Baltic Pipe: Warum Polen trotz neuer Gasleitung kaum über den Winter kommt

Bernd Müller

Bild: Lemiel, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Mit überschwänglichen Worten wurde die neue Gasleitung am Dienstag eröffnet. Vorerst bleibt sie leer, weil Lieferanten fehlen. Im Dezember könnte das Gas im Land knapp werden.

Seine Schadenfreude hat der ehemalige polnische Außenminister Radek Sikorski nicht verstecken wollen: Am Mittwoch sendete er via Twitter ein Bild von der Ostsee mit dem Gasleck der explodierten Nord-Stream-Pipelines und schrieb: "Thank you, USA".

Die Ostseeanrainer hätten 20 Jahre gegen den Bau der beiden Pipelines opponiert – und nun läge Metallschrott im Wert von 20 Milliarden US-Dollar auf dem Meeresboden, spottete er weiter.

Drei der vier Leitungen der Nord-Stream-Pipelines sind vermutlich für immer zerstört, hieß es am Mittwoch im Tagesspiegel. Aus deutschen Regierungskreisen habe es geheißen, wenn die Leitungen nicht schnell repariert würden, könnten sie durch das eindringende Salzwasser korrodieren.

Die Freude über das Aus der beiden Pipelines, die von Sikorski offen zur Schau gestellt wurde, könnte allerdings Polen auf die Füße fallen. Denn es ist weiterhin offen, ob das Land gut über den Winter kommen wird. Anfang September berichtete das Handelsblatt, es könnte sein, dass Polen ohne Gas dastehen wird. Bislang hat sich daran wenig geändert.

"Baltic Pipe" feierlich eröffnet – liefert vorerst aber kein Gas

Große Hoffnungen hatte die polnische Regierung auf die Ostsee-Pipeline "Baltic Pipe" gelegt. Sie verbindet Polen mit den Gasfeldern vor Norwegen. Doch die Regierung von Mateusz Morawiecki hatte es versäumt, Lieferverträge abzuschließen.

Das hinderte aber nicht die Regierungsvertreter aus Polen, Dänemark und Norwegen, "Baltic Pipe" mit großen Worten einzuweihen. Am Dienstag wurde sie in Goleniow nahe der polnischen Hafenstadt Stettin feierlich eröffnet.

"Die Ära der russischen Vorherrschaft beim Thema Gas geht zu Ende – eine Ära, die von Erpressung, Drohung und Zwang geprägt war", erklärte Morawiecki. Es beginne nun eine neue Ära der Energiesouveränität und -freiheit.

Aus Sicht der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen markiere dieser Tag "einen entscheidenden geopolitischen Schritt für uns alle". Man müsse tun, was man könne, "um Energie als Instrument russischer Macht zu beseitigen".

Und Norwegens Energieminister Terje Aaland betonte, Russlands Präsident Wladimir Putin wollen den Westen spalten, was ihm aber nicht gelinge. "Baltic Pipe" sei ein wichtiger Schritt "auf dem bedeutenden Weg zur Unabhängigkeit Europas von russischer Energie".

Hohe Kosten – wenig Gas

Große Worte – hinter denen sich die geschäftlichen Differenzen für den Moment verstecken lassen. Was Morawiecki aber nicht sage: Die polnischen Steuerzahler werden wohl noch lange für eine Pipeline zahlen müssen, deren Beitrag zur Energieversorgung des Landes noch relativ klein ist.

"Baltic Pipe" ist ein rund 900 Kilometer langer Abzweig der bereits bestehenden Trasse "Europipe II", die von Norwegen nach Niedersachsen führt. Die Pipeline schließt westlich von Dänemark an die bestehende Leitung an, führt dann zum dänischen Festland und weiter durch die Ostsee nach Polen.

Die Baukosten beliefen sich auf rund 1,6 Milliarden Euro, von denen der polnische Netzbetreiber Gaz-System und das staatliche dänische Unternehmen Energinet den größten Teil getragen haben. Rund 250 Millionen Euro steuerte die Europäische Union bei.

Die Dänen sahen das Projekt weniger unter dem Gesichtspunkt, die "russische Vorherrschaft" im Gassektor zu brechen, sondern als Geschäft: Für ihre Investitionen ließen sie sich großzügige Garantien geben, berichtete die polnische Ausgabe von Newsweek am Wochenende.

Polen musste sich demnach verpflichten, erhebliche Summen zu zahlen, sollte die Auslastung der Pipeline nicht bei einem vereinbarten Minimum liegen. Der staatliche polnische Energiekonzern PGNiG hat demnach mehr als 80 Prozent der Kapazität der "Baltic Pipe" reserviert – bis zum Jahr 2037. Sollte die Leitung in einem geringeren Umfang genutzt werden, muss trotzdem gezahlt werden.

Von dem Wert, dem der dänische Teil der Leitung entspricht, müssen dem Bericht von Newsweek zufolge, zwei bis drei Prozent pro Jahr gezahlt werden. Hinzu komme noch ein bestimmter Prozentsatz "des potenziellen Cashflows des dänischen Pipelinebetreibers". Allein das könnte sich auf rund 100 Millionen Złoty im Jahr summieren.

Bislang ist nicht abzusehen, ob und wann die "Baltic Pipe" den vereinbarten Auslastungsgrad erreichen wird. Bis Anfang September stand die polnische Regierung noch mit leeren Händen da. Verträge konnte sie bis dahin nicht vorweisen.

Das hatte unter anderem daran gelegen, dass Norwegen sein Gas nicht unter Marktpreisen verkaufen wollte. Das Land hat seine Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet, nur zu den Preisen zu verkaufen, die am Markt üblich sind.

Das hatte wiederum die polnische Regierung erzürnt. "Sollen wir Norwegen 110 Euro pro Megawattstunde für Gas zahlen? Vier- oder fünfmal mehr als vor einem Jahr? Das ist doch krank", hatte Morawiecki Anfang September getobt.

Polnische Gasspeicher reichen nicht über den Winter

Inzwischen scheint er nachgegeben zu haben: Ab 2023 wird PGNiG knapp 2,4 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Jahr aus Norwegen beziehen. Die Vereinbarung mit dem norwegischen Energieriesen gilt für zehn Jahre – und deckt etwa 15 Prozent des polnischen Jahresverbrauchs.

Die polnische Regierung hatte auch darauf gehofft, dass das dänische Unternehmen Orsted schon ab diesem Jahr in die Pipeline einspeisen wird. Zwischen 2022 und 2028 sollten insgesamt 6,5 Milliarden Kubikmeter geliefert werden. Aus technischen Gründen wurde der Start aber auf den Jahreswechsel 2023/24 verschoben.

Das Aus der Nord-Stream-Pipelines wirkt sich nun auch negativ auf Polen aus: Über Deutschland deckte das Land in den letzten Jahren etwa 18 Prozent seines Gasbedarfs. Ohne russisches Erdgas kann die Bundesrepublik aber kaum Polen mitversorgen.

Die polnische Regierung beteuert: Die Gasspeicher sind voll. Doch Newsweek weist darauf hin, dass diese Aussage in Polen etwas anderes bedeutet als in benachbarten Ländern.

Auf die Bevölkerungszahl bezogen bedeutet das: Polen verfügt über einen Vorrat von weniger als eine Megawattstunde Gas pro Kopf. In Deutschland sind es dagegen drei Megawattstunden pro Kopf und in der Slowakei sechs.

Vor diesem Hintergrund hatte kürzlich auch die polnische Sektion der Umweltorganisation Greenpeace gewarnt: Ab Dezember könnte es in Polen zu einer Gasknappheit kommen. Und die ab Januar geplanten Lieferungen über die "Baltic Pipe" werden den Bedarf nicht decken können.