Aus der Krise der Planung
Seite 2: Was ist nach dem Verlust der Einheit heute noch Stadt?
- Aus der Krise der Planung
- Was ist nach dem Verlust der Einheit heute noch Stadt?
- Auf einer Seite lesen
Allerdings muss man auch sehen und anerkennen, dass sich "reale Stadt" und das "Bild von Stadt" nicht länger entsprechen. Die "Einheit der Stadt" ist kaum mehr baulich-räumlich zu begründen. Der flächenhafte Ein- und Zweifamilienhausbau am Stadtrand bzw. darüber hinaus trägt zur Ausbildung eines siedlungsstrukturellen Patchworks bei.
Auch Produktion, Verkauf, Transport und Logistik siedeln sich in der Peripherie an - weitgehend unabhängig davon, ob die jeweiligen Städte wachsen oder schrumpfen -, wobei die Handels- und Gewerbeentwicklung großmodulare städtebauliche Strukturen entweder präferiert oder benötigt. In diesen dispersen Räumen wird die Landschaft als zunehmend urbanisiert wahrgenommen, obgleich das räumliche Muster der bebauten und unbebauten Bereiche ein anderes als das bekannte ist. Als ein fragmentiertes Nebeneinander von bebauten und landschaftlichen Räumen erweisen sich heute viele Siedlungsräume; doch einen ähnlichen Befund konnte man in Deutschland auch schon vor achtzig Jahren machen:
Es ist mißlich, Grenzen zu ziehen, wo keine vorhanden sind, und Unterscheidungen oder Klassifizierungen zu versuchen, wo sich überall nur Übergänge oder unerwartete Wechsel feststellen lassen. […] Laubenkolonien und Industriesiedlungen, rein dörfliche Reste und unfertig gebliebene Vorstadtbildungen schalten sich neben- und zwischeneinander, lockern sich randlich auf, wachsen teilweise in die benachbarten Wälder hinein und finden schließlich ihr Ende.
Friedrich Leyden
Aber auch gesellschaftlich ist die "Einheit der Stadt" nicht mehr gegeben; zu dispers und enträumlicht sind die Erfahrungs- und Lebensräume des Einzelnen.
Die sich herausbildenden Sozialstrukturen lassen sich nicht mehr - wie lange Zeit üblich - bruchlos auf räumliche Ordnungsbilder projizieren. Vielmehr stellen die sozialen Unterschiede und Beziehungen in ihrer sozialräumlichen Projektion auf das Siedlungsbild ein Gewirr dar, das sich erst auf einer höheren, nicht mehr geographisch fassbaren Abstraktionsebene entwirren lässt: Die Lebensstile kennzeichnen die Personen lediglich in biographischen Phasen, ihre räumliche Konzentration besagt wenig über die Kontinuität der Lebensläufe: die Beziehungsnetze überlagern einander, haben aber im gleichen Stadtraum fast nichts mehr miteinander gemeinsam; die Familien- und Freundeskreise erweisen sich als räumlich weit verzweigt.
Rainer Mackensen
"Stadt" kann längst nicht mehr als Synonym für eine klar definierte, baulich gefasste und kommunal administrierte "Einheit" gelten. Vielmehr stellt sie ein komplexes Raumgebilde mit vielerlei Implikationen dar. So nimmt es nicht wunder, wenn ein Konsens darüber, was Stadt heute ist, mehr und mehr abhanden zu kommen scheint.
Bei den einen schwingt, wenn sie von Stadt sprechen, die Assoziation von der geschlossenen, kompakten Form mit, das Bild der "Europäischen Stadt" als regionales Zentrum.5 Für die anderen hat sich dieses traditionelle Image längst verflüchtigt. Für sie macht sich ein neuer Typus von Stadt breit, die Stadt ohne Eigenschaften, die Netzwerkstadt, die Zwischenstadt, die Regionalstadt - es kursieren eine Reihe von Begriffen, die meisten so missverständlich wie unscharf.
Um die Veränderung dessen zu veranschaulichen, was Stadt heute tatsächlich ist, , sei der Verweis auf die Literatur der Moderne gestattet: Denn verschiedentlich wurde das "Nichtverstehenkönnen" als eines ihrer wesentlichen Merkmale attestiert. Für den Leser anspruchsvoller Belletristik - heißen ihre Autoren nun James Joyce, Marcel Proust oder Gottfried Benn - bedeutet das:
Wenn man in früheren Zeiten ein Werk nicht verstand, hielt man es für schlecht. Bis zum Zeitalter der Aufklärung hat es geschlossene Weltbilder gegeben, in die hinein Literatur geschrieben, aus denen heraus sie verstanden werden konnte. Spätestens im 20. Jahrhundert hat sich das entscheidend gewandelt: Im literarischen Werk wird die Illusion einer in sich geordneten Welt zerstört, um die falsche Folgerung zu vermeiden, die Welt außerhalb der Literatur sein ähnlich sinnvoll gestaltet. ‚Schwierig‘ ist die moderne Literatur deshalb, weil Unverständlichkeit und Nichtverstehenkönnen nicht nur als Thema wichtig werden, sondern weil sie sich in der Form niederschlagen.
Horst Steinmetz
Unverständlichkeit und Nichtverstehenkönnen prägen auch die "Form" der heutigen Stadt. Deshalb birgt der Begriff ‚Stadt‘, wird er zur Beschreibung aktueller gesellschaftlich-räumlicher Zusammenhänge herangezogen, in sich viele Ungereimtheiten. Zumindest ist er nicht der Bedeutungsraum, der alle mit ihm bezeichneten empirischen Beobachtungen erfassen würde. Dies ist allenfalls - und wie auch immer abgegrenzt - die Stadtregion.
Die Stadt in ihrer regionalen Verankerung wäre demzufolge auch das zentrale Aktionsfeld raumbezogener Politik. Mit dem Idealtypus eines hierarchischen Siedlungssystems hat dies nur noch wenig zu tun. Präzedenzlos aber ist das nicht: Stadtregionen standen schon immer in einem besonderen Verhältnis zum Staat. Zum einen, weil sie im 19. Jahrhundert die Zentren der Industrialisierung und der damit verbundenen massiven gesellschaftlichen Umwälzungen waren, zum anderen, weil sie in besonderem Maße die Folgen der Industrialisierung (Bevölkerungswachstum, Flächenverbrauch, Umweltbelastungen) zu tragen hatten und dafür Lösungen entwickeln mussten. In Preußen, im mitteldeutschen Raum, aber auch im Ruhrgebiet, wurden deshalb bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts für Verdichtungsräume gemeindeübergreifende Planungsorganisationen geschaffen.
Dass auch die alltäglichen Aktionsräume von privaten Haushalten und Individuen sich differenzieren und räumlich ständig ausweiten, ist nur ein weiteres, überzeugendes Argument für anstehenden Handlungsbedarf. Wir haben es mit einer Regionalisierung von Lebensweisen zu tun, und auch das verlangt nach einer dezidiert stadtregionalen Entwicklungspolitik. Die Menschen in den Stadtregionen fühlen sich zwar ganz besonders mit ihrem Stadtquartier oder ihrem Wohnort verbunden, doch sie nehmen ganz selbstverständlich die Angebote der ganzen Region wahr, ohne auf Verwaltungsgrenzen zu achten - bei der Wahl des Arbeits- und Wohnortes, beim Einkauf oder für Freizeitaktivitäten. Sie erwarten, dass sie sich mit Hilfe eines leistungsfähigen ÖPNV in der gesamten Region bewegen können und dass effiziente und kostengünstige Lösungen bei der Daseinsvorsorge nicht an politischen Zuständigkeiten oder fragmentierten Handlungsansätzen scheitern.
Freilich ist man dem nicht gewappnet, weder institutionell noch mental oder gar konzeptionell. So ist in der Bundesrepublik eine Zersplitterung der regionalen Planungs- und Verwaltungsaufgaben auf Landesministerien, Regional- und Kommunalverbände, Zweckverbände, Bezirksregierungen, Sonderbehörden, Landkreise sowie informelle Verbünde, Strukturkonferenzen, Entwicklungsagenturen, Initiativen etc. festzustellen. Indes, eine attraktive Arena für eine starke (stadt)regionale Politik, die ein Gegengewicht sowohl zu den lokalen Egoismen als auch zur staatlichen Macht darstellen könnte, bietet letztlich keine dieser Institutionen.6 Und der (un)bewusste Separatismus zwischen Raum- und Stadtentwicklung setzt dem Ganzen letztlich noch die Krone auf.
Wie nachhaltig ist unsere Raumentwicklung?
Eine Vielzahl verschiedener Akteure formuliert unterschiedlichste Ansprüche an den Raum. Sie äußern sich beispielsweise in unternehmerischen Standortentscheidungen, Logistikkonzepten von Großverteilern, bodenrechtlichen Spezifikationen, verkehrsinfrastrukturellen Vorhaben, regionalplanerischen Leitbildern, wohnsoziologischen Präferenzen, Arbeitsmarktentwicklungen etc. Diese Aufzählung wäre unschwer zu verlängern. Eine gemeinsame Wirkung lässt sich aber weder abschätzen noch unter Kontrolle bringen. Ohnedies scheint sich die Strukturierung des Raumes immer mehr von der staatlichen zur privatwirtschaftlichen Seite zu verlagern, was die Einhaltung übergeordneter Zielstellungen kaum vereinfacht.7
Zwar stellen die Kartenmaterialien der Politik und der Planung Bilder der Ordnung dar. Sie bedienen sich der "komparativen Statistik", die ermittelte Befunde den angestrebten Endzuständen gegenüberstellt. Aber die Zeit zwischen beiden - und damit die Entwicklungsprozesse - blenden sie aus. Auf diese Weise schafft man zwar die gewünschte Übersichtlichkeit, kommt politischem Handlungsbedarf (etwa beim Verkehr, bei der Energieversorgung oder in der Landwirtschaftspolitik) entgegen und kann Leitbilder räumlicher Entwicklung festlegen. Allerdings endet damit offensichtlich auch ihre Kompetenz.8 Bis heute gelang es weder der Politik noch der Wissenschaft, der Raumentwicklung ihren Stempel aufzudrücken. Und dieser Befund, unlängst für die Schweiz 9 aufgestellt, würde für Deutschland wohl kaum anders lauten können.
Eine realistische Antwort auf regionale Disparitäten - sowie eine nicht nachhaltige Raumentwicklung - kann heute nicht mehr lauten, den Raum insgesamt entwickeln und ordnen zu wollen. Einem solchen Verständnis zufolge wäre Raumordnung paradoxerweise eine Zwillingsschwester der Politik des Stadtwachstums, indem versucht wird, eine aus der Kontrolle geratene Realität in ein passendes Interpretationsschema zu bringen.
Sich räumlich niederschlagende Entwicklungsprobleme können nur gelöst werden, wenn sie pars pro toto an einer Stelle gebündelt, in ihren Voraussetzungen, Maßnahmen und Wirkungen gegeneinander abgewogen werden. Nach Lage der Dinge kann dies nur die Stadt sein.10
Angesichts der strukturellen Unbestimmtheit und Offenheit gesellschaftlicher Entwicklungen in einer globalisierten Wissensgesellschaft dient die Stadt mit ihrer hohen ökonomischen, sozialen und kulturellen Diversität als ‚Zufallsgenerator’ für Kontakte, Informationen und kontextgebundenes Wissen und bietet mit ihren vielfältigen Möglichkeitsstrukturen einen Zugewinn an Chancen für gesellschaftliche Teilhabe und zivilgesellschaftliche Zukunftsbewältigung.
Dieter Läpple
Ein Handeln in stadtregionalen Zusammenhängen und Größenordnungen ist dabei unabdingbar, darf sich aber nicht auf planerische Aspekte wie die Lenkung von Standortentscheidungen, die Festlegung von Trassenverläufen etc. beschränken, sondern muss die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Implikationen dezidiert mit in den Blick nehmen. Dabei sind nicht nur Synergien mit Fachpolitiken wie Wirtschaft, Bildung, Verkehr usw. zu suchen, sondern es wäre ein Selbstverständnis zu entwickeln, anhand dessen man sich als überwölbende und gestaltende Zusammenschau etabliert, die gerade die tendenziell unsichtbaren (weil oft mittelfristigen oder indirekten) Effekte von Fachpolitiken ins Visier nimmt.
Für eine moderne (räumliche) Entwicklungspolitik stehen nicht Raumkategorien - hier städtische, da ländliche Räume - im Vordergrund, sondern Aufgaben, die in allen Raumkategorien zu lösen sind. Stadtentwicklungspolitik ist Standortpolitik, und damit Raumentwicklungspolitik. Zudem teilen Stadt- wie Raumentwicklung ein fundamentales Problem, welches Rem Koolhaas 1995 folgendermaßen formuliert hat:
How to explain the paradox that urbanism, as a profession, has disappeared at the moment when urbanisation everywhere - after decades of constant accerleration - is on its way to establishing a definitive, global "triumph" of the urban scale?"
Gleichgültig, ob auf der Ebene einer Stadt oder eines - wie auch immer definierten - Gesamtraums: Planung steht in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht eben hoch im Kurs. In gewisser Weise gilt sie als ein Relikt des "Kalten Krieges", und mit ihm glaubte man die Welt vom modernen Planungswahn befreit. Stimmt das so? Will man sie (wieder) in ihr Recht setzen, dann wäre zweierlei zu überwinden. Zum einen die Allzuständigkeitsphantasien der Planenden. Zum anderen, dass in der Politik und in die Routinen der Märkte der Entscheidungsfaktor Raum weiterhin als stabile Konstante eingeht, der keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.
"Aus der Krise der Planung" - so könnte ein sibyllinischer Aufruf lauten, der beides meint: Die Planung im Zustand der Krise, aber auch: die Planung auf dem Weg aus der Krise heraus. Planung wäre nicht länger bloß trockene Koordination und Administration politischer und technischer Aspekte über Zeiträume von abstrakter Länge. Nein, Planung wird im umfassenden Kontext kultureller Praxis begriffen, und als gesellschaftliches Betätigungsfeld erkannt. Nicht zuletzt wäre Planung in ihrer gestalterischen Relevanz anzuerkennen, ohne dies mit dem Verlust an Wissenschaftlichkeit und methodischer Kompetenz zu erkaufen.
Auch wenn Soziologie und Philosophie sowie die Erfahrungen der Praxis genügend Gründe liefern mögen, den tradierten Begriff der Planung als überzogen und anmaßend zu hinterfragen, muss daran festgehalten werden. Der Begriff steht für den Anspruch, die Entwicklung der räumlichen Umwelt - und der Gesellschaft in ihrer räumlichen Gefasstheit - in eine gewünschte Richtung zu beeinflussen. Auf diesen Anspruch zu verzichten wäre angesichts der - zunehmenden - Probleme in den Städten und auf dem Lande wohl eher zynisch als realistisch. Allerdings wäre er neu zu justieren - und Raumentwicklung vor allem als Stadtentwicklung zu begreifen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.