Baukultur aus der Defensive

Museum Brandhorst. Bild: Guido Radig. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Was eine zeitgemäße Architektur für die Umwelt leisten muss

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Baukultur ist weit mehr als "schöne Architektur". Sie ist vielmehr als Produktion von und Umgang mit der gebauten Umwelt zu begreifen, schon weil diese nicht allein aus Häusern, sondern auch aus Straßen und Brücken, Parkplätzen, Lärmschutzwänden oder Müllentsorgungsboxen besteht. Doch nach wie vor wird die Diskussion von ästhetischen Parametern dominiert.

Augenscheinlich zeigt sich Baukultur an ganz bestimmten Orten: beim umgebauten Reichstag etwa oder dem Museum Brandhorst in München , bei der Elbphilharmonie in Hamburg, vielleicht sogar irgendwann am Humboldt-Forum (vulgo: Schloss) in Berlin. Medial entsprechend unterstützt, bestimmen solitäre Bauvorhaben und ihre Schöpfer das Bild; einerlei, ob sie nun dem Organisch-Ökologischen oder der Askese, dem Rekonstruktivismus, einem poetischen Rationalismus oder dem frappanten Reiz des Technoiden huldigen. Architektur ist en vogue und erfreut sich also einer selektiven Aufmerksamkeit. Sie sei, so wird heute wieder gern betont, die Mutter der Künste.

Und in der Präambel des Darmstädter Gesprächs "Mensch und Raum", anlässlich dessen im Jahr 1951 Geistesgrößen aller Couleur (u.a. Martin Heidegger, Otto Bartning, Jose Ortega y Gasset, Dolf Sternberger, Hans Scharoun, Egon Eiermann, Richard Riemerschmid) zusammengekommen waren, heißt es bedeutungsschwer:

Bauen ist eine Grundtätigkeit des Menschen - Der Mensch baut, in dem er Raumgebilde fügt und so den Raum gestaltet - Bauend entspricht er dem Wesen seiner Zeit - Unsere Zeit ist die Zeit der Technik - Die Not unserer Zeit ist die Heimatlosigkeit.

Ein halbes Jahrhundert später weiß die Soziologie (in persona Ulrich Beck) zu ergänzen, dass Architekten nicht nur Friseure und Kosmetiker des "Stadtgesichtes" seien, sondern Gesellschaftsgestalter im steinernen Sinne des Wortes. Allerdings ist die Architektur in aller Regel genötigt, sich den geltenden ökonomischen Mechanismen zu stellen. Im Kulturbereich heißt das: Wer viel Wirbel macht, erringt viel Aufsehen. Und (nur) das zählt.

Leben hinter der Lärmschutzwand. Bild: TP

Tatsächlich scheint Baukultur lediglich zu sein, was als ästhetisch kommuniziert wird: Also eine bestimmte Architektur. Diese, und nur diese, wird in der breiten Öffentlichkeit rezipiert, für (mehr oder weniger) gelungen befunden. Mit dem Alltag der Bürger - Stichwort: "My Home is my castle" - hat das in der Regel herzlich wenig zu tun. Mit Baukultur allerdings auch nicht. Denn es sind gesamtgesellschaftliche Parameter, die diese bestimmen. Und damit wird das Terrain vage.

Während der Umgang mit der Architektur in vorstaatlichen Zeiten einen Teil der gesellschaftlichen Gesamtaktivität darstellte, so ist ihre Rolle als Bedeutungsträger längst, gelinde gesagt, diffus geworden. Wir stehen vor einem Dilemma: Die sprichwörtlich gewordene "Unwirtlichkeit" unserer Städte nimmt eher zu als ab. Die sichtbaren, greifbaren Möglichkeiten der Einflussnahme verflüchtigen sich mehr und mehr. Die öffentliche Hand gibt Ordnungshoheiten an private Zuständigkeiten ab. Sonntagsredner sprechen von Baukultur, meinen aber Verkaufskultur und vergessen geflissentlich, ihre Zuhörer darauf hinzuweisen. Selbst die Architekten gehen augenscheinlich von einem recht reduzierten Begriff aus. Wenn sie von Baukultur reden, dann werden rund 90% unserer Alltagswirklichkeit ausgeblendet. Diese scheinen sich als Gegenstand für das berufliche, kreative Schaffen nicht zu eignen.

Die Geringschätzung, mit der etwa die Gewerbegebiete bedacht werden, erinnert bisweilen an die Abneigung gegenüber den Mietskasernenviertel in den 20er Jahren: Geißelte man damals mangelnde Hygiene und zu hohe Baudichte, werden heute Flächenfraß, Identitätslosigkeit und Fokussierung auf den Individualverkehr kritisiert. Wahrgenommen werden nur die Kathedralen der Neuzeit: Museen, Regierungsbauten, Konzernzentralen, Geschäftshäuser usw. Die grey belts dagegen bleiben baulich terra incognita - nach Kräften ignoriert, achselzuckend ertragen, hastig durchquert, so es sich nicht vermeiden lässt. Und dass, vor einiger Zeit, die Architektur-Biennale in Venedig sich eines recht vollmundigen Mottos befleißigte, heisst ja noch lange nicht, dass tatsächlich "mehr Ethik, weniger Ästhetik" unsere künftige Umweltgestaltung bestimmt.

Elbphilharmonie im Bau, September 2011. Bild: Holger Ellgaard. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Freilich offenbart der Begriff Baukultur auch einen Januskopf. Zwar entwickelt er eine kritische Kraft, wenn er Mangelerscheinungen und Qualitätsverluste aufzeigt, wenn es zu diskutieren und öffentlich zu machen gilt. Aber zugleich versackt er hoffnungslos im Reaktionären, Fundamentalistischen, wenn das Bild der heilen, vermeintlich wieder erreichbaren Welt projiziert und vorgegaukelt wird.

Das Koordinatensystem einer kritischen Betrachtung der Baukultur stellt jener gesellschaftliche Wandel dar, der von Neoliberalismus und Globalisierung bis zu kultureller Entwurzelung und Ortlosigkeit reicht. In diesem Prozess lässt sich ja eine strukturell bedingte Leere konstatieren, die indes keineswegs nur von abstrakter oder akademischer Bedeutung ist: Wir erfahren sie ganz konkret und individuell als Identitätskrisen, als einen gesellschaftlichen Solidaritätsverlust oder kulturell als das Komplexitätsproblem einer uns immer fremder werdenden Welt.

Gewerbegebiet im Münchner Osten. Bild: TP

Architektur übernimmt Ordnungsaufgaben in der Gesellschaft

Nun wäre es jedoch eine Illusion zu erwarten, dass Baukultur von allen Mitgliedern einer Gesellschaft interpretatorisch gleich bewertet wird. Gerade weil sie aber mit der Befriedigung der alltäglichen Lebensbedürfnisse zu tun hat, liegt ihre zentrale Aufgabe nach wie vor darin, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen der Orientierung am Gemeinwohl und der Optimierung von Eigentums- und Individualrechten Einzelner. Die Architektur übernimmt als räumliches System noch immer Ordnungsaufgaben innerhalb der Gesellschaft. Nur muss man sich dessen neu bewusst werden. Es geht weniger um solitäre Glanzleistungen als vielmehr um die Gesamtheit aller Elemente der gebauten Umwelt und die Qualität ihres Wechselspiels untereinander.

Um nicht missverstanden zu werden: "Gute Architektur" ist unbedingt zu begrüßen - solange sie eine Ziellinie markiert, um das allgemeine Niveau zu heben. Insofern darf sie nicht normativ sein. Doch nicht nur Le Corbusier hatte genau das im Sinn: "Die Kunst unserer Zeit ist am richtigen Platz, wenn sie sich an die Elite wendet." Wenn Baukultur aber nur die meinungsbildenden - und zahlungskräftigen - Eliten bedient, geht sie fehl. Im Umkehrschluss wäre also jener Anspruch wiederzubeleben, der in den 20er Jahren Konjunktur hatte: nämlich mit einer "besseren" Architektur auf eine "bessere" Gesellschaft hin zu arbeiten.

Was heißt das nun für den "Umweltgestalter"? Zunächst einmal muss man Abstand gewinnen vom Glauben an die Mach- und Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung, ohne indes gleich jeden Aufbruchswillen ad acta zu legen. Im Zeichen des weltweiten Siegeszuges rein ökonomischer Werte braucht es wieder eine Utopie. Obgleich unsere Strukturkrisen die Gesellschaft als Ganzes betreffen, ist es die gebaute Umwelt, wo ihre Metastasen am Sichtbarsten auftreten. Wir werden stärker über den Tellerrand der unmittelbaren Konsumbedürfnisse hinausgucken müssen, soll unsere Lebenswelt nicht unter diesem Konformitätsdruck komplett nivelliert werden.

Colin Rowe sieht einen Teil des Problems im Berufsstand selbst begründet:

Wo kann man jetzt noch das Prinzip des Widerstandes gegen die trostlose kapitalistische Ausbeutung finden? Eine Ausbeutung, die, um es einmal auszusprechen, miterzeugt wurde von der kulturellen und politischen Arglosigkeit der Architekten, die mit sublimer Unschuld - und wenig Wissen um das, was sie taten - ihre Begeisterung über "Funktion" ausdrückten und vollständig ihre inhärente Begeisterung über den "Stil" verbargen.

Und obgleich er in eine ganz andere Richtung zielt, haut Hans Kollhoff in die gleiche Kerbe:

Unser Metier legitimiert sich zunehmend in linguistisch-philosophischen Diskursen, die längst den Kontakt zum Bauen verloren haben. In zunehmenden Maße scheint die Architektur dem Metier des Bildermachens und Geschichtenerzählens zuzugehören.

Man mag das Übermaß an Theoretisierung mit Recht bemängeln. Aber: Braucht es nicht eine Kultur der permanenten Debatte, der Bewusstwerdung, des Betroffenmachens? Gerade weil das vielschichtige Phänomen menschlicher Bedürfnisse immer stärker auf objektivierbare und messbare Zweckkategorien reduziert - und damit, in den Worten Max Webers, die "Entzauberung der Welt" betrieben - wird, gehen auch vitale Ansprüche an die Baukultur in der Scheinobjektivität einer planungs- und marktkonformen Bedürfnis-Interpretation verlustig.

Bauträger-Architektur in München, Trudering. Bild: TP

Freilich, so ungenügend der derzeitige Städtebau und die Alltagsarchitekturen, die einer Kapitulation vor "dem Markt" gleichkommen, sein mögen, so wenig gibt es ein mustergültiges Gegenbild. Denn Baukultur als durchkonstruierter Idealzustand ist zum Scheitern verurteilt; sie muss als dynamischer, unvorhersehbarer Prozess gedacht werden. Ein euphorisches Zukunftsbild hinzustellen, das reicht nicht. Schnelle Effekte sind nicht realistisch. Aber welcher Architekt mag sich dem schon unterziehen; im beruflichen Alltag wähnt er beides für unentbehrlich.

Ein unauflösliches Dilemma? Vielleicht. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass einzelne - wie auch immer gelungene - architektonische Großtaten noch längst keine Baukultur schaffen. Denn sie ist nicht isoliert zu sehen, nicht greifbar, sondern tief eingewoben in Mentalitäten, Gewohnheiten einer Gesellschaft. Für Baukultur heute muss wie in der Kunst gelten: Es gibt nichts Schlimmeres, als es gut gemeint zu haben.