Aufbruch oder Niedergang?
Lateinamerika-Forscher versuchen, die Figur Chávez jenseits des Massenmedienspektakels zu analysieren
Neben dem Medieninteresse an Hugo Chávez und Venezuela hat auch der Wissenschaftsbetrieb eine beachtliche Textproduktion vorzuweisen. Bereits im letzten Jahr gab es eine kleinere Schwämme von Büchern zu dem Phänomen mit Titeln wie „Under Attack : Morning Dawn in Venezuela“, „Venezuelan Politics in the Chavez Era: Class, Polarization, and Conflict“ und dem von Chávez selbst verfassten „Venezuela and the New Latin America“. Dieses Jahr geht die Publikationsflut munter weiter. Eva Golinger und Richard Gott haben neue Bücher zum Thema gemacht, außerdem ist von Oliver Diehl und Wolfgang Muno „Venezuela unter Chávez Aufbruch oder Niedergang?“ erschienen – eine sehr lesenswerte Aufarbeitung einer Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Als sich das spanische Imperium im 19. Jahrhundert aufzulösen beginnt und 1898 das endgültige Ende bevorsteht, nachdem es mit Kuba, Puerto Rico und den Philippinen die letzten Kolonien abtreten muss, herrscht in Spanien auf allen Ebenen eine tiefe Krise, die durch die Entwicklungen in Übersee verschlimmert wird. Post-koloniale Fragen werden hüben wie drüben gleichzeitig mit nationalen Fragen aufgeworfen: Während sich die unabhängig gewordenen Gebiete unter post-kolonialen Bedingungen zu Nationalstaaten formieren, steht die spanische Nation davor, sich noch mal grundsätzlich neu zu erfinden – doch selbst dieser Prozess läuft nicht losgelöst von der Peripherie ab.
So macht das krisengeschüttelte Spanien die Vision der hispano-amerikanischen Rasse stark, um die Kolonien an sich zu binden, die Lateinamerikaner kennen derweil ebenfalls in den eigenen Reihen Verfechter einer spanisch-sprachigen Einflusssphäre. Simon Bolivar beispielsweise strebt einen lateinamerikanischen Großstaat an. Doch seine Motivation steht den Visionen der Spanier quasi diametral gegenüber: Die lateinamerikanischen Territorien sollen sich als Einheit begreifen, um sich auf diese Weise besser gegen die spanischen Rückeroberungsgelüste zu Wehr setzen zu können.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bahnt sich eine Renaissance dieser Gemengelage von Interessen und Projektionen an. Bolivar spendet den Namen für einen weltweit für Furore sorgenden Wandel. Unter der Führung des demokratisch gewählten Hugo Chávez hat sich Venezuela die „Bolivarische Revolution“ auf die Fahnen geschrieben. Das in den 1970er Jahren noch als Saudi Arabien der Karibik bekannte Land soll im Zuge dessen aus dem Elend der krisengeschüttelten 1980er und 1990er geführt werden, als Feindbild dient nun mehr die USA, die besonderes Interesse für das mit Ölreichtum gesegnete Venezuela hat. Die seit 1998 verfolgte Politik des Parteilosen hat viele europäische Intellektuelle zu großen Anhängern Venezuelas gemacht, die dort eine beispiellose Veränderung registrieren, einen demokratischen Wandel zwischen Grasswurzelbewegung und Großbühnen-Partizipation.
Allerdings gibt es ebenso viele, die die Entwicklungen in Venezuela ins Licht der Lächerlichkeit ziehen. Um mehr Sachlichkeit und Sachkenntnis in diese Debatte einzuführen, wurde eine Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 18. und 19. Juli 2003 veranstaltet, die Oliver Diehl und Wolfgang Muno nun in einer Anthologie aufgearbeitet haben. Das Spektrum der insgesamt sieben Essays reicht von historischen Darstellungen der venezolanischen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, Analysen der Außenpolitik bis hin zu Betrachtungen filmischer Erzeugnisse aus Caracas. Gemeinsam haben die Beiträge, dass sie eine differenzierte Sicht auf das Phänomen Venezuela zu elaborieren suchen. Enthusiasmus steht genauso wenig an der Tagesordnung wie Schwarzmalerei.
Eine gewisse Faszination können und wollen die deutschen Autoren aber dennoch nicht verbergen: Wie konnte der 1954 geborene Sohn eines Dorfschullehrers, der Berufssoldat wurde und Politikwissenschaft studierte, einen Putschversuch gegen die korrupte Regierung der 1990er anführen und dann vor laufender Kamera nicht nur seine Verantwortung, sondern auch dessen Scheitern eingestehen? Und wie kann es sein, dass dieser Mann einige Jahre später im Rahmen von regulären Wahlen nicht nur gewählt, sondern seitdem immer wieder neu gewählt wurde – trotz Widerstand der Oberschicht und im Grunde allen mächtigen Playern im Lande sowie der USA, die er offen attackiert und für die Armut Venezuelas verantwortlich macht? Ein interessantes Erklärungsangebot liefert Oliver Diehl in seinem Beitrag „Hugo Chavez – Charisma als soziokulturelles Phänomen“, wenn er sagt: „Chavez tritt als Indiz einer – ungern zugestandenen – Diskrepanz zwischen kulturellen Soll- und Ist-Zuständen im Gewissen der venezolanischen Gesellschaft auf.“
Die Politik des mit einer wöchentlichen Sendung im Fernsehen stets auch in den Wohnzimmern der Unterprivilegierten präsenten Staatschefs wird somit konstruktiv mit dem allenthalben zirkulierenden Populismusvorwurf konfrontiert. Denn der Psychologe verweist in seinem übrigens auch ansonsten sehr lesenswerten Beitrag darauf, dass aus einer ganze gesellschaftliche Klassen trennenden Kluft, nun ein Kommunikationsraum geworden ist, der die Nation zusammenführen könnte, sie gleichzeitig aber auch einer ungeheuren Zerreißprobe unterstellt.
Wenn Diehl erklärt, dass Chavez teils kriegerisch, teils versöhnlich auftrete, dann beschreibt er nicht nur die teils widersprüchliche Kombination bestimmter Eigenschaften, die ihn zu einem überaus beliebten Menschen gemacht hat, sondern auch die in diesem Raum vorherrschenden Codes. Krieg und Heilserwartungen stehen dort so dicht beieinander, dass die im Titel des Readers auftauchende Frage „Aufbruch oder Niedergang?“ als rhetorisches Programm der Annäherung zu begreifen ist. Weniger gilt es, diese Frage umfassend, geschweige denn eindeutig zu beantworten, als sie vielmehr als unauflösbaren Widerspruch der gegenwärtigen Situation zu begreifen.
Eine Situation, die in den nächsten Jahren Bestand haben wird und sich früher oder später zum Guten wenden könnte. Wie die Herausgeber in ihrem Schlusswort anmerken: „Das Experiment der „Bolivarischen Revolution“ wird so lange toleriert werden wie es Hugo Chavez gelingt, demokratische Mehrheiten an die Wahlurnen zu ziehen. Da dies auf absehbare Zeit der Fall sein wird, steht es ausländischen Beobachtern gut an, sich differenzierter mit dem Phänomen „Chavez“ auseinander zu setzen. Es könnte durchaus sein, dass das Experiment in Lateinamerika Nachahmer findet!“
Oliver Diehl, Wolfgang Muno (Hg.): Venezuela unter Chávez – Aufbruch oder Niedergang? Vervuert 2005. 176 S., € 18.00