Aufstände im Iran: Das sind die wichtigsten Fragen und Antworten

Seite 4: Kann das Regime noch auf Unterstützung aus dem Volk zählen?

Gegen die Massenproteste von 2009, als in Teheran Hunderttausende gegen Wahlfälschung protestierten, gelang es der iranischen Führung, noch Zehntausende Gegendemonstranten zu mobilisieren. Bei den jüngsten Protesten sind es nur noch einige Tausend, wobei das hohe Alter der meisten Gegendemonstranten auffällt.

Eine Umfrage des iranischen Parlaments hat gezeigt, dass eine Mehrheit der Iraner gegen den Kopftuchzwang ist – was dem verbreiteten Wunsch nach Trennung von Politik und Religion entspricht.

Das mächtigste Ass im Ärmel des Regimes ist aber weiterhin der gewaltbereite, extremistische Kern seiner Anhänger. Diese Menschen leben in einer von Regierungspropaganda gespeisten Parallelwelt und unterstützen das Regime oft tatkräftig beim Niederschlagen der Proteste.

Eine Mehrheit der Iraner wünscht Veränderung. Warum gewährt die iranische Führung sie nicht?

Die Islamische Republik steht und fällt mit dem Kopftuchzwang – genauso wie mit allen anderen islamischen Sittengesetzen. Die Revolution gegen den Schah war eine islamische, daraus bezieht das aktuelle Staatssystem, das sich mit der Zeit immer mehr zur hemmungslosen und unverhohlenen Kleptokratie entwickelt hat, seine einzige Legitimation.

Die Machthaber im Land würden durch eine kulturelle Öffnung des Landes keine neuen Anhänger gewinnen, dafür aber die Hardliner, deren Unterstützung sie dringend brauchen, für immer verlieren. Deshalb wird die iranische Führung ihr islamistisches Fundament um jeden Preis verteidigen – auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit.

Wie geht es nun weiter?

Kurzfristig ist das wahrscheinlichste Szenario, dass es der Führung abermals gelingt, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen und die Lage zu stabilisieren. Die Errungenschaft der Demonstranten und ihrer zahlreichen Opfer besteht in diesem Fall im Aufzeigen einer roten Linie und im Anstoßen einer landesweiten Debatte über Frauenrechte, die zwar nicht öffentlich ausgetragen wird, aber in den Familien zu einer weiteren kulturellen Öffnung und in politischen Kreisen bestenfalls zu einer graduellen Lockerung der islamischen Sittenregeln führen könnte.

Und langfristig?

Ein Umsturz im Iran würde einen historischen Präzedenzfall setzen: Es wäre die erste antiislamistische Revolution der Geschichte. Ob es dazu kommt, hängt in erster Linie von kulturellen Veränderungen ab, die im Iran schon seit einigen Jahrzehnten im Gange sind.

Dazu gehört vor allem das Bewusstsein vom Recht auf Individualität und Privatsphäre, das in den kollektivistischen Kulturen des Nahen Ostens nur gering ausgeprägt ist. Junge Iranerinnen und Iraner, deren Eltern bei der Berufs- und Partnerwahl der Kinder noch immer ein Mitspracherecht einfordern, tragen diesen Kampf um Selbstbestimmung täglich neu aus.

Was bedeutet der kulturelle Wandel, der sich im Iran gerade vollzieht, für die Politik?

Noch immer halten sich viele areligiöse und moderate Iraner in Anwesenheit ihrer religiösen Mitbürger aus bloßem Respekt oder Bequemlichkeit an die islamischen Sitten- und Kleidungsregeln.

Auf diese Anpassung der Moderaten ist die Islamische Republik mit ihren Scharia-Gesetzen angewiesen. Neulich forderte der iranische Präsident Ebrahim Raisi von der CNN-Journalistin Christiane Amanpour, dass diese bei ihrem Interview in New York "aus Respekt" das Kopftuch trage, woraufhin die Journalistin das Interview absagte.

Sobald auch die iranische Mehrheitsgesellschaft erkennt, dass Respekt nicht die Anpassung an den religiös begründeten Willen der anderen, sondern die gegenseitige Toleranz unterschiedlicher Lebensstile bedeutet, ist die islamistische Führung am Ende.

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