Ausrottung der Kinderlähmung ist unrealistisch
Die von der WHO geplante Ausrottung der Kinderlähmung bis Ende 2005 ist gescheitert. Experten empfehlen stattdessen die effektive Kontrolle.
Schon Ende des vergangenen Jahres sollte sie endgültig weltweit ausgerottet sein: die Viruserkrankung Poliomyelitis anterior acuta, auch Kinderlähmung genannt, die überwiegend in den Entwicklungsländern Afrikas und Asiens verbreitet ist.
Dem Beispiel der Pocken folgend, die binnen zehn Jahren mit einem Kostenaufwand von 100 Millionen Dollar aus der Welt geschafft worden war, begann in den 1980er-Jahren der Feldzug gegen Polio. Und anfangs lief alles nach Plan: 1985 startete in Nord- und Südamerika eine Impfkampagne im Rahmen von Nationalen Immunisierungstagen für Kinder unter fünf. 1994 erklärte die WHO den amerikanischen Kontinent für poliofrei.
Daraufhin wollte die Weltgesundheitsbehörde den Rest der Welt bis Ende 2000 von der Geißel befreien. Mitte der 90er-Jahre begann auf dem Indischen Kontinent, im Mittleren Osten und im Afrika südlich der Sahara eine ehrgeizige Kampagne, doch im Jahr 2000 gab es immer noch 23 Nationen, die Erkrankungen meldeten, in 9 Ländern war Polio endemisch. Im aktuellen Science (Science, Vol 312 vom 11. Mai 2006) fordert ein japanisch-australisches Forscherteam daher, dass sich die Bekämpfung von der Ausrottung auf die Kontrolle beschränken solle.
Erfolgreiche Kampagne
Auch wenn das Endziel nicht erreicht wurde, so war die Polio-Impfkampagne insgesamt doch außerordentlich erfolgreich: Sie hat die Zahl der Neuinfizierungen von 350.000 (1988) auf 1.948 (2005) gesenkt. Aber sie kostete auch einiges: bislang 4 Milliarden Dollar an internationaler Hilfe. Und trotzdem gab es auch 2005 noch 16 Länder (aktuelle Zahlen) mit Erkrankungen, in sechs Nationen fanden aufgrund von Wiedereinschleppung große Epidemien statt.
Warum ließen sich die Pocken so leicht bekämpfen, Polio dagegen nicht? Vier Gründe nennen Isao Arita von der Agency for Cooperation in International Health in Kumamoto-City/Japan und sein Kollege Frank Fenner von der John Curtin School of Medical Research in Canberra/Australien.
Im Gegensatz zu den Pocken, wo eine Erkrankung nie unentdeckt bleibt, gibt es bei Polio zunächst einmal 100 bis 200 subklinische und daher unbemerkte Formen der Infektion. Da jeder Infizierte das Virus ausscheidet, sind Überwachung und Kontrolle unmöglich. Auch nach Reihenimpfungen kommt es daher z. B. in Indien immer wieder zu Erkrankungen.
Zweitens ist bei der Schluckimpfung (OPV), die sich am leichtesten durchführen lässt, eine Ansteckung möglich, da sie aus - wenn auch abgeschwächten - Lebendviren besteht. Drittens nennen die Autoren das Bevölkerungswachstum und die sich immer wieder verändernden politischen Gegebenheiten in vielen armen Ländern. Die globale Ausrottung erfordert eine unnachgiebige Durchführung, die in politisch instabilen Regionen nicht möglich sei.
Viertens kritisieren die Virologen, dass die bisherige Kampagne schon zu lange andauere. "Die Dauer eines Ausrottungsprogramms sollte sich nicht übermäßig hinziehen", schreibt Arita. "Vielleicht 10 bis 15 Jahre, da es schwierig ist, die Anstrengung über diesen Zeitraum hinweg aufrecht zu halten."
Teufelskreis aus Armut und Krankheit
Soll die WHO also weiterhin so verfahren wie bisher? Die Autoren meinen ganz klar: Nein. Ihrer Meinung nach müssen die internationalen Anstrengungen zur Polio-Bekämpfung im Gesamtzusammenhang mit der Situation der öffentlichen Gesundheit in Afrika, insbesondere den Gebieten südlich der Sahara, gesehen werden. Dort leide die Bevölkerung nämlich noch unter zahlreichen anderen Übeln als allein Polio. Etwa 100 von 200 Kindern erlebt das 5. Lebensjahr nicht, und nur etwa die Hälfte der Bevölkerung sei gegen andere Infektionskrankheiten wie Diphtherie, Masern, Keuchhusten und Tetanus geimpft. Und es gibt - noch immer - keine Impfungen gegen AIDS und Malaria.
Und auch wenn arme Länder zur Durchführung von Gesundheitsprogrammen finanzielle Hilfe von außen bekämen, müssten sie doch immer noch mehr eigene Ressourcen mobilisieren, als sie aufbringen könnten. "Die unausgesprochene Wahrheit ist", so Ariata, "dass seit dem Jahr 2000 mehr als 20 arme Länder damit [mit diesen Anforderungen, Anm. d. Verf.] nicht mithalten konnten. Wir befürchten, dass die internationale Hilfe für Polio sich negativ auf andere Bereiche der öffentlichen Gesundheit auswirken könnte."
Als Alternative schlagen die Wissenschaftler eine Verlagerung der Strategie von der Ausrottung auf effektive Kontrolle vor. Oberste Priorität wäre es danach, nur die derzeitigen Notfallmaßnahmen fortzusetzen, um die Verbreitung von Polio in Afrika, dem Mittleren Osten und auf dem Indischen Subkontinent und Indonesien in Grenzen zu halten. Sobald die Zahl der weltweiten Neuinfizierungen unter 500 gesunken ist und die Zahl der Länder, aus denen Erkrankungen gemeldet werden, weniger als zehn beträgt, sollten alle Ausrottungselemente Teil der neuen ‚Global Immunization, Vision and Strategy Programme’ werden, das die WHO 2005 verabschiedet hat. Im Rahmen dieses Programms sollte die Überwachung von Polio in die allgemeine Überwachung von durch Impfungen verhinderbare Krankheiten aufgenommen werden. Durch den Aufbau von internationalen Vakzin-Vorräten würden bei Erkrankungen rasch Impfmittel zur Verfügung stehen. Dank dieser Strategie blieben die bisherigen Fortschritte erhalten, und auch der Kampf gegen viele andere mit Impfstoffen verhinderbare Krankheiten wäre gesichert.