Automobiler Terrorismus
Seite 2: Crash Theory aus einem Buch
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Das Wort "Theorie" ist vielleicht etwas übertrieben, denn Ballard beschreibt keine Theorie in seinem Roman "Crash", wohl aber den Zustand einer spezifischen Kultur. Eine Kultur, die sich auf eine Clique, eine Interessensgruppe beschränkt: die Faszination für Autos, dem Material, aus dem sie bestehen und dem Thrill, mit Blech zusammen geschoben zu werden und durch den gewaltigen Kontakt mit Kraftfahrzeugmaterial erotisch ungeahnte Höhen zu erklimmen. Die Ideologie weicht der Materialkunde: Welches Teil des Autos korrespondiert mit welchem Teil des Körpers? Welche Verletzung bringt den höchsten Orgasmus?
Die Crash-Touristen stammen aus der Filmbranche; durch Stuntmen und -women wird die Gefahr simuliert, aber häufig genug bleibt ein Restrisiko. Die Stuntmenschen werden für dieses Risiko bezahlt. In "Crash" ist das Ziel eben die Karambolage, die Verletzung, möglicherweise der Tod. Der größte Traum: mit einer Filmdiva einen Unfall produzieren, um aus ihren Schenkeln Blut zu spüren. Wenn man den Unfall mit dem richtigen Winkel und der ausgerechneten Geschwindigkeit berechnet hätte, dann wäre ein Zusammenschieben nicht nur der verunglückten Pkws, sondern auch ihrer Fahrer möglich. Vielleicht wäre Lady Di ein lohnendes Ziel gewesen.
Wie verhält es sich mit den Auto-Attentätern? Den Anschlag überleben sie. Mehrmals haben sie fluchtartig das umfunktionierte Auto verlassen. Während der Fahndung geraten sie häufig in eine Falle und werden von Polizisten oder Sicherheitskräften erschossen. Was denken und fühlen die Attentäter, wenn sie die Passanten an- und überfahren? Das müsste man erforschen. Für Laien wäre es möglich, den Ballard-Roman als Lesebrille der Ereignisse zu nutzen. Was heißt das? Selbst wenn Ballard ein anderes Milieu beschreibt, so lassen sich bei den Assassinen einige Verhaltensmuster aufweisen, die sich mit den Crash-Protagonisten überschneiden.
a. Beschäftigung mit Fortbewegungsmittel;
b. konspirative Treffen mit dem Ziel, Aktionen des Unglücks und des Unfalls zu planen;
c. Fetischisierung eines Willens zur Zerstörung und damit einhergehend
d. Kopflisten: Wer schafft mehr Opfer in weniger Zeit?
Die "Hitlisten" im Sinne von "töten" und "erfassen" mögen eventuell die Wände der Kämpfer und Kämpferinnen schmücken. Welcher Terrorist hat die meisten Opfer auf dem Gewissen?
In "Crash" ist das Leid überschaubar, die Interessensgruppe plant ihre Karambolagen genau und nicht als Massentötung. Die Auto-Terroristen sind an hoher Stückzahl interessiert. Je mehr der "Feinde" mitgenommen werden, desto besser. Auto weist nicht nur auf die Abkürzung von Automobil hin, das Selbsttätige wird zudem angesprochen. Ein Automatismus, der anspringt, sobald das Signal aus dem Osten kommt: Benutzt Messer, benutzt Autos oder Busse, die sind leicht im Westen verfügbar und wenn sie auf Menschenhaut treffen, oh ihr wisst: sie tun schrecklich weh!
Ballard schildert ein Fotoalbum, in dem die Crash-Clique die Unfälle dokumentiert. Selbiges wäre auch für die IS-Terroristen vorstellbar: die IS-Krieger beim Gebet in der Moschee, bei konspirativen Treffen, beim Autokauf oder beim Unterschreiben des Leasingvertrags, beim Fälschen der Dokumente, bei den Abschiedstelefonaten (Moment, das fällt zu sehr auf! Abschiedsbriefe müssen genügen, aber jetzt überleben sie häufiger.) - für die Crash-Clique wären allein die niedergefahrenen Passanten und die möglichen Schäden am Pkw oder Lkw interessant.
Die Auto-Terroristen verfolgen ideologische Ziele: der Terrorismus wird zum Selbstläufer. Wenn die Situation in den Nahost-Kriegen unübersichtlich wird, die westlichen Armeen sich dort ebenfalls in den Krieg mischen, soll der Krieg in die Heimatländer der Nato-Nationen gebracht werden. Ob aber die wahllose Ermordung von zivilen Personen etwas in der Strategie der Nato-Armeen ändert? Ob das gerechtfertigt ist?
Kann man zivile Opfer in Syrien, Libyen, im Jemen mit Opfern in Frankreich, Spanien und Berlin gegen rechnen?
Spüren die jungen Männer aus dem arabischen Kulturraum doch eine geheime Lust am Töten? Am Ineinanderschieben von Menschenfleisch und Automobilen?
Ballards Roman verkörpert die Feindbilder der Auto-Terroristen wie auch die verborgene Struktur ihrer Aktivitäten und Pläne.
Ich betrachtete die Farbfotos in den Magazinen. Jede hatte in der einen oder anderen Form als zentrales Motiv ein Automobil - erfreuliche Bilder junger Paare beim Gruppensex um eine große amerikanische Limousine herum, die inmitten einer blühenden Wiese geparkt war; ein nackter Geschäftsmann in mittleren Jahren vergnügte sich auf dem Rücksitz eines Mercedes mit seiner Sekretärin; Homosexuelle entkleideten einander im Verlauf eines Picknicks am Wegesrand; Teenager befanden sich in einer Orgie von motorisiertem Sex auf einem Motorrad, mit dem sie zwischen geparkten Wagen durchfuhren. Auf allen Bildern reflektierten schimmernde Armaturenbretter oder Fensterscheiben, ebenso wie das Schimmern eines überpolierten Chromteils, die sanften Wölbungen eines Magens oder eines Schenkels oder den Urwald von Schamhaar zwischen den Winkeln der abgebildeten Autokabinen.
(James Graham Ballard: Crash, in der Übersetzung von Joachim Körber. Bergisch Gladbach 1986, S. 106-107)
Die IS-Terroristen könnten allein aus diesem Absatz ihr gesamtes Programm ableiten: die unislamische Kultur der Pornographie und technologischer Dekadenz des Westens, aber zugleich die tödlichen Möglichkeiten eben dieser Technik. Das Auto als Gefährt der Dekadenz und Zerstörung. Die schizophrene Doppelung des technologischen Fortschritts. Ein bisschen unverständlich, diese gewagte Fremdwörterhäufung. Ein paar Worte wären noch nötig. …
Katastrophische Technologie
Der Fortschritt beschert zivilisatorische Vorteile. Zugleich steigt die Gefahr. Illustres Beispiel: Atomenergie. Das Auto sollte man nicht vergessen. Wenn diese Attentate geschehen, wird ein nützliches "Device" zweckentfremdet. Das Auto wird zur mobilen Schnellfeuerwaffe, ganz ohne Waffenschein. Einen Führerschein werden die Attentäter mit sich führen, um möglichst unauffällig bis zur Aktion vorgehen zu können. Aber wer sagt, dass sie bei einer Polizeikontrolle kurz vor dem geplanten "Attentat" nicht durchdrehen. Kurz vor dem Autoschlüsselumdrehen, die Kupplung kommen lassen, da gibt es kein Zurück mehr. (Es sei denn, man tritt auf die Bremse.)
Ballard führt in seinem Aufsatz "Autopia" aus, wie für ihn das Auto das 20. Jahrhundert verkörpere. (Er spricht sogar von "Autogeddon", also ein durch Autos verursachtes Armageddon. Dieses apokalyptische Motiv passt wiederum zum religiösen Terrorismus.)
"A man in a motor car driving along a concrete highway to some unknown destination."
Dieser Satz hat sich im 21. Jahrhundert leicht verändert, weil die tödliche Kraft eines benzingetriebenen Gefährts eben ein ganz konkretes Ziel (und Zweck) gefunden hat. Ballard sieht die positiven Effekte des Autos - ein Gefühl von Freizeit, Möglichkeiten, Freiheit und Initiative - vom Todesrisiko überschattet. Keine Frage, dass ein bewusstes Attentat im Auto diese Werte verneint und aufhebt.
Das Buch "Crash" legt die Frage nah, ob die tötenden Islamisten nicht eine Spur von Lust verspüren und durch den Einsatz der Automobil-Technologie die Freuden der verachteten westlichen Welt teilen?
Das wird Schläfer des Terrors nicht davon abhalten, aufzuwachen und wieder zu töten. Es kann jedoch den Blick etwas öffnen. Insofern nicht die Männer hinter dem Steuer allein die Katastrophe verursachen. Hinter ihnen stehen Kolonnen von Autos, Lkws auf den Autobahnen beladen mit Dutzenden Neuwagen, hinter ihnen stehen Arbeitsplätze und daher auch Politiker, die sich gern der Automobil-Lobby andienen, denn wer viel Arbeit schafft, verdient Respekt.
Fragen bleiben. Fragen, die man an die Politiker jetzt im Wahlkampf stellen kann, die aber sicher auch dem Automobilhändler auf der Seele liegen:
Zählen die Terroropfer zu den Verkehrstoten? Sind die jungen Auto-Terror-Männer Gesinnungsgenossen der Raser, die in deutschen Innenstädten Rennen veranstalten? Rauscht bei all diesen Männern die Droge Geschwindigkeit durch die Synapsen? Mit dem Nervenkitzel des eigenen oder fremden Todes. Dabei fällt auch Paul Virilios Werk Der eigentliche Unfall3 aus dem Jahr 2009 (in deutscher Übersetzung) ein. Virilio versucht in dem Buch, den Unfall als Leitkategorie des 20. Jahrhunderts zu etablieren. Der Unfall soll notwendig sein, um das am Unfall beteiligte Ding erst erfahrbar zu machen. Klingt wie die philosophische Interpretation des Mottos: Ohne Schmerz kein Gewinn! ("no pain - no gain") Erst durch den konfrontativen Kontakt wird das innewohnende Potenzial enthüllt.
Ballard gibt den Anflug einer Antwort:
If we really feared the crash, most of us would be unable to look at a car, let alone drive one. (Und ich möchte ergänzen: let alone kill by car.)
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