zurück zum Artikel

Basta Europa? - Ist ein Italexit wahrscheinlich?

Hat Italien den Traum eines geeinten Europas ausgeträumt?

Die Briten haben offiziell ihren Brexit-Antrag eingereicht und somit die Austrittsverhandlungen mit Brüssel in Gang gesetzt. Das britische Volk hatte sich vor 9 Monaten in diesem Sinne ausgesprochen. Was die einen jetzt triumphieren lässt, veranlasst andere zur Trauer oder zumindest zum Räsonieren. Ist dieser EU-Organismus schon so krank, dass ganze Gliedmaßen amputiert werden müssen?

Die EU scheint heute verwundbarer denn je und Italien könnte für die Zukunft der Union tatsächlich zum Zünglein auf der Waage werden. Wie empfinden die Italiener? Sind sie pro oder kontra ein Verbleiben Italiens in der EU?

Nach den Feierlichkeiten zum 60-jährigen Bestehen des geeinten Europas letzte Woche in Rom ist allein die Andeutung eines möglichen Italexit vielleicht ein schräger Kontrapunkt. Doch bei den massiven Kampagnen der Euro- und EU-skeptischen Parteien und Bewegungen, die die Anti-Europa-Devise im Hinblick auf die nächsten Wahlen zu ihrem Steckenpferd gemacht haben, zwingt sich die Frage nach den Intentionen der Italiener in Bezug auf die EU förmlich auf.

76% der Italiener sind für die Europäische Union

Zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge erschien ein Report des berühmten Marktforschungsinstitutes Doxa, laut dem die Italiener sogar überzeugtere Europabefürworter als in den 60er Jahren sind [1].

Die Anzahl ist sogar höher als bei der Befragung, die Doxa im Jahr 1950 durchgeführt hatte, also lange vor den Römischen Verträgen. Damals war von den "Vereinigten Staaten von Europa" die Rede. Die Einigung des alten Kontinents wurde als Gegenmittel gegen weitere Kriege sowie als eine konkrete Chance für das Wachstum der italienischen Wirtschaft angesehen. 71% der Italiener erklärten sich damals damit einverstanden, während nur 8% strikt dagegen waren.

Heute denken indes 40,2% der Italiener, dass dieser Bund "Vor-und Nachteile gleichermaßen" mit sich bringt.

Interessant ist, dass bei steigendem Bildungsniveau auch der Optimismus ansteigt. Die gleiche Frage hatten Doxa-Beauftragte 1962, zum ersten Mal nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, gestellt. Auch in jenem Jahr gewannen, allerdings unabhängig vom Bildungsgrad, die Verfechter eines geeinten Europas. 55% der Italiener erkannten in Europa mehr Vorteile, 9% sahen Vor- und Nachteile und nur 4% mehr Nachteile.

Heute denken im wirtschaftlich stagnierenden Italien 43,6% der Italiener, dass alles noch schlimmer sein würde, wenn Italien nicht Teil der Europäischen Union wäre. Bezüglich dieser Aussage finden sich geografische Unterschiede: in Zentralitalien sind 49,7% der Befragten davon überzeugt, 41% im Nord-Westen und 43,8% im Nord-Osten.

Wie stellen sich die Italiener Italien und die Europäische Union in 5 Jahren vor? 60% sind der Meinung, dass Italien immer noch ein EU-Mitgliedsstaat sein wird, 11% sehen einen Austritt voraus und 12% denken sogar, dass die EU in 5 Jahren nicht mehr existieren wird.

Eine klare Mehrheit spricht sich für die EU aus, was in Anbetracht der seit geraumer Zeit grassierenden negativen Einstellung Brüssel gegenüber, doch sehr verwundert. Fazit: Die Italiener haben die Idee eines geeinten Europas noch nicht aufgegeben. Sie haben noch ein starkes Urvertrauen in die EU, obwohl ihr Protest sehr oft durchaus begründet ist.

Demonstrationen in Rom

Auf den Straßen Roms fanden während der Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag den ganzen Tag und fast zeitgleich sieben Veranstaltungen bzw. Demonstrationen statt. Die ganze Palette wurde abgedeckt: von europa- und eurobegeistert bis hin zu deren erbittertsten Gegnern, waren alle Schattierungen und Nuancen vertreten.

Da gab es den "Marsch für Europa": mehr Europa für ein besseres Europa. Aus den Lautsprechern der Bühne ertönte kontinuierlich die Ode an die Freude zur Feier der bislang erreichten Integration. Doch diese Fraktion spricht die EU nicht von allen Mängeln und Fehlern frei: Der institutionelle Rahmen Europas sei unvollständig und nicht in der Lage, Antworten auf praktische Fragen zu geben, wie etwa die Sicherheit oder die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Hauptverantwortung liege bei den Mitgliedsstaaten, die ihre Souveränität nicht aufgeben wollen. Das Projekt Europa dürfe nicht geschwächt, sondern müsse kritisch unterstützt werden.

Eine weitere Demo war von den linken Parteien organisiert worden. Hier tummelten sich auch die Gewerkschaften, allerdings fehlte die PD. Hier tönte es ganz anders aus den Lautsprechern. Priorität war hier die Einheit der linken Parteien, um ein stärkeres Europa zu erschaffen. Europa würde gebraucht werden, aber das aktuelle sei völlig falsch, behaupten sie, außerdem wollen sie die Verträge umschreiben. Der Punkt sei nicht aus Europa auszusteigen, um den Populismen zu folgen, sondern, dass dieses Europa radikal geändert werden müsse, sonst würde es nicht überleben. Die europäische Politik müsse ihren Fokus weg von Geld und Finanz hin auf Arbeit, Sozialrechte und soziale Gerechtigkeit richten.

Für die italienischen Kommunisten habe der freie Umlauf von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen nur Schaden angerichtet. Die soziale Ungleichheit habe sich intensiviert. Während große Unternehmen und Banken immer mehr verdienen, habe die ungehinderte Zirkulation die Arbeitnehmer in einem ewigen Konkurrenzkampf gegenseitig aufgehetzt.

Die EURO-STOP-Veranstaltung plädierte hingegen für ein föderales Europa, in dem die nationale Souveränität der einzelnen Länder gewahrt wird. "Wir sind gegen die EU, aber für Europa", lautet ihr Motto. Sie sehen den Euro als Einschränkung für das wirtschaftliche Wachstum und fordern eine Integration anderer Art.

Europäisches Bewusstsein - Seit wann fühlen wir uns als Europäer?

Da die Welt immer nur nach vorne blickt, folgt hierzu eine kurze, renitente historische Digression. Der Begriff "Europa" wurde zuerst im antiken Griechenland zur Bezeichnung aller Gebiete verwendet, in denen sich die griechische Zivilisation ausgeweitet hatte. In der griechischen Mentalität war Europa der Westen, das Land der Griechen und der Freiheit, wohingegen der Osten das Land der Perser und der Sklaverei bezeichnete.

Von der griechischen Kultur ging die Idee von Europa auf die Römer über, die ihr allerdings den Kult des Römertums vorzogen. Interessant ist, dass sie mit dem Begriff "Europa" ausschließlich eine kleine Provinz im äußersten östlichen Rand des Reiches definierten, die in etwa mit der heutigen Türkei übereinstimmte.

Im Mittelalter brachte das Christentum die moralische, kulturelle und politische Identität der zivilisierten Welt zum Ausdruck. Kaiser Karl der Große wird in verschiedenen Dokumenten oft "rex pater Europae" oder "Europae venerandus apex" gennannt, aber diese Namen stellten einen rein geographischen Bezug zu Europa dar. Die Bewohner des Kontinents wurden "Fideles", Gläubige, genannt, und nicht "Europeenses", Europäer.

Ab dem 15. Jahrhundert nahmen allmählich die modernen monarchischen Nationalstaaten Gestalt an, doch die Entstehung von Nationalstaaten in Europa, wie wir sie heute kennen, war ein langsamer Prozess, der bis zum 19. Jahrhundert andauerte, als in einem Kontext heftiger Nationalismen Europa v.a. von einer beschränkten intellektuellen Elite, unabhängig von ihrem Herkunftsland, als geistige und kulturelle Heimat der Europäer angesehen wurde.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3672216

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.doxa.it/siamo-quasi-tutti-europei/