Auf in die Freiheit!
Eine Zwischenbilanz der Korruption im gegenwärtigen China - Teil II
Am 6. April 2002, als Jiang Jifang im Flughafengebäude an der Passkontrolle amerikanischen Beamten seinen Pass reichte, war sein Gesichtsausdruck bestimmt sehr ruhig, wenn er auch diesmal nicht etwa eine Dienstreise nach Amerika machte. Im Vorfeld hatte er keinem erzählt, dass er Frau und Tochter auf der anderen Seite der Pazifischen Ozean besuchen würde. Denn er war dabei, seine Flucht zu bewerkstelligen. Noch war er Leiter des Tabakbüros der Provinz Henan, Parteisekretär und Manager der Tabakfirma derselben Provinz. Ohne Problem war er in Amerika angekommen; die Familienzusammenkunft war perfekt. Einem kürzlich erschienenem Bericht zufolge lebt er im Moment ein luxuriöses Leben in den USA.
Ein Jahr später ist Yang Xiuzhu, Vizebürgermeisterin der Stadt Wenzhou, über Nacht verschwunden und tauchte dann kurz darauf in Amerika wieder auf. Der Anklage zufolge handelt es sich bei ihr um 56 Millionen yuan veruntreuten Geldes. Der Presse zufolge hatte sie bereits vor ihrer Abreise in den teueren Vierteln von New York mindestens fünf Luxuswohnungen gekauft.
Viele chinesische Staatsunternehmen haben Tochterfirmen im Ausland. Nicht wenige Manager solcher Firmen "pendeln" andauernd zwischen dem Stammhaus und der Tochterfirma. Sobald man riecht, dass etwas passieren könnte, bleibt man für immer im Gastgeberland. Bis heute hat China nur mit ca. 20 Ländern, vor allem solchen der Dritten Welt, Auslieferungsverträge unterzeichnet. Um einen Angeklagten aus den westlichen Ländern, in die diese korrupten Kader normalerweise gehen, zurück nach China zu bekommen, gibt es nur den Weg der "freundschaftlichen Kooperation", die leider oft nicht so freundschaftlich endet. De facto ermutigt dies nicht wenige an der Geldquelle Sitzende in China, so viel wie möglich zu stehlen und dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Seit Jahrzehnten ist vor allem Amerika ein sicheres Paradies für viele Korrupte, die das chinesische Gesetz unterlaufen. Nicht nur, dass es Strafffreiheit verheißt; mehr noch: Man kann hier als "Pensionär" mit Muße die amerikanische Freiheit genießen; ja, man kann sogar in seiner teuren Limousine nach Las Vegas fahren, um das Gestohlene zu verspielen. Sagt man doch, die Chinesen sind die größten Zocker der Welt.
Was Kanada betrifft, so kann man auch hier als "betuchter Chinese" ohne Probleme und noch dazu ganz schnell eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, besonders dann, wenn der Ehepartner bereits ansässig ist. Dies ist ein Grund, warum Ehefrauen und Kinder vieler noch in China "arbeitender" Kader sich in diesen Ländern niederlassen. Cheng Sanchang, früherer Bürgermeister und Parteisekretär der Kleinstadt Luohe, war einmal dank seiner mutigen Reformmaßnahmen ziemlich berühmt in China. In der Tat hat er bei der Privatisierung der Staatsunternehmen fast die ganze Stadt verkauft. Nun lebt er als ein reicher Mann in Auckland in Neuseeland. Und seine Tochter lebt jetzt als holländische Staatsbürgerin in Europa.
Ein delikates Unterfangen
Am 31. Oktober 2003 wurde die Convention against Corruption der Vereinten Nationen verabschiedet. Bei den chinesischen Antikorruptions-Behörden spürte man sofort eine Euphorie, begründet in der Hoffnung, dass man nun endlich einen Weg finden werde, jene "Straftäter", die noch im Ausland auf freiem Fuß sind, entsprechend den gültigen Gesetzen zu bestrafen.
Die erste Freude wurde prompt von einem gelungenen "Dreisprung" überschattet, vollendet von Dong Yanbai, dem Vorstandsvorsitzenden des Konsortiums "Henan Autobahnentwicklung": Herr Dong machte sich, mit gutem Grund, aus dem Staube; er wählte dazu die Route Hongkong-Indonesien-Neuseeland. Lai Changxing, dessen Schmuggelgeschäfte mit einer Gesamtvolumen von 25 Milliarden yuan (in unterschiedlichen Branchen) die oberste Etage der Stadtverwaltung Xiamen berüchtigt gemacht haben, verweilt inzwischen noch in Kanada. Die Konvention ist in Kraft getreten, die Schwierigkeiten der Verhaftung bleiben aber nach wie vor bestehen, was nicht nur der chinesischen Regierung Kopfschmerzen macht; auch die Öffentlichkeit findet das Ganze reichlich skandalös. Aber was kann man tun?
- In den allermeisten Fällen weiß man nicht einmal, wohin sich die Leute überhaupt abgesetzt haben. In welchem Land befinden sie sich? Wo dort halten sie sich auf bzw. verstecken sie sich? Wwelche Nummer hat ihr (möglicherweise gefälschter oder illegal von einer Behörde ausgestellter) Pass? Wie man weiß, sind diese Angaben Voraussetzungen für eine mögliche internationale Kooperation bei der Ermittlung und/oder Auslieferung.
- Auch wenn man festgestellt hat, wo sich ein Angeklagter befindet, ist es alles andere als leicht, eine Auslieferung zu bewirken. Denn die Tricks bezüglich der Realisierung der Kapitalflucht ins Ausland sind zumeist ziemlich undurchsichtig. Überdies bevorzugen viele Chinesen anscheinend für den Kapitalexport eher Reisekoffer als Reiseschecks. Man überweist außerdem Geld nach Amerika auf amerikanische Bankkonten - und dies nicht selten mit amerikanischer Hilfe. Oft ist das gestohlene Staatseigentum und das mitgenommene, aus dunklen Quellen stammende "private" Vermögen schon längst private Liegenschaften in Übersee geworden. Es gibt so gut wie keine Beschränkung, wenn man in den USA mit Bargeld ein Haus kauft. Bei solchen Fällen handelt es sich dann um die Kompliziertheit der Beweiserhebung, dass die Immobilie mit illegalem Geld finanziert wurde.
- Das größte Handicap geht auf die unterschiedlichen Rechtssysteme zurück. In China ist, wie in den USA, die Todesstrafe (für diverse Delikte) noch nicht abgeschafft. Nach dem international weitgehend anerkannten Prinzip "Keine Auslieferung, wenn die Todesstrafe droht" stellt das chinesische Festhalten an der Todesstrafe wirklich einen dicken Brocken dar, weil nach dem chinesischen Gesetz viele Angeklagte ein mögliches Todesurteil erwarten würde. Dies ist wohl auch ein Grund, warum seit ein paar Jahren die Summe der veruntreuten Gelder spiralförmig nach oben geht - nach dem Motto: Wenn schon, denn schon. Tod oder Reichtum in Freiheit. Der letzte Rekord wird immer wieder gebrochen, die Spirale dreht sich immer schneller, die Ämter, die involviert sind, reichen auf der Skala der Hierarchie(n) immer höher hinauf, bis zu Ministern und Provinzgouverneuren.
- Die "Convention against Corrutopn" bildet nur eine Rahmenbedingung; jedes Verfahren braucht unzählige Verhandlungen zwischen dem chinesischen Justiz- oder Außenministerium und der jeweiligen Regierung. Erst nachdem genügend Beweise vorgelegt wurden, wird die andere Seite bei den eigenen Justizbehörden eine Bearbeitung des Auslieferungsantrags in die Wege leiten. Dann steht man möglicherweise vor einem anderen Problem, dass nämlich manche Angeklagten bereits Pässe unterschiedlicher Länder besitzen und den Aufenthaltsort vor Einleitung des Verfahrens im derzeitigen Gastland wechseln können.
Wie kann das alles passieren?
Ein wichtiger Grund, warum die Korruption im heutigen China ein seit den 20er und 30er Jahren nicht mehr gekanntes Ausmaß erreicht hat, wird von manchen Kritikern in dem derzeitigen "hybriden" Wirtschaftssystem gesehen. Tatsächlich ist - wie in Russland, Litauen, Bulgarien und ähnlichen Ländern - die derzeitige Transformationszeit vom alten etatistischen "Sozialismus" zum hemmungslosen Raubtier-Kapitalismus in vieler Hinsicht eine goldene Zeit für die Machthaber und ihnen nahestehende Schichten. Einerseits wird die Wirtschaft mit immer schnellerem Tempo privatisiert; andererseits unterliegen viele Branchen, vor allem strategisch wichtige Industriebereiche, nach wie vor der staatlichen Kontrolle oder befinden sich in Staatsbesitz.
Der Fortbestand staatlicher Monopole ist nicht ohne Einfluss auf den ohnehin schon sehr heftigen Konkurrenzkampf zwischen den privaten Unternehmen. Insofern dank unterschiedlich enger Beziehungen zu den Machteliten die Chancen der Unternehmen nicht unbedingt gleich sind, herrscht - in noch stärkerem Ausmaß als in den westlichen Ländern - ein ungleicher Konkurrenzkampf auf diesem insofern für die einzelnen Kapitalisten durchaus nicht völlig freien Riesenmarkt. Die privaten Unternehmen müssen, um etwa einen Auftrag vom Staat zu bekommen, oft schon im Vorfeld Millionen ausgeben, was zum einen die "Produktionskosten", zum anderen die Korruption erhöht.
Auch wenn der Elf-Aquitaine-Skandal, Skandale der Bauwirtschaft im Kontext der Vergabe öffentlicher Aufträge oder die Vergabe von Aufträgen an bestimmte US-Firmen im Rahmen des sogenannten Wiederaufbaus des Iraks belegen, dass enge Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft auch in westlichen Ländern (Frankreich, Deutschland, Italien, USA) korruptionsfördernd sein können und gerade auch bei der illegalen Parteienfinanzierung eine erhebliche Rolle spielen (also die Demokratie unterminieren), ist das Ausmaß und damit die gesellschaftliche Bedeutung der Korruption in China (ebenso wie in Russland) um ein Vielfaches höher.
Dass die um sich greifende Korrumpierbarkeit staatlicher Funktionsträger für private Unternehmer nicht nur ein unerwünschter Kostenfaktor, sondern auch ein Wettbewerbsvorteil sein kann, gehört nachgerade zu den Binsenweisheiten. Der Wettbewerbsvorteil hört allerdings für den einzelnen Unternehmer auf, einer zu sein, wenn Bestechungsgeld - einer privaten Steuer gleich - von vielen oder nahezu allen Bewerbern im Feld einkassiert wird. Hier wird dann die Versuchung groß, den korrupten Beamten offen oder anonym zur Anzeige zu bringen.
Ein Skandal ist geboren; die Presse hat wieder "Futter"! Vielleicht lag der Fall so bei Li Youcan, dem ehemaligen Vizeleiter des Handelsbüros der Provinz Hebei. Li - wie die Medien uns glauben machen wollen, ein "Rekordinhaber" in Sachen Korruption - ist de facto vielleicht nur ein Durchschnittsfall. Er hatte während seiner Tätigkeit in der besagten Funktion die Macht, die Autoimport-Quote der Provinz zu genehmigen: eine Aufgabe, welche (im Kontext der Reste staatlicher Rahmenplanung) vor allem der Verschwendung von Devisen durch Luxusimporte einen gewissen Riegel vorschieben soll.
Von August 2001 bis April 2003 hat er für die von ihm autorisierte Bewilligung einer Einfuhrlizenz für 1249 Autos fünf Mal von einer Pekinger Autofirma Bestechungsgelder im Wert von insgesamt 47,23 Millionen yuan angenommen - dies nur innerhalb von anderthalb Jahren, pro Tag also mehr als 70.000 yuan (gemäß dem heutigen Kurswert: 7.000 Euro)! Es geht hier nur um die "Kooperation" zwischen ihm und einer einzigen Firma. Dabei ist offenbar vor allem an seinen im Ausland studierenden Sohn ein erheblicher Teil der für Li Youcan bestimmten Bestechungssummen geflossen.
Die Kader von heute, die sich als korrupt erweisen, sind dies schon längst nicht mehr der Steigerung ihres Konsums wegen. Insofern sie die früheren gesellschaftlichen Zielvorstellungen nur noch sarkastisch belächeln können, ist ihr eigentliches Ziel die Akkumulation von Kapital für ihre Kinder, Enkelkinder, für die im heutigen China wieder ganz wichtig gewordene "Familie", mithin den Familien-Clan oder auch, wie man einst sagte, die "Sippe"!
Nicht wenige ausländische Unternehmen haben übrigens ebenfalls bei der Korruption von Kadern ihre Hand im Spiel. Um Aufträge von der Zentralregierung, einer regionalen bzw. lokalen Behörde oder einem staatlichen Unternehmen zu erhalten, lässt man nicht selten beträchtliche Summen an individuellen Entscheidungsträger fließen. Insofern ist die Geschäftssumme manchmal nur eine "fiktive Größe".
Die Kooperation kann zum Beispiel wie folgt aussehen: Die Handelspreise der importierten Maschinen oder Rohmaterialien sind angeblich wegen ihrer "guten" Qualität höher als sonst; in Wirklichkeit enthalten sie aber eine hohe "Provision" bzw. der chinesische Verhandlungspartner holte sogar Rabatte heraus, die dann "privatisiert" werden. Der im Ausland sitzende Importeur überweist dabei dem chinesischen Partner sein "verdientes" Geld auf ein privates Konto bei ausländischen Banken (so jenem die komplizierte Kapitaleinfuhr und eventuelle erneute Ausfuhr erspart). Zum Teil legt man die Summen auch direkt in ausländischen Immobilien an.
Eine alte Statistik belegt (mit allen bei Statistiken üblichen Ungenauigkeiten): Von 1997 bis 1999 betrug die Kapitalflucht aus China 53 Milliarden US-Dollar, durchschnittlich 17,7 Milliarden pro Jahr. Im Jahr 2000 machte die Kapitalflucht dagegen bereits 48 Milliarden US-Dollar in einem einzigen Jahr aus! In demselben Jahr bezifferte sich das ganze in China investierte foreign capital auf 40,7 Milliarden US-Dollar. "Plus/minus = minus."
Eine neue Statistik besagt: Vom März 2003 bis September 2004 hat die Bank of China 3.061 Berichte über verdächtige Geldtransfer auf der Basis chinesischer Währung erhalten. Und das staatliche Verwaltungsbüro für Devisen hat im gleichen Zeitraum 175.000 Berichte über suspekten Handel auf Devisenbasis erhalten. Insgesamt betrifft dies Transaktionen im Wert von 9,72 Milliarden US-Dollar.
Ein wichtiger Grund für die allgemein verbreitete Korruption ist natürlich das mangelhaft ausgebildete Kontrollsystem. Man kann es auch so formulieren: Wer kontrolliert eigentlich wen? In China erfolgt die Kontrolle innerhalb der politischen Klasse, also innerhalb der Partei und des Verwaltungsapparats (mit Einschluss der Regierung). Man nennt dies "Selbstkontrolle" oder auch Kontrolle innerhalb der Einheit. Selbstkontrolle natürlich im eigenen Interesse. Oft ist es nur eine formelle Sache, die nicht funktioniert. Was tun, wenn der Kontrolleur sich selbst korrumpieren lässt? Die ganze Abteilung, in welcher der oben erwähnte Li Youcan arbeitete, erwies sich als pechschwarz.
Darf man noch hoffen?
Vielleicht weil es kein Geheimnis mehr ist, dass manche korrumpierte Kader über ihre Kinder im Ausland Geldwäsche betreiben, macht man seit einiger Zeit ein Experiment in einigen Regionen: Die Parteikader in höheren Positionen und die Chefs großer Staatsunternehmen müssen den Vorgang schriftlich melden, wenn bei ihnen Verwandte ersten Grades im Ausland studieren oder sich dort niederlassen wollen.
Für korrupte Kader stellt sich die Frage damit neu: Wo geht man mit welchen schwarzen Einnahmen hin? Für pflichtbewusste Kontrollinstanzen bleibt das Problem des Erhalts und der Prüfung der verlangten Unterlagen. Ob die Neuerung überhaupt - wenigstens ein wenig - hilft, weiß im Moment noch kein Mensch.
Dieser Bericht ist in einer Zeit geschrieben worden, in der in China immer mehr (aus welchen Gründen auch immer) "marode" Staatsbetriebe Bankrott machen und jeden Tag tausend und abertausend Arbeiter entlassen werden, weil ihre Betriebe nicht mehr zahlungsunfähig sind.