Ausgeklebt: Letzte Generation will Klimaschutz mit neuer Strategie einfordern

"Farbprotest" an der Uni in Frankfurt am Main: Die "Letzte Generation" hat in den letzten beiden Jahren polarisiert. Foto: Letzte Generation / Quelle: X

Nach zwei Jahren Autobahnblockaden und Farbattacken: Klima-Initiative will neue Wege gehen. Was sie plant und was bisher geschah. Eine Chronik.

Die "Klimakleber" wollen nicht weitermachen wie bisher – wie lange die "Letzte Generation" umgangssprachlich noch mit Sekundenkleber in Verbindung gebracht werden wird, ist ungewiss. Am Montag hat die Klima-Initiative einen Strategiewechsel bekannt gegeben. Zeit für einen Rückblick auf zwei Jahre Protest und Provokation.

Hungern, um mit Scholz zu reden: Vorgeschichte der Blockaden

30. August 2021: Eine Handvoll junger Menschen beginnt einen Hungerstreik vor dem Kanzleramt in Berlin. Ihre Forderung: Die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU, SPD und Grünen sollen mit ihnen reden – über ernsthafte Klimaschutzmaßnahmen, die einen fairen deutschen Anteil zur Einhaltung der Pariser Klimaschutzziele gewährleisten würden.

Zunächst sind weder Armin Laschet (CDU) noch Olaf Scholz (SPD) oder Annalena Baerbock, die für die Grünen als mögliche "Klima-Kanzlerin" antritt, dazu bereit.

Im Lauf der nächsten Wochen wird der Zustand der Hungerstreikenden kritisch. Am 22. September nehmen sechs der ursprünglich sieben Beteiligten wieder Nahrung zu sich – der siebte dagegen kündigt an, auch nichts mehr zu trinken. Es ist Henning Jeschke (21). Ihm schließt sich Lea Bonasera (24) an, die später zu dem Hungerstreik gestoßen ist.

Gespräch mit designiertem Bundeskanzler endet im Streit

25. September 2021: Der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz erklärt sich zu einem Gespräch bereit, das allerdings erst nach der Bundestagswahl stattfinden wird, denn die ist bereits am nächsten Tag. Jeschke und Bonasera brechen den trockenen Hungerstreik ab.

12. November 2021: Das öffentliche Gespräch zwischen dem designierten Bundeskanzler Scholz, Jeschke und Bonasera findet in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin tatsächlich statt, endet aber im Streit.

Während sie Scholz mit Szenarien der Klimawissenschaft konfrontieren, die Ernteausfälle, Hungersnöte und Todeszonen rund um den Äquator beinhalten, will Scholz von ihnen wissen, wie sie sich die Zukunft der deutschen Wirtschaft vorstellen, wenn die Emissionen so schnell und drastisch gesenkt werden, wie sie es fordern.

Letzte Generation auf Youtube: Neujahrsansprache der anderen Art

1. Januar 2022: Auf dem Youtube-Kanal "Letzte Generation" hält Henning Jeschke als Mitgründer der gleichnamigen Gruppe eine Neujahrsansprache, in der er der gerade vereidigten Bundesregierung "Greenwashing" und Missachtung des Grundgesetzes vorwirft. Gemeint ist Artikel 20a, der den Staat auch zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen für kommende Generationen verpflichtet.

Mit "Letzte Generation" ist nicht die letzte lebende Generation gemeint, sondern die letzte, die das Schlimmste noch verhindern könne. Als ersten Schritt zu effektivem und sozialem Klimaschutz fordert die Gruppe ein "Essen-retten-Gesetz" gegen Lebensmittelverschwendung – und ein Ende der Kriminalisierung von Menschen, die weggeworfene Lebensmittel aus Müllcontainern von Supermärkten holen.

Als Druckmittel kündigt Jeschke Aktionen des gewaltfreien zivilen Ungehorsams in Form von Autobahnblockaden an: "Ab Ende Januar wird es deutliche Einschränkungen geben", sagt er. "Wir blockieren Autobahnen, weil die Klima- und Hungerbedrohung immer schlimmer wird. Bitte nehmen Sie diese Einschränkungen sehr ernst und respektieren Sie ihr Anliegen."

Im Volksmund: Die Klimakleber

Ab 24. Januar 2022: Die "Letzte Generation" blockiert erstmals Autobahnzufahrten in der deutschen Hauptstadt. In den Folgemonaten tut dies eine wachsende Zahl von Aktiven bundesweit, mit Unterbrechungen fast täglich. Hinzu kommen Proteste in Stadien, an Erdölpipelines und Flughäfen. Mitunter gelingt es den Aktivisten, Pipelines kurzfristig zuzudrehen.

Oft kommt bei den Blockaden Sekundenkleber zum Einsatz, um die polizeiliche Räumung zu verzögern. Im Volksmund heißen die Beteiligten fortan "Klimakleber". Die Strafverfahren häufen sich. Zu den Forderungen zählen nun auch ein Tempolimit auf Autobahnen und dauerhaft günstigere Tickets für den öffentlichen Nahverkehr.

Neue Aktionsform: Kunst-Banausen gegen Umwelt-Ignoranten?

22. Oktober 2022: Eine neue provokante Aktionsform ist hinzugekommen: Wenige Tage nach einer ähnlichen Aktion von Gleichgesinnten in London kippen zwei Mitglieder der "Letzten Generation" im Potsdamer Barberini-Museum Kartoffelbrei auf das Schutzglas eines berühmten Gemäldes von Claude Monet und kleben sich anschließend an der Wand fest.

Die Empörung im Netz ist groß: Aufgrund der Schlagzeilen denken viele Menschen zuerst, das Gemälde sei durch die Aktion zerstört worden. Die Erklärung der Gruppe dazu: "Monet liebte die Natur und hielt ihre fragile Schönheit in seinen Werken fest. Warum haben viele mehr Angst davor, dass eines dieser Abbilder Schaden nimmt, als vor der Zerstörung unserer Welt selbst?"

Tod einer Radfahrerin

31. Oktober 2022: Eine Radfahrerin wird auf der Bundesallee in Berlin-Wilmersdorf von einem Betonmischer überrollt und überlebt den Unfall nicht. Zunächst ist unklar, ob ein Stau, der durch eine Blockade der "Letzten Generation" verursacht wurde, ihre Rettung verhindert hat. Es kursieren aber schon kurz darauf Meldungen, in denen die Gruppe für ihren Tod verantwortlich gemacht wird.

Spätere Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bestätigen das nicht: Die anwesende Notärztin hatte sich bereits gegen ein Spezialfahrzeug zur Bergung der Radfahrerin entschieden. Laut Obduktionsergebnis wären die Verletzungen ohnehin zu schwer gewesen, um sie noch zu retten.

Präventivhaft und der Ruf nach harten Strafen

4. November 2022: In München müssen erstmals Mitglieder der Letzten Generation wegen Klebeaktionen für 30 Tage in Präventivhaft. Das bayerische Polizeiaufgabengesetz macht es möglich. "Das ist sehr, sehr selten, dass das angewendet wird, das ist wirklich ein großer Ausnahmefall", sagte ein Polizeisprecher der Deutschen Presse-Agentur.

Das Mittel wird aber fortan häufiger angewandt, etwa 2023 während der Automesse IAA in München gegen mehr als zwei Dutzend Klimabewegte.

6. November 2022: Während die Ermittlungen zum Tod der Radfahrerin noch andauern, hat es die Warnung des Ex-Verkehrsministers Alexander Dobrindt (CSU) vor einer "Klima-RAF" in fast alle größeren Nachrichtenmedien geschafft. "Knallhart-Kurs gegen Klima-Chaoten – Union will Knast statt Geldstrafen" fasst die Bild es zusammen.

Desaströse Umfragewerte und erste Haftstrafen

8. November 2022: Laut einer Umfrage halten 81 Prozent der Deutschen die Protestformen der "Letzten Generation", vor allem die Blockaden des Berufsverkehrs, für falsch – nur 14 Prozent halten sie für richtig und fünf Prozent sind unentschlossen.

26. April 2023: In Berlin wird erstmals eine Klimaaktivistin der "Letzten Generation" zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt – für vier Monate soll Maja W. wegen versuchter Nötigung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und gemeinschädlicher Sachbeschädigung eines Kunstobjekts ins Gefängnis. Tatsächlich beschädigt hat sie allerdings nur den Rahmen eines Bildes. Im Gerichtssaal wird lautstark protestiert.

Bundesweite Razzia – und unerwartete Solidarität

24. Mai 2023: In mehreren Bundesländern werden Wohnungen mit Bezug zur "Letzten Generation" durchsucht. Gegen sieben Mitglieder der Gruppe wird wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Federführend: das Bayerische Landeskriminalamt (LKA) und die Generalstaatsanwaltschaft München.

Den Beschuldigten wird zur Last gelegt, eine Kampagne zur Finanzierung weiterer Straftaten für die "Letzte Generation" organisiert, diese über deren Homepage beworben und dadurch bisher mindestens 1,4 Millionen Euro an Spendengeldern eingesammelt zu haben. Konten und andere Vermögenswerte werden beschlagnahmt.

Die Razzia löst allerdings eine Solidaritätswelle aus: Mehr als 300.000 Euro an Spenden gehen innerhalb von drei Tagen auf das Konto der Initiative "Gesellschaftsrat jetzt" ein, die das Anliegen der Gruppe unterstützt.

Gewalt von Autofahrern gegen Klimabewegte nimmt zu

1. Juni 2023: Die Berliner Polizei listet erstmals Attacken von Autofahrern auf Mitglieder der "Letzten Generation" auf. In 15 Fällen wird wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Hinzu kommen 25 Ermittlungsverfahren wegen einfacher Körperverletzung, 26 wegen Nötigung und elf wegen Beleidigung.

Die Häufigkeit nimmt zu – nur 18 der insgesamt 84 Verfahren beziehen sich auf das Jahr 2022, der Rest auf die ersten fünf Monate des Jahres 2023. Dies wird aber auch mit der Zunahme der Blockadeaktionen an sich begründet.

Richterin sieht Klimanotstand: Freisprüche bleiben die Ausnahme

4. Juli 2023: Richterinnen und Richter bewerten die Aktionsformen der Gruppe und deren Strafbarkeit zum Teil unterschiedlich: Wenige Wochen nach der bundesweiten Razzia werden fünf Mitglieder der Letzten Generation vom Vorwurf der Nötigung durch eine Straßenblockade im Vorjahr freigesprochen.

Die Richterin sagt zur Begründung, dass Beeinträchtigungen nur kurzzeitig gewesen seien und die Polizei sowie die Presse vorab informiert waren. Auch sei für Notfälle eine Rettungsgasse frei gehalten worden – und es es einen klaren Sachbezug:. "Der Protest richtete sich gegen die Folgen der Klimakrise und speziell gegen den Autoverkehr." Er sei daher nicht als verwerflich anzusehen.

Solche Freisprüche bleiben aber die Ausnahme – und werden zum Teil in der nächsten Instanz wieder kassiert.

Farbattacken auf Berliner Wahrzeichen

17. September 2023: Eine weitere provokante Aktionsform ist hinzugekommen: Das Brandenburger Tor in Berlin wurde mit oranger Farbe besprüht.

Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) ist sauer: "Mit diesen Aktionen beschädigt diese Gruppe nicht nur das historische Brandenburger Tor, sondern auch unseren freiheitlichen Diskurs über die wichtigen Themen unserer Zeit und Zukunft", sagt er.

17. Oktober 2023: Die Letzte Generation färbt ein weiteres wichtiges Berliner Wahrzeichen ein. Ihre Begründung: "Die leuchtend orange gefärbte Weltzeituhr in Berlin warnt davor, dass die Zeit, eine gesellschaftliche Katastrophe zu verhindern, abläuft."

12. Dezember 2023: Sechs mutmaßlich Beteiligte der Farbattacke auf das Brandenburger Tor werden wegen gemeinschaftlicher schwerer Sachbeschädigung angeklagt, der Schaden beziehungsweise die Reinigungskosten werden mit 115.000 Euro beziffert.

Letzte Generation schlägt Lufthansa Milliarden-Deal vor

18. Dezember 2023: Die "Letzte Generation" ist mit Schadensersatzforderungen der Lufthansa-Tochter Eurowings infolge ihrer Proteste an Flughäfen konfrontiert. 740.000 Euro fordert die Fluggesellschaft.

Die Gruppe erklärt sich bereit, die Rechnung zu begleichen – unter einer Bedingung: "Sollte die Lufthansa bereit sein, den durch sich verursachten Schaden an der Allgemeinheit zu begleichen, wären wir im gleichen Zuge dazu bereit, ihren Forderungen gegen uns nachzukommen. Verzichtet die Lufthansa fortan darauf, die Klimakatastrophe durch massive CO2 Emissionen weiter zu befeuern, kommen wir einander auch in Zukunft nicht mehr in die Quere."

Basierend auf dem CO2-Ausstoß des Jahres 2019 und "konservativ angesetzten 185 US Dollar gesellschaftlichem Schaden pro Tonne CO2" geht die Klima-Initiative dabei von rund sechs Milliarden Euro jährlich aus.

Ausgeklebt: Ein Strategiewechsel

29. Januar 2024: Die "Klimakleber" haben ausgeklebt: Die "Letzte Generation" verkündet eine Strategiewechsel:

Das Festkleben war wichtig, um nicht direkt von der Straße gezogen zu werden und somit unignorierbar protestieren zu können. Seitdem hat sich die Anzahl der Protestierenden mit der Letzten Generation verhundertfacht. Das eröffnet neue Möglichkeiten. Von nun an werden wir in anderer Form protestieren - unignorierbar wird es aber bleiben.

Ab März werden wir zu ungehorsamen Versammlungen im ganzen Land aufrufen. Statt uns in Kleingruppen aufzuteilen und Straßenblockaden zu machen, werden wir gemeinsam mit vielen Menschen ungehorsame Versammlungen machen. Und zwar da, wo wir nicht ignoriert werden können.

Somit beginnt eine neue Ära unseres friedlichen, zivilen Widerstandes - das Kapitel des Klebens und der Straßenblockaden endet damit.

Letzte Generation, 29. Januar 2024

Merz vs. Steinmeier: Politiker im Fokus der Klimabewegung

Außerdem wollen sie "die Verantwortlichen für die Klimazerstörung in Zukunft verstärkt direkt konfrontieren" – womöglich durch Störung öffentlicher Auftritte wie dem von CDU-Chef Friedrich Merz wenige Tage zuvor.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) könnte aus ihrer Sicht eine besondere Rolle spielen: "Wir werden ihn auffordern, öffentlich und ehrlich über die Klimazerstörung und das Notwendige umsteuern zu sprechen", erklären sie. "Die Details dieses Appells werden in den kommenden Monaten in Form eines Briefes ausgearbeitet werden."

Steinmeier sei aus ihrer Sicht: "als hoch angesehene und neutrale Instanz der richtige Adressat für so einen Appell der Ehrlichkeit".