche Kommunikation entwickeln, mit den typisch menschlichen Elmenten wie dem Humor, der Musik und der Schrift. Männer und Frauen haben nicht grundsätzlich gegeneinander konkurriert, sondern sie haben sich gegenseitig ergänzt, auch wenn es sicherlich gewisse Präferenzen gab, die sich etwa auf Körperbau und die unveränderbaren Einschränkungen durch Schwangerschaften zurückführen lassen.
Genau diese Botschaft verkündet bei genauem Hinsehen übrigens auch das Farbensehen des Menschen. Denn trotz der "typisch männlichen" Farbenblindheit gibt es immer noch eine Menge Männer, die besser Farben sehen können, als die Durchschnittsfrau. Das gravierende evolutionäre Problem ist somit nicht der geschlechtsspezifische Unterschied, sondern die Frage, wieso Menschen überhaupt Farben wahrnehmen können. Die meisten Säugetiere können es nämlich nicht. Ein Torero reizt einen Stier beispielsweise nicht mit dem Rot des Tuches. Da aber sowohl Frauen, als auch 90% der Männer zumindest drei Farben wahrnehmen können, werden beide Geschlechter auch selektive Vorteile davon haben. Das Farbensehen, sprich: das Differenzieren-Können von Grün und Rot, ist bei den gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Menschen wahrscheinlich dadurch entstanden, dass bestimmte, besonders nahrhafte Blätter in Ostafrika leicht rötlich gefärbt sind. Ansonsten sehen sie aus wie andere, weniger nahrhafte. Nach dieser Hypothese hätten in der Vergangenheit also auch die Männer fleißig gesammelt.
Fazit: Auch denjenigen, die meinen, auf der Grundlage der Evolutionstheorie zu argumentieren, unterlaufen leicht Schnitzer, die das genaue Gegenteil dessen aussagen, was die Evolutionstheorie aufstellt. Dies betrifft vor allem Argumente, die teleologisch aufgebaut sind. Und auch heute schnappt die Falle, in die die Sozialdarwinisten so leicht getappt waren, gerne zu: Die Evolution wird bemüht, um bestimmte, lieb gewonnene gesellschaftliche Gegebenheiten entweder zu untermauern oder um andere, herbei geträumte Veränderungen zu fordern. All diese Sehnsüchte bieten Kreationisten und Intelligent-Design-Jünger somit argumentative Angriffsflächen.