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"Avengers: Endgame": Man stirbt nur zweimal

Bild: © Marvel Studios

Träumen Superhelden von Schafsmenschen? Monumental, pathetisch und apokalyptisch: Der vierte Teil der Avengers erzählt von der Abendröte des Westens

Alles seit je. / Nie was anderes. /
Immer versucht. / Immer gescheitert. /
Einerlei. / Wieder versuchen. /
Wieder scheitern. / Besser scheitern.
Samuel Beckett

Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergang.
Friedrich Nietzsche

Wir sehen eine US-Durchschnittsfamilie am Sonntagnachmittag. Hotdogs werden zubereitet, ein Junge spielt Baseball, der Vater übt mit der Tochter Bogenschießen. Kurz dreht er sich weg - und plötzlich sind alle anderen verschwunden.

Mit einer Horrorszene, mit Verlust und Melancholie geht es los.

Besagter Vater ist Clint Francis Barton, die bürgerliche Existenz des Superhelden Hawkeye. Mehr als irgendwo sonst entlarvt sich das Marvel Universum (MCU) hier auch als Traum des kleinen Ami-Spießers, der seine halbprekäre Existenz nur dadurch aushält, dass er sich einbildet, eigentlich ein Superheld zu sein.

Klarerweise drehen die MCU-Geschichten das regressive Schema einfach um: Sie erzählen Geschichten von Superhelden, die davon träumen, ganz normale Familienväter, Durchschnittsverdiener und Spießbürger zu sein. Sogar Tony Stark, der Ironman und Multimilliardär kehrt in diesem Film, so scheint es, den Wolkenkratzern und Stahlkarossen den Rücken, zieht in ein Haus am See und hat mit Dauerassistentin Pepper Potts eine kleine Tochter. Das kann nicht lange gut gehen.

Avengers 4: Endgame (0 Bilder) [1]

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Man muss die Übersicht behalten

Die Horrorszene ist auch der Anschluss an das Geschehen von Anthony Russo und Joe Russos "Avengers: Infinity War", das Endes des dritten Teils der "Avengers"-Geschichte. In dem hatte der universale Oberschurke Thanos (Josh Brolin) fünfzig Prozent aller lebenden Kreaturen vernichtet, egal ob Tiere, Menschen oder Superhelden.

Es ist kompliziert. Man muss die Übersicht behalten. Wir sind im vierten Teil von "Phase 3".

Man muss sich schon ein bisschen auskennen im Universum der Comic-Firma Marvel, um diesen Film überhaupt verstehen und wirklich schätzen zu können. Denn "Avengers" ist sozusagen das Über-Narrativ des Marvel-Universums. Um es für alle Nichtinformierten trotzdem sehr grob zusammenzufassen: Es geht darum, dass besagter Oberschurke nur mit vereinten Kräften und Arbeitsteilung zu besiegen ist.

Darum schließen sich alle Superhelden, obwohl sie längst ihre eigenen Aufträge (und Filme) haben, zu einem Bündnis auf Zeit zusammen: Iron Man (Robert Downey Jr.), Spider-Man (Tom Holland), Incredible Hulk (Mark Ruffalo), Captain America (Chris Evans), Black Widow (Scarlett Johansson), Thor (Chris Hemsworth) und Black Panther (Chadwick Boseman) bilden die "Avengers" ("Rächer").

Die Vergangenheit liegt in der Zukunft

Zunächst aber herrschen, wie gesagt, Trauma und Melancholie. "Jeder will ein happy end, aber das kann es nicht immer geben", spricht mit prophetischer Gabe Ironman zu Beginn für den Fall seines Todes auf Band. Er hat kaum noch Sauerstoff auf seinem Raumschiff. Dann allerdings wird er gerettet, in einem spektakulären ersten Auftritt der charismatischen Brie Larson als "Captain Marvel". Dann trifft er auf die übrigen überlebenden Kollegen.

Und dann ... und dann ... - man verrät nicht zuviel, wenn man verrät, dass Thanos bald darauf getötet wird - denn der eigentliche Clou von "Endgame" ist, dass in dieser Handlung sehr viele Figuren sterben, wiederauferstehen oder sogar doppelt vorhanden sind. Zu erklären warum, würde hier zu weit führen, aber es hat mit Quantenphysik und Zeitreisen zu tun. Die Vergangenheit liegt in der Zukunft.

Die Helden reisen hier mehrfach hin und her durch die Zeit: Mal in die Siebziger Jahre, wo sie Väter, Exlieben oder Kollegen in Jung treffen - so bekommt Michael Douglas hier einen computertechnisch generierten Kurzauftritt als junger Mann. Oder es geht nur ein paar Jahre zurück. Auch da hilft Textsicherheit und Figurenkenntnis der Zuschauer.

Denn in der Vergangenheit treffen sie sich selbst, kämpfen sogar gegen sich und scheinen zunächst mit ihrer Mission Erfolg zu haben. Doch dann kommt auch der Unhold Thanos durchs Zeitloch aus der Vergangenheit quicklebendig ins Hier und Jetzt und will die Erde ein zweites Mal vernichten.

Bild: © Marvel Studios

Fast alles in diesem Film ist überlebensgroß: Bereits der Prolog dauert eine halbe Stunde. Danach geht es hin und her, jede Figur wird irgendwie abgehandelt, jede Nebenfigur darf noch einmal durchs Bild gehen. Sogar Marisa Tomei, die gefühlt 33te in der Reihe, hat laut Abspann einen eigenen Assistenten. Aber nur Robert Downey Jr. hat einen eigenen Koch, Tamie Cook [3].

Es gibt also Hierarchien. Im Zentrum stehen diesmal eindeutig Ironman, Captain America und Newcomerin Captain Marvel (Brie Larson), sie sind die Hauptfiguren. Stilstisch ist das aufregend und bombastisch inszeniert. Dieser Film hat für alle etwas: Neben Douglas gibt es auch markante Nebenauftritte von Robert Redford, Tilda Swinton und Angela Basset. Es gibt gute Witze, dann wieder Melodramatik, Ernst und das Bemühen um Tiefe. Und viele Filmverweise: "Back to the Future", "The Big Lebowski".

Was dieser Film überraschenderweise am wenigsten hat: Action! Dies dürfte der actionärmste Superheldenfilm der Marvel-Geschichte sein.

Die vorhersehbare Riesenmaterialschlacht am Ende dauert nicht allzu lange. Dafür gibt es dann nach dem eigentlichen Ende auch noch einen Epilog, der wiederum viele Filmminuten verschlingt. Vieles macht "Avengers: Endgame" trotzdem besser als seinen steifen Vorgänger "Infinity War".

Endspiel des Westens

Man muss das alles nicht ernst nehmen. Man kann es aber. Und wenn man es tut, wenn man glaubt, dass in derartigen populärkulturellen Mythologien, wie sie das Marvel-Universum darstellt, ein gesellschaftliches und kulturelles Unbewusstes sich ausdrückt, dann hat uns dieser Film einiges über uns selbst zu erzählen.

"Avengers 4 Endgame" handelt vom Endspiel des Westens. Der Film bringt uns bei, Niederlagen einzustecken, wieder aufzustehen, einen neuen Anlauf zu versuchen. Der Film erzählt davon, wie man mit Traumata umgeht, und was man tun sollte, wenn man verloren hat. Und nicht zuletzt bringt er uns bei, wofür es sich zu leben lohnt, und wofür zu sterben.

"Philosophieren heißt Sterben lernen" schrieben die römischen Stoiker Cicero und Seneca. Nicht jeder, der Sterben lernt, wird aber dadurch zum Philosophen. Der Film übt es trotzdem mit uns ein, trainiert den Tod, um ihn gleichzeitig zu bannen. Ein Warmlaufen, ein Vorlaufen zum Tode.

Das geschieht zum einen, in dem der Film vom Altern der Helden erzählt. Sie haben Falten, sie haben Traumata, sie sind müde. Unter ihnen haben es die alten weißen Männer eindeutig am Schwersten. Das "Diversitywashing" macht auch vor den Superhelden nicht halt. Und so wird "Captain America" am Ende seine Figur einem Schwarzen "übergeben". Da schlägt Moral den Sinn, Symbol die Notwendigkeit, politische Biederkeit die Eleganz.

In alldem ist es die Abendröte des Westens, von der dieser Film erzählt - monumental, pathetisch und apokalyptisch. Das ist sehenswert. Aber lustig ist es nicht.


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[3] https://www.imdb.com/name/nm1309661/