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Aufstand der Anständigen: Neuer Anlauf nach historischem Scheitern

Foto: Leonhard Lenz / CC0 1.0

Im Jahr 2000 rief der Kanzler zum "Aufstand der Anständigen". Weitere staatliche Initiativen gegen Rechts blieben ohne nachhaltigen Erfolg. Ein Rückblick.

Die Zahlen sind nicht exakt überprüfbar – aber beeindruckende Bilder aus mehreren Städten lassen sie durchaus plausibel erscheinen: Hunderttausende Menschen waren es sicher, die am Wochenende bundesweit gegen Rassismus und Rechtsextremismus auf die Straße gegangen sind.

Allein in Berlin seien es am Sonntag 350.000 gewesen, teilten das Netzwerk Campact und Fridays for Future mit. In München sprach das Organisationsteam von rund 250.000 Menschen. Einschließlich der Demonstrierenden am Freitag und Samstag wurde eine Gesamtzahl von 1,4 Millionen errechnet. In Hamburg und München mussten die Versammlungen wegen des unerwarteten Andrangs abgebrochen werden.

Nicht zum ersten Mal hatten SPD-Politiker zum "Aufstand der Anständigen" aufgerufen – sie sind aber weder allein für diese Massenmobilisierung verantwortlich, noch blieb bei den Protesten Kritik an den Ampel-Parteien [1] aus. Hintergrund ist auch, dass mit staatstragenden Initiativen gegen Rechts bisher kein nachhaltiger Erfolg erzielt werden konnte.

2000: Aufstand der Anständigen 1.0

Eine Partei rechts von der Union saß noch lange nicht Bundestag, als es zum ersten "Aufstand der Anständigen" kam. Anlass für die erste Massenaktion unter diesem Motto [2], zu der vor gut 23 Jahren der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) aufgerufen hatte, war ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge am 2. Oktober 2000.

Dass wenige Wochen zuvor der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) seine bundesweite Mordserie an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund begonnen hatte, war damals der Öffentlichkeit unbekannt. Die Familie und vor allem die Witwe des in Nürnberg erschossenen Blumenhändlers Enver Simsek wurden von der Polizei erst einmal selbst verdächtigt.

Was am ersten Aufstand der Anständigen vorbeiging

Die polizeiliche Sonderkommission, die sich in den nächsten Jahren mit der Mordserie befassen sollte, ermittelte vornehmlich in migrantischen Milieus und erhielt dementsprechend den Namen "Soko Bosporus"; in großen Medien war von "Döner-Morden" die Rede. Dies wurde später – nach Bekanntwerden des NSU – zum Unwort des Jahres 2011 [3] erklärt.

Vorher forderten auch Hunderttausende, die im November 2000 beim "Aufstand der Anständigen" gegen rechte Gewalt demonstriert hatten, größtenteils keine anderweitigen Ermittlungen zu dieser Mordserie.

Im Mai und im Juni 2006 fanden in Dortmund und Kassel wesentlich kleinere Demonstrationen unter dem Motto "Kein zehntes Opfer" statt – denn nach Enver Simsek waren inzwischen bundesweit acht weitere Männer türkischer, kurdischer und griechischer Herkunft bei der Arbeit in kleinen Geschäften erschossen worden.

Die Demonstrationen in Dortmund und Kassel wurden von einem kleinen Kreis aus Angehörigen und Unterstützern organisiert. Sie äußerten damals schon den Verdacht, dass es ein rassistisches Mordmotiv gab [4]. Doch es sollte noch mehr als fünf Jahre dauern, bis die Urheberschaft von Neonazis offiziell den Sicherheitsbehörden bekannt wurde.

Staatliche Verstrickungen in rechten Terror

Wie viel vor allem der Verfassungsschutz vorher gewusst oder geahnt hatte, wurde daraufhin Gegenstand von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern. Auch im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier angeklagte Unterstützer vor dem Oberlandesgericht München stellten Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage immer wieder Beweisanträge, um die Rolle des Inlandsgeheimdienstes näher zu beleuchten – viele dieser Anträge wurden jedoch abgelehnt.

Akten über V-Leute aus der Thüringer Neonaziszene, aus der auch die mutmaßlichen Haupttäter stammten, waren im Bundesamt für Verfassungsschutz wenige Tage nach Bekanntwerden des NSU bewusst vernichtet worden.

Nach Aussage von Beteiligten, weil man der Behörde angesichts der gut platzierten Quellen sonst nicht geglaubt hätte, dass sie nichts gewusst habe. Es beriefen sich auch mehrere Geheimdienstler vor Gericht und in Untersuchungsausschüssen auf Erinnerungslücken.

Aufarbeitung in Zivilgesellschaft und Antifa

Eine Sensibilisierung der demokratischen Öffentlichkeit hatte eingesetzt, bei zahlreichen Veranstaltungen diskutierten zivilgesellschaftliche Organisationen, Antifa-Gruppen und Gewerkschafter selbstkritisch, warum auch sie nicht früher Fragen aufgeworfen hatten.

Erinnert wurde auch daran, dass im Jahr 2003 das erste Verbotsverfahren gegen die neofaschistische NPD laut Bundesverfassungsgericht an deren "mangelnder Staatsfreiheit" [5] gescheitert war, weil zu viele V-Leute des Verfassungsschutzes in Führungsgremien der NPD gesessen hatten.

Bundesförderprogramme mit Extremismusklausel

Allerdings konnten antifaschistische Initiativen, die sich staatskritisch und "verschwörungstheoretisch" äußerten, was die V-Leute-Praxis und die Rolle der Sicherheitsbehörden im NSU-Skandal anging, zeitweise nicht sicher sein, ob sie sich damit den Zugang zu Fördergeldern für ihre Projekte verbauten.

Von 2011 bis Anfang 2014 mussten Antragsteller für die drei Bundesförderprogramme "Toleranz fördern – Kompetenz stärken", "Initiative Demokratie Stärken" und "Zusammenhalt durch Teilhabe" eine sogenannte Demokratieerklärung unterschreiben, die auch als "Extremismusklausel" bezeichnet wurde.

Führungswechsel beim Verfassungsschutz

Außerdem waren 2012 beim Inlandsgeheimdienst personelle Konsequenzen aus dem NSU-Skandal gezogen worden, die heute in einem anderen Licht erscheinen. Als Deutschlands oberster Verfassungsschützer hatte Heinz Fromm seinen Hut nehmen müssen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz leitete ab 2012 Hans-Georg Maaßen, gegen den mittlerweile ein Ausschlussverfahren in der CDU läuft, weil er sich weiter nach rechts entwickelt hat, als es hochrangige Parteifreunde für statthaft halten. Vorgeworfen werden ihm völkische und rassistische Verschwörungstheorien. Sechs Jahre lang hatte Maaßen von 2012 bis 2018 die Defintionsmacht über Extremismus in Deutschland.

2015: Wir schaffen das – Refugees Welcome

Maaßen war nicht einverstanden mit dem damaligen Kurs der CDU und der Solidaritätswelle für Geflüchtete, die stark von einer Äußerung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel inspiriert worden war: "Wir schaffen das" hatte die CDU-Politikerin im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 gesagt – und entschieden, das Schengener Abkommen nicht außer Kraft zu setzen und somit die deutschen Grenzen nicht zu schließen.

An EU-Binnengrenzen waren schon seit Jahren die Kontrollen abgeschafft – dennoch hielt sich in rechten Kreisen die Redewendung, Merkel habe die Grenzen geöffnet. Von der Solidaritätswelle wurde aber kurzzeitig sogar die Bild-Zeitung erfasst [6], die zuvor oft als Organ der Stimmungsmache gegen Asylsuchende kritisiert worden war.

Der Slogan "Refugees welcome" war populär – es gab durchaus Parallelen zum "Aufstand der Anständigen". Eine rassistische Gewaltwelle konnte dadurch nicht verhindert werden, aber anders als im Fall des NSU wurde sie als solche bemerkt, auch wenn es bei weitem nicht immer Bekennerschreiben gab, wenn Asylsuchende angegriffen oder Unterkünfte für Geflüchtete zum Anschlagsziel wurden. Im dritten Quartal 2015 verdoppelte sich die Zahl entsprechender Straftaten nahezu [7].

2017 scheiterte das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD – dieses Mal aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit, während die Richter an ihrer Verfassungsfeindlichkeit keine Zweifel hatten. Die NPD war aber durch interne Streitereien geschwächt und seit 2016 in keinem Landtag mehr vertreten.

Der Aufstieg der AfD

Die 2013 gegründete AfD erhielt unterdessen immer mehr Zuspruch, galt sie doch im Vergleich zur NPD als gemäßigt und wurde unter Bernd Lucke von vielen in erster Linie als Partei der Euro-Kritiker wahrgenommen. 2015 verschärfte sich aber ihr Ton gegen eine aus ihrer Sicht zu liberale Flüchtlingspolitik.

Mehrere AfD-Politiker wurden inzwischen wegen Volksverhetzung angeklagt und zum Teil auch verurteilt. Bereits 2017 war für die spätere Verfasserin des Enthüllungsbuchs "Inside AfD", Franziska Schreiber, das Maß voll. Sie trat somit im selben Jahr aus der Partei aus wie die bisherige AfD-Ko-Chefin Frauke Petry. Schreiber warnt seither vor ihrer Ex-Partei.

Nach eigenen Angaben erging es ihr danach wie nach einem Sektenaustritt [8] – sie werde bedroht und beleidigt, sagte sie im Jahr darauf in einem Interview: "Man wünscht mir, dass ich von Flüchtlingen vergewaltigt werde. Für die AfD bin ich eine Verräterin und kollaboriere mit dem Feind."

Die AfD saß inzwischen im Bundestag – 2017 hatte sie gut 12,6 Prozent der Stimmen erreicht. "Wir müssen uns entscheiden, ob wir Schafe oder Wölfe sein wollen. Und wir entscheiden uns dafür, Wölfe zu sein", sagte der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke 2018. Parallelen zu einem Goebbels-Zitat wurden gezogen. Der spätere NS-Propagandaminister hatte 1928 gesagt: "Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafsherde einbricht, so kommen wir."

2018: Unteilbar

Im Oktober 2018 ging erstmals ein breites Bündnis unter dem Namen "Unteilbar" in Berlin gegen Rassismus auf die Straße – neben Gewerkschaften und NGOs wie Pro Asyl beteiligten sich auch Gliederungen der SPD, die damals im Bund als Juniorpartner der CDU regierte, an der Großdemonstration unter dem Motto "für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung". Auch die damalige Oppositionspartei Bündnis90/Die Grünen und Die Linke waren vertreten. In seiner Breite und Ausrichtung war dieses Bündnis mit dem "Aufstand der Anständigen" vergleichbar.

Die Berliner CDU beteiligte sich nicht an der Demonstration [9], weil der Anmelder ein Anwalt der "Roten Hilfe" sei und "linksextremistische Verbrecher" schütze. Zugleich wurde die CDU wegen ihrer Ausrichtung unter Merkel bereits scharf von rechts angegriffen.

Ein weniger beachteter AfD-Leak

In internen Chats von AfD-Poltikern wurde die damalige Kanzlerin 2019 wegen ihrer vermeintlichen Grenzöffnung sogar als "Ratte Merkel" und als "Volksverräterin" bezeichnet, die "lebenslang in den Knast" gehöre. Geleakt wurden diese Äußerungen im Mai 2022 von NDR und WDR. [10]

Auch deutliche Umsturzrhetorik fand sich demnach in der Gruppe: "Wir müssen wohl warten, bis das Alte Regime wirtschaftlich ans Ende kommt und der Funke aus Österreich, Italien, Frankreich usw. überspringt. Das wird kommen und für die dann ebenfalls kommenden gnadenlosen Kämpfe müssen wir uns rüsten."

2024: Aufstand der Anständigen 2.0

Gleichwohl hatte es in der öffentlichen Wahrnehmung eine neue Qualität, was das Recherche-Netzwerk Correctiv am 10. Januar dieses Jahres über ein nichtöffentliches Treffen [11] von AfD-Politikern und rechtsextremen "Identitären" in Potsdam berichtete. Unter dem Stichwort "Remigration" sollen demnach auch "nicht assimilierte Staatsbürger" aus dem Land gedrängt werden – sei es durch "maßgeschneiderte Gesetze" und massiven "Anpassungsdruck", oder – wie der Bericht nahelegt – letztendlich durch Vertreibung.

Mehrere AfD-Politiker bekräftigten daraufhin "millionenfache" Abschiebungen zu planen. Dies sei "kein Geheimplan", sondern ein Versprechen, so der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer. In bundesweiten Umfragen steht seine Partei mittlerweile bei mehr als 20 Prozent.

Mehr als eine Million Menschen sind bundesweit in den letzten Tagen auf die Straße gegangen, um sich lautstark gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu positionieren. Auch die SPD-Bundestagsfraktion hatte zum neuen "Aufstand der Anständigen" aufgerufen [12].

Etablierte Parteien führten nicht überall Regie

Die Bandbreite derer, die an Großdemonstrationen in mehreren Städten teilnahmen, reicht von prominenten Mitgliedern der Regierungsparteien bis hin zu Gruppen und Personen, die der Ampel-Regierung vorwerfen, mit der gerade beschlossenen Verschärfung der Asylgesetze der AfD entgegenzukommen. Teilweise wurde auch davor gewarnt, dass die Sparmaßnahmen der Ampel weiteren Frust erzeugen und der AfD nützen könnten.

Und: Etablierte Parteien führten bei den Großdemos der letzten Tage keineswegs überall Regie. In München zum Beispiel hatte die auch als Klima-Aktivistin bekannte Lehramtsstudentin Lisa Pöttinger eine Demonstration unter dem Motto "Gemeinsam gegen Rechts" angemeldet, die mit bis zu 250.000 Teilnehmern so groß wurde, dass sie wegen des großen Andrangs abgebrochen werden musste. Mehr als 230 Organisationen hatten sich dem Aufruf angeschlossen.

Nichtstaatliche Dynamik gegen rechte Politik

Die Anmelderin bezeichnete sowohl die CSU als auch "konkrete Ampel-Politik" als rechts [13] und hatte es ausdrücklich begrüßt, dass der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) ausdrücklich nicht zur Demo kommen wollte. Nun wirft die Bild ihr vor, sie sei "selbst extrem".

Parallel zum staatstragenden Aufruf zum "Aufstand der Anständigen" scheint jedenfalls auch eine nichtstaatliche, in Teilen staatskritische Dynamik entstanden zu sein, die dem Wunsch nach einem stärkeren Gegengewicht von links Ausdruck verleiht.

Zugleich begrüßten Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der aktuelle Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang die zahlreichen Demonstrationen. "Es wäre wünschenswert, wenn die schweigende Mehrheit unserer Bevölkerung klar gegen Extremismus und Antisemitismus Position beziehen würde", sagte Haldenwang der Westdeutschen Zeitung.

Er sprach demnach nicht von Rechtsextremismus, sondern von "Extremismus" allgemein.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/KeremSchamberg/status/1749080460901175723/photo/1
[2] https://taz.de/Abenteuer-Menschlichkeit/!1202090/
[3] https://taz.de/Unwort-des-Jahres-gewaehlt/!5102982/
[4] https://taz.de/Stille-Trauer-laute-Mahnung/!420305/
[5] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2003/bvg03-022.html
[6] https://www.bild.de/byou/2015/fluechtling/12-gruende-warum-wir-uns-auf-euch-freuen-42397998.bild.html
[7] https://rp-online.de/politik/deutschland/gewalt-gegen-fluechtlinge-nimmt-deutlich-zu_aid-9526361
[8] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_84259730/afd-aussteigerin-man-wuenscht-dass-ich-von-fluechtlingen-vergewaltigt-werde-.html
[9] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-10/unteilbar-demonstration-berlin-gegen-rechts/seite-2
[10] https://www.ndr.de/der_ndr/presse/mitteilungen/Recherche-von-NDR-WDR-AfD-Leak-enthuellt-mehr-als-40000-geheime-Nachrichten-aus-der-Bundestagsfraktion-der-Partei,pressemeldungndr23170.html
[11] https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/
[12] https://www.spdfraktion.de/themen/wir-brauchen-aufstand-anstaendigen
[13] https://twitter.com/lisapoettinger/status/1748710616674574787?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Etweet