Aus dem neoliberalen Gruselkabinett
Wenn die Titanic evakuiert wird, und die Rettungsboote für die erste Klasse klar gemacht werden, kann dies für die Passagiere der dritten heißen, dass man soeben im Begriff ist, ihnen ein Freibad zu spendieren.
Manche Worte sind so gut, dass sie Sprichworte werden, und daran ist nur das eine schlecht, dass man, sobald sie sprichwörtlich geworden, ihren Sinn vergisst. Beispiel: Wenn zwei das gleiche sagen, muss es deswegen noch lange nicht dasselbe sein. Das rührt bekanntlich daher, dass alles seine zwei Seiten hat. Wäre dies nicht nur bekannt, sondern auch erkannt, würde es den Wohlhabenden, die meinen, dass, was ihnen nützt, den anderen auch nicht schaden kann, nicht so leicht fallen, ihre partikularen Gelüste als Menschheitsinteressen zu verkaufen.
So verheißt z.B. die vielbeschworene Rede vom "Rückzug des Staates" zwar für alle das gleiche, bedeutet aber mitnichten für jeden dasselbe: Für die einen verspricht der Abbau des Staates ein Heidengeschäft, weil damit profitable, im Staat verankerte Rechte verhökert werden, die den "happy few" nur allzu gerne verlustig gehen, weil sie sich ohnehin Besseres leisten können. Diese nehmen im übrigen aber gerne dann einen starken Staat in Anspruch, wenn es um die Sicherung bzw. um den Ausbau ihrer Profite geht (siehe die Debatte um das Copyright). Für die anderen bedeutet ein schwacher Staat den Verlust des Rechts auf staatliche Hilfe, für die man in Zukunft mehr Geld ausgeben muss, auch wenn man sich kurzfristig Steuern spart. Freilich muss dann ein starker Staat für die passenden Repressionsinstrumente sorgen, die diesen Rechtstransfer gewährleisten. Nimmt man auf der einen Seite Staat weg, wächst also auf der anderen Staat hinzu; und das kommt den einen zugute, den anderen nicht. Das gleiche für alle bedeutet eben nicht für jeden dasselbe: Wenn die Titanic evakuiert wird, und die Rettungsboote für die erste Klasse klar gemacht werden, kann dies für die Passagiere der dritten heißen, dass man soeben im Begriff ist, ihnen ein Freibad zu spendieren.
Ein wesentliches Merkmal der Struktur des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels ist der sowohl von Politik als auch von Wirtschaft betriebene, direkte Austausch politischer Entscheidungsfindung (die bislang im Rahmen der repräsentativen Demokratie nationalstaatlich koordiniert war) durch wirtschaftliche Prozesse, die zum Nutzen von transnationalen Unternehmen von überstaatlichen Instanzen wie der WTO, Weltbank oder IWF erzwungen werden. Bemerkenswert ist hierbei, dass weder die Konzerne noch die Institutionen über irgend eine demokratische Legitimation verfügen und die Beschlüsse über solch schwerwiegende Maßnahmen ohne öffentliche Debatte geführt werden.
In einer Epoche, in welcher der Akkumulationsmodus des Kapitals von der Erwirtschaftung des Profits aus Erlösen der Produktion weitgehend abgekoppelt und auf den "shareholder value" ausgerichtet wurde, ist gleichzeitig die Tendenz zur Suspendierung der politischen Souveränität durch eine sich zunehmend totalitär gebärdende Ökonomie zu beobachten, die sich nicht mehr dem politische Mehrheiten beschaffenden Staatsbürger zu stellen braucht, sondern seinen Vorständen und bestenfalls seinen Aktionären noch Rechenschaft schuldig ist. Die Folgen sind eine immer hemmungslosere Ausdehnung des Prinzips der Profitmaximierung auf bislang kommerziell ungenutzte Gebiete, die Einschränkung der staatlichen Gestaltungshoheit in wirtschafts- und sozialpolitischen Belangen und damit einhergehend die Verringerung der Möglichkeiten der Bürger, regulativ auf die politischen Vorgänge einzuwirken. Gleichzeitig finden die Vorbereitungen für diesen Prozess quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt:
Entweder werden die Informationen über solche Prozesse der Bevölkerung gleich vorenthalten (wie beim "Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit in Zivilsachen, vgl.Muss Deutschland bald amerikanische Copyrightstandards durchsetzen?) oder sie werden in den Medien verschleiert, indem zwar die Fakten genannt, die elementaren Zusammenhänge und Konsequenzen aber ausgeblendet und/oder Neben- zu Hauptschauplätzen erklärt werden.
Es scheint, als wären die Mächtigen zu der Übereinkunft gekommen, dass Gerechtigkeitslücken, die das ökonomische System schafft, durch Demokratiedefizite geschlossen werden sollen. Die hausgemachten Probleme der Marktwirtschaft sollen durch einen potenzierten Kapitalismus kuriert werden, und ausgerechnet der Markt, der für die gravierenden aktuellen Gerechtigkeitsmängel verantwortlich ist, soll zum Moderator sozialer Gerechtigkeit, mithin also der Bock zum Gärtner gemacht werden.
Ein vorläufiger Höhepunkt dieser neoliberalen Götterdämmerung sind die Verhandlungen über das GATS-Abkommen, deren erfolgreicher Abschluss nicht unbedingt rosige Aussichten für die Bevölkerung der 144 WTO-Mitgliedsstaaten verspricht. Trotzdem sind sie bislang kaum in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Kein Wunder: Sie finden Hinter verschlossenen Türen statt, und in den offiziellen Medien finden sie trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz kaum Beachtung. Von Maria Mies ist das GATS deswegen zutreffend als "das MAI durch die Hintertür" bezeichnet worden
Das GATS (General Agreement on Trade in Services, zu deutsch: Allgemeines Abkommen über den Dienstleistungsverkehr), nicht zu verwechseln mit dem GATT (Allgemeines Abkommen über Zölle und Handel, das 1948 zwischen den USA und Westeuropa vereinbart und 1996 durch die WTO abgelöst) wurde 1994, im selben Jahr wie die WTO, ins Leben gerufen.
Während die WTO - eine globale Institution mit gesetzgebender und richterlicher Kompetenz, die immerhin befähigt ist, Nationalstaaten maßzuregeln, die gegen ihre Bestimmungen verstoßen - sich um den kommerziellen Austausch von Waren kümmert, soll in der Obhut des GATS der Handel mit Dienstleistungen liegen. Wie bei der WTO ist den Machern des GATS nicht an einer weltweiten Einführung von sozialen und ökologischen Mindeststandards gelegen, sondern es geht um die Gewährleistung der reibungslosen Erweiterung der Wertschöpfungskette in bislang dem Prinzip der Profitmaximierung nicht unterworfenen (da staatlich subventionierten) Dienstleistungen: Mit dem GATS sollen multinationalen Unternehmen bindende und unumstößliche Verwertungsrechte auf sämtliche Dienstleistungsbereiche zur öffentlichen Grundversorgung in den WTO-Mitgliedsstaaten garantiert und die Domäne der öffentlichen Dienstleistungen womöglich gar illegalisiert werden.
Dies würde u.a. das Bildungs- und Gesundheitswesen, Kinder- und Altenbetreuung, die Energie- und Wasserversorgung, Abfallwirtschaft, Umweltschutzdienste, Transport, Post, Museen, Büchereien, Versicherungen, Tourismus, Presse, Funk und Fernsehen betreffen. Besonders die Bereiche Gesundheit, Bildung und Wasserversorgung versprechen hierbei für die Konzerne einen überaus saftigen Milliarden-Bissen. Mit anderen Worten: kraft der GATS-Verhandlungen soll ein Regularium beschlossen werden, um die Deregulierung im Sinne der wirtschaftlich mächtigsten Akteure regulieren zu können.
Was das für das Gros der betroffenen Bevölkerung bedeuten kann, lässt sich anhand des Buches Global Brutal von Michel Chossudovski (vgl. Global Brutal, Globale Armut im späten 20. Jahrhundert) studieren, der dem Schicksal jener Länder Asiens, Lateinamerikas, Afrikas und des ehemaligen Ostblocks, aber auch Staaten wie Kanada nachgegangen ist, die in den Sog der von WTO, IWF und Weltbank verordneten und den GATS-Bestimmungen analogen "Strukturanpassungsmaßnahmen" geraten sind und in das kalte Wasser einer durchgehenden Deregulierung und Liberalisierung sämtlicher gesellschaftlicher Segmente geworfen wurden und somit auch die dürftigste Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Grundgütern zu einer Nebenfolge von Geldvermehrungsprozessen herabsetzt. Was es z.B. bedeutet, wenn in Peru 1990 über Nacht die Preise für Treibstoff um 2968 Prozent und für Brot um 1150 Prozent steigen, kann man sich vielleicht mit ein wenig Gänsehaut vorstellen:
Viele Länder erlebten eine Schockbehandlung, doch das Ausmaß der wirtschaftlichen Manipulation in Peru war beispiellos. Die sozialen Konsequenzen waren vernichtend: Während ein Landarbeiter in den Nordostprovinzen Perus im August 1990 umgerechnet 7,50 Dollar im Monat verdiente - das Äquivalent von einem Hamburger und einer Limonade -, lagen die Verbraucherpreise in Lima höher als in New York. Das Realeinkommen sank im Lauf des August um 60 Prozent (...). Mitte 1991 belief sich das Niveau des Realeinkommens auf weniger als 15 Prozent seines Werts von 1974 (...).
Gewiss ist das ein krasses Beispiel, aber es wirft auch ein Licht auf die Dimensionen, welche die Dinge annehmen könnten, wenn die Leute für ihre Konzepte eine legale Handhabe bekommen würden, die von der Vollkaskomentalität der Bevölkerung und dem falschen Festhalten an überkommenen gesellschaftlichen Besitzständen reden und von den Menschen Flexibilität, Eigenverantwortung und Risikobereitschaft fordern.
In einer Zeit, in der die Gewerkschaften als assoziierte Arbeitnehmerschaft mit dem Klischee des absoluten Anachronismus zu kämpfen haben und die kläffenden Pudel des Feuilletons schenkelklopfend vor einer "Engelen-Keferisierung der Republik" warnen, tun sich 34 Unternehmen (u.a. Allianz, Bertelsmann, Commerzbank, Daimler Chrysler, IBM, Telekom, Vivendi) und 37 Verbände der Dienstleistungsindustrie zu einem European Service Forum zusammen, um ihre Liberalisierungsforderungen auf den Treffen mit der sogenannten 133er-Kommission (die sich aus der EU-Kommission und den Wirtschaftsministern der einzelnen Länder zusammensetzt) wirkungsmächtig stellen zu können, aus denen sich wiederum das Fundament der GATS-Verhandlungen speist. Dabei schadet es ihrem Ansinnen sicher wenig, wenn das "European Service Forum" über den Verlauf der GATS-Runden, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, anscheinend durch die EU bestens informiert wird, während Parlamentarier der EU und Abgeordnete des Europäischen Parlaments nur unzureichender Unterrichtung erfreuen.
Laut Scott Sinclair, dem Autor des Buches "GATS. How the WTO`s service negotiations threaten democracy", verfolgen die Initiatoren der GATS-Verhandlungen drei Strategien : Erstens soll den Konzernen der Zugang zu fremden Dienstleistungsmärkten geöffnet werden. Zweitens sollen die heimischen Regierungen davon abgehalten werden, diesen Zugang des freien Markts durch nationale Vorschriften zu reglementieren, und zum Dritten soll es den Nationalstaaten unmöglich gemacht werden, überhaupt den Dienstleistungssektor zu subventionieren. Alles in allem haben wir es also durchaus mit einer Jammer und Schaudern erweckenden Palette von Maßnahmen aus dem neoliberalen Gruselkabinett zu tun, die leider nicht von Doktor Frankenstein, sondern von Denkern im Umkreis solcher Menschenfreunde wie Margret Thatcher und Ronald Reagan ersonnen wurden. Und wer das in Ordnung findet und von der Kreativität des Marktes schwärmt, der braucht sich nicht wundern und auch nicht beklagen, wenn eines Tages die charmante Anwesenheit von Geschlechtsorganen durch reizende Sinnsprüche á la "This penis is sponsored by Levis" tattooweise ergänzt wird, denn das wäre nur die Konsequenz daraus und würde dann vermutlich auch nicht mehr das Schlimmste sein.
Bis zum 31.03.03 soll jedes WTO-Mitglied sein Verhandlungsangebot aufgrund der Basis der an ihn gerichteten Forderungen erstellen. In Kanada sind Städte und Gemeinden dazu übergangen, Widerstand gegen das GATS zu proklamieren. So hat z.B. Vancouver eine Resolution gegen das GATS verabschiedet.
Es ist nämlich kein Naturgesetz, dass der gegenwärtige technologische Fortschritt, der beachtlich ist und grundsätzlich der ganzen Menschheit zugute kommen könnte, der Korrektur durch einen ebenso beachtlichen Rückschritt in der Politik bedarf, der einer Minderheit Milliarden-Profite zusichert, während der Rest der Menschen zu darben hat. Sondern es ist das vorläufige Ergebnis eines gesellschaftlichen Kampfes, der bislang ohne großen Widerstand von oben gegen unten geführt wird. In einem Moment, in dem die Vokabel "Klassenkampf" im öffentlichen Bewusstsein allenfalls noch als Mythos, als Un- und Schimpfwort für "marxistische Fossilien" Verwendung findet, erstrahlt dieser in Gestalt eines verschärft auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführten, neoliberalen "Klassenkampfs von oben" in neuem Glanz. Zwar scheint heute vielen die Frage Brechts nach den Eigentumsverhältnissen als anachronistisch und fern aller Realität. Tatsächlich wird sie aber ausgerechnet von denen auf die Tagesordnung gesetzt, die sie seit 1989 für obsolet erklärt haben. Denn:
Was ist die Aneignung der öffentlichen Dienste, der Kommunikationsmittel und Medien, des Wassers, des geistigen Eigentums, der biologischen Ressourcen, die Aneignung der Renten, der Krankenversicherung - was ist das anderes als das Stellen der Eigentumsfrage durch das Kapital.
Leo Mayer
Deswegen kann die beste Antwort auf die Ambivalenzen und Widersprüche in der Globalisierung nur der globalisierte Widerspruch jener sein, die unter dieser Entwicklung zu leiden haben und ihr eine andere Richtung geben wollen. Der Kampf gegen das GATS-Abkommen ist dabei nicht nur ein Schritt in die richtige Richtung, sondern eine Maßnahme, ohne die der Kampf bereits entschieden ist, bevor der Mehrheit der Menschheit gewahr geworden ist, dass er überhaupt schon begonnen hat.