Aus jeder Gefühls-Mücke wird ein Trauma-Elefant
- Aus jeder Gefühls-Mücke wird ein Trauma-Elefant
- Übernahme rechtsextremer Denk- und Argumentationsstrukturen durch einen Teil der Linken
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Gegen die Kulturtaliban und die politische Mode des Identitären: Caroline Fourest über Sprachpolizei, Political Correctness, Cancel Culture und die "Generation Beleidigt" - Streifzug durch eine aufgeheizte Debatte
"Jeden Tag eine Gruppe, eine Minderheit, ein zum Stellvertreter einer Sache sich aufspielendes Individuum, das fordert, droht und uns auf die Nerven geht" - Caroline Fourest ist wütend. Wütend über Menschen, die in den USA asiatische Menüs in den Kantinen verbieten wollen, weil es sich "um kulturelle Aneignung" handele; mit der gleichen Begründung fordern andere, man solle im Restaurant kein Sushi essen, das von Nicht-Asiaten zubereitet werde.
Fourest ist wütend auf kanadische Studenten, die die Streichung eines Yogakurses fordern, um sich nicht "dem Risiko der indischen Kultur" aussetzen zu müssen. Sie ist wütend auf Schulen, die die großen Romane von Flaubert, Dostojewski und Nabokov als "anstößig" aus dem Unterrichtsplan streichen. Auf Filmuniversitäten (!), an denen Filmstudenten sich weigern, Filme von Roman Polanski und Woody Allen oder Produktionen von Harvey "#MeToo" Weinstein oder Bertoluccis "Last Tango of Paris" überhaupt jemals anzusehen, und die sich für ein Seminar über Horrorfilm einschreiben, aber trotzdem bei jedem Film eine Triggerwarnung fordern, weil "Traumata berührt werden".
Auf Schüler, die Lehrer, die ihre Fehler korrigieren oder ihnen kein "sehr gut" geben, der "Mikroaggression" beschuldigen und sie - selbstverständlich anonym - als schlechte Lehrer denunzieren, die "nicht ermutigend kommunizieren".
Neue gesellschaftliche Machtgruppen
Solche kleinen, gut belegten, alltäglichen Beispiele sind für die Autorin nur Indizien für etwas Größeres: Zum einen für die Generation der Millennials, der zwischen den späten 1980er und Ende der Nuller-Jahre geborenen "Generation Y": Ichbezogen bis zum Narzissmus, wehleidig, dauergekränkt, überemotional und leistungsunwillig machen diese verwöhnten Wohlstandskinder aus jeder Gefühls-Mücke einen Trauma-Elefanten, sind sie kaum bereit, Verantwortung für eigene Enttäuschungen und Probleme zu übernehmen, sondern suchen die Schuld für alles immerfort bei den anderen, bei irgendwelchen angeblich "Privilegierten" oder gleich bei "dem Westen".
Zum anderen stehen die Alltagsbeispiele dafür, dass sich neue gesellschaftliche Machtgruppen formieren und aufgrund geographischer, ethnischer oder sozialer Herkunft, aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Religion und einer oft mehr behaupteten persönlichen "Marginalisierungs-" oder "Unterdrückungs-"Erfahrung beanspruchen sie, die Hegemonie über das öffentliche Sprechen zu erreichen. Das Ergebnis dieser sozialen Trends ist eine Einschüchterungbewegung, die heute sogar zur Entlassung von Professoren führen kann.
In ihrem Heimatland Frankreich ist Caroline Fourest sehr bekannt. Die 43-jährige tritt oft in Talkshows auf, macht Dokumentarfilme, zum Beispiel über kurdische Freiheitskämpfer, sie unterrichtet an der Universität Sciences-Po, sie war Mitarbeiterin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, schreibt für Zeitungen und verfasste bisher mehrere Bücher. Politisch steht sie auf der Seite der Linken, ist erklärte Feministin und Anti-Rassistin.
Doch trotzdem, und obwohl sie als bekennende Lesbierin selbst einer Minderheitsgruppierung angehört, gilt ihre Attacke vor allem Tendenzen, die derzeit das linke Spektrum der westlichen Demokratien dominieren und spalten: "Linke Identitäre". Durch Identitätspolitik seien die Debatten aus dem Ruder gelaufen.
Aber wovon spricht sie überhaupt? Und müssen wir das ernst nehmen?
Was ist "Identitätspolitik"?
Identität - dies ist einer der am häufigsten gebrauchten Begriffe in kulturellen und politischen Debatten der letzten Monate. Zugleich ist dieses Wort keineswegs trennscharf in dem, was es meint. Und wenn man es verstanden hat, hat man zugleich verstanden, wie komplex und vielfältig die vermeintlich eindeutige "Identität" tatsächlich ist.
Das wird schon deutlich, wenn man sich die Worte, die hier gebraucht werden, genauer anschaut. Wir sprechen mal von individueller Identität und mal von kollektiver; manchmal geht es um "Identitätsdiskurse", dann wieder um "Identitätspolitik" und mitunter ist von "identitären Bewegungen" die Rede.
Wenn man diese Debatte verstehen will, muss man also zunächst die Begriffe auseinanderhalten. Der Begriff der "Identität" stammt ursprünglich aus der mathematischen Logik und wurde erst um 1800 in der Philosophie, um 1900 dann zunehmend auch in der Psychologie gebraucht. Aber erst in den 1980er Jahren kam der Begriff an Universitäten zunehmend in Mode, um außerpsychologische Selbstbeschreibungen zu bezeichnen, oft als Synonym für "Kultur".
Heute kann Identität das Selbstverständnis einer einzigen Person meinen, aber genauso gut kollektiv verstanden werden. Identität kann das jeweilige Geschlecht meinen - wobei sich dies genaugenommen wiederum sowohl auf das biologische Geschlecht ("Sex") als auch auf das soziokulturelle Geschlecht ("Gender") beziehen kann -, es kann eine ethnische oder eine kulturelle Herkunft meinen; es kann sich auf das religiöse Bekenntnis beziehen oder auch nur darauf, dass jemand qua Geburt einer religiösen Gemeinschaft angehört, selbst wenn er nicht gläubig ist - etwa als Jude oder als Schiit bzw. Sunnit.
Weiterhin spricht man auch von politischen - z.B. Sozialist, Anarchist, Liberaler - und von kulturellen und regionalen Identitäten - beispielsweise Schwabe oder Badener, Schotte oder Waliser. Identitäten können aber auch aus einer Berufswahl oder Ausbildung erwachsen. Aber auch vollkommen willkürliche Bekenntnisse, wie etwa die, man sei Fan eines bestimmten Fußballvereins, können vom Einzelnen als identitätsstiftendes Merkmal verstanden werden, und bestimmte Menschen zu einer Gruppe zusammenschweißen.
Das gängigste Verständnis von Identitäten ist das eines Kollektivs, zu dem man qua Geburt und Herkunft gehört. Jeder hat ein bestimmtes Geschlecht, eine sexuelle Orientierung, einen bestimmten ethnischen Hintergrund, der oft aber keineswegs immer mit der Staatsangehörigkeit zusammenfällt. Über diese hinaus verstehen sich viele Menschen in Europa als Europäer. Zugleich fühlen sie sich oft mit einer konkreten Region verbunden.
De facto gibt es gar keine Identität
Das, was alles mit dem Begriff bezeichnet wird oder gemeint werden soll, ist also überaus schwammig. De facto gibt es gar keine Identität. Denn Identität ist immer erfunden, künstlich. Und immer im Fluss. Nehmen wir zum Beispiel die Frage "Was heißt Deutsch?"
Sie wurde in der Geschichte immer wieder anders beantwortet. Oft zur gleichen Zeit von den verschiedenen Lagern verschieden. Aber selbst wenn es eindeutige Zuschreibungen gäbe, ist klar, dass jeder Mensch jederzeit viele verschiedene Identitäten in sich trägt: Man ist Europäer, Deutscher, Schwabe, Frau, hetero, evangelisch, CDU-Wähler, Veganer, Raucher, Weintrinker und St. Pauli-Fan. Oder irgendetwas anderes.
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