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Bedingungsloses Grundeinkommen statt bedingungsloser Bereitschaft gegenüber der Jobagentur

Werner Rätz. Bild: privat

Der Attac-Aktivist Werner Rätz zur Möglichkeit einer Grundsicherung in der gesamten EU, die Emanzipation des Prekariats und die politische Rechte

"Arme und Erwerbslose würden mit einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) nicht nur aus der Armut herauskommen, sondern müssten sich auch dem Druck durch Hartz IV nicht mehr beugen und drangsalieren lassen," schreiben Werner Rätz und Dagmar Paternoga in einem Text des globalisierungskritischen Netzwerks Attac.1 [1] Doch viele Menschen haben sich an die Normen der Lohnarbeitsgesellschaft, deren Sozialversicherungsprinzip aus Bismarcks Zeiten stammt, derart gewöhnt, dass für sie ein anderes, emanzipierteres Leben kaum vorstellbar ist.

Der bestehende deutsche Sozialstaat bindet das Bedürfnis nach Existenzsicherung paternalistisch an die Bedingung, sich für jegliche Form der Lohnarbeit bereit zu halten, selbst wenn Lohn und Arbeitsbedingungen prekär und ausbeuterisch sind. Dabei wäre das BGE lediglich eine Konsequenz aus Artikel 25 der Menschenrechtserklärung, die die Vereinten Nationen nach heftigem Widerstand der USA im Jahr 1966 beschlossen hatten. Ein bedingungsloses Recht auf Nahrung, Arbeit, Gesundheit, Wohnung und auf einen angemessenen Lebensstandard steht seitdem allen ErdenbürgerInnen zu; doch es lässt sich in der staatlichen Praxis nirgends bedingungslos einlösen.

Wer nicht pariert, wird sanktioniert. Weshalb ist diese Praxis aus Zeiten des Obrigkeitsstaates immer noch Common sense und wie könnten emanzipatorische Kräfte sie überwinden? Darüber gibt Werner Rätz Auskunft.

Wenn ein BGE eingeführt wird, wer putzt dann noch öffentliche Toiletten? Wer macht die unattraktiven, aber "systemrelevanten" Jobs?
Werner Rätz: Die macht auch jetzt keiner freiwillig, die machen die Leute nur, weil sie die schlechten ökonomischen Bedingungen, unter denen sie leben, akzeptieren müssen. Bei einem BGE müsste man sie besser bezahlen, vielleicht auch die Arbeitsbedingungen verbessern, die Arbeitszeit verkürzen. Vielleicht müsste man noch andere Lösungen finden, die sich aus solchen Fragen ergeben. Da ginge es nicht nur um öffentliche Toiletten, um viele andere Tätigkeiten auch, die notwendig sind, zum Beispiel um Müll.
Man hat bei unangenehmer Arbeit drei Optionen: Die Arbeit nicht erledigen - wer keinen Müll produziert, muss ihn nicht entsorgen - die Arbeitsabläufe angenehmer machen und solche Arbeit besser bezahlen. Eine Kombination dieser drei Faktoren hat immer funktioniert, wird auch in Zukunft funktionieren.
Dass Milliardäre im Jahr 12.000 Euro BGE erhalten sollen, ist kaum zu vermitteln.
Werner Rätz: Das bekommen Milliardäre gar nicht. Es gibt keinen einzigen BGE-Vorschlag, der dazu führt, dass Milliardäre 12.000 Euro zusätzlich erhalten. Selbst der Vorschlag von Thomas Straubhaar, der aus einer liberalen, wenn nicht neoliberalen Richtung kommt, sieht vor, dass Milliardäre deutlich höhere Steuern zahlen müssten als bislang. Der entscheidende Punkt beim BGE ist: Wir nehmen jedes Mitglied der Gesellschaft so ernst, dass wir sein materielles Leben garantieren, egal wie seine Zukunft aussehen wird, egal, wie der Milliardär sein Geld verzockt oder verschenkt - er wird ein Grundeinkommen behalten und davon leben können. Solange er Millionen und Milliarden zur Verfügung hat, wird eine BGE-Gesellschaft deutlich mehr Steuern von ihm erheben als das Grundeinkommen ausmacht; unter dem Strich wird in einer solchen Gesellschaft der Milliardär deutlich weniger Geld zur Verfügung haben als bisher.
Neoliberale befürworten das BGE, um den Sozialstaat abzuschaffen.
Werner Rätz: Ein BGE an sich schließt einen neoliberalen Ordnungsrahmen noch nicht aus, das ist richtig. Milton Friedmans Vorschlag bestand darin, sämtliche Sozialleistungen in den USA abzuschaffen und durch eine Steuerregelung zu ersetzen, die dazu geführt hätte, dass Menschen, die sonst über kein Einkommen verfügen, jährlich ein Viertel des steuerlich freigestellten Existenzminimums ausbezahlt erhielten. Das Verfahren nennt sich negative Einkommenssteuer, die die Finanzbehörde jenen zahlt, die ein Einkommensminimum unterschreiten. Anfang der 60er Jahre betrug dieses Minimum im Jahr 5.000 Dollar. Friedmans Vorschlag bestand darin, den Bedürftigen 1.250 Dollar jährlich auszubezahlen und alle anderen Sozialleistungen zu streichen. Solche Menschen wären nahe am Hungertod gewesen und hätten um jeden Preis arbeiten müssen, genau das war Friedmans Absicht. Die Betroffenen hätten sich für jeden Scheißjob verkaufen müssen.
Die Begleitbedingungen eines BGE sind also entscheidend. Für seine EmpfängerInnen ist es bedingungslos. Gesellschaftlich bestehen selbstverständlich Bedingungen, wie es eingeführt wird. Für die emanzipatorischen Kräfte ist völlig klar, dass ein BGE den Sozialstaat nicht abschafft, sondern ihn vervollständigen muss. Bei Modellen, die diesem Prinzip nicht entsprechen, würde sich die deutsche BGE-Bewegung gewiss dagegenstellen. Wir definieren die Höhe des BGE deshalb auch so, dass es für gesellschaftliche Teilhabe reichen muss. Wo das nicht der Fall ist, bestreiten wir, ob es sich überhaupt um ein BGE und nicht um Sozialabbau handelt.
Ärmere Länder könnten sich ein BGE gar nicht leisten; nur die reichen Industriestaaten, die auf Kosten anderer leben – Stichwort; Externalisierung –, könnten solchen Luxus finanzieren, sagen manche.
Werner Rätz: In dieser Frage stecken eine ganze Reihe von Problemen, die wir hier nur kurz anreißen können. Ich konzentriere mich mal auf drei Aspekte.
Erstens. Der Welthandel, wie er sich heutzutage darbietet, ist eine höchst unfaire Veranstaltung. Die frühindustrialisierten Nationen verfügen über deutliche Vorteile, die Rohstoffe produzierenden Länder über deutliche Nachteile. Großproduzenten und weltweit führende Akteure konkurrieren mit Kleinproduzenten, die ökonomisch und technologisch unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Da ist klar, wer gewinnt: Das ist wie ein Spiel zwischen der Nationalelf Spaniens mit der Auswahl von Andorra. Wie es ausgeht, steht vorher fest. So ist der heutige Welthandel organisiert.
Zweitens. Es ist spannend, dass in einer Reihe armer Länder sehr intensiv über ein BGE diskutiert wird, weil es eine Sozialleistung wäre, die die ökonomischen Bedingungen dort deutlich verbessern könnte. Ich verdeutliche das am bekannten Beispiel Namibia, eine ganze Reihe weiterer Länder kämen auch in Betracht. In Namibia existiert eine kleine Schicht, die über hohe Einkommen verfügt. Wenn nur die bestehenden namibischen Steuergesetze angewendet würden, hätte der Staat so viele Mehreinnahmen, dass sich das BGE auf einem Niveau der bereits bestehenden Grundrente finanzieren ließe.
Die Leute lebten mit diesem BGE zwar nicht im Wohlstand, aber die absolute Armut wäre beseitigt. Bislang leben die armen Menschen größtenteils von ihren Angehörigen, der Nachbarschaft oder von FreundInnen. Soziale Leistungen bestehen also durchaus in solchen Ländern, aber sie werden von privaten Netzwerken getragen. An ihre Stelle würden öffentliche Leistungen treten, die eine finanzielle Umverteilung von einer kleinen Schicht Reicher zur armen Bevölkerung bedeutete.
Die mittleren Schichten würden dagegen von der Fürsorge für Angehörige, Freunde und Nachbarn entlastet und erhielten neue ökonomische Perspektiven. WissenschaftlerInnen, die sich unter diesem Aspekt mit dem BGE beschäftigen, sehen gerade für arme Menschen in solchen Ländern große Vorteile. Deshalb ist die Debatte um ein BGE in Namibia oder Südafrika auch weiter als in Europa.
Drittens. Viele arme Länder waren vor einigen Jahrzehnten noch kaum in den Welthandel eingebunden, von einigen Branchen abgesehen. Ihr größter Nachteil ist bedingt durch ihre Kolonialgeschichte. Wer sich die Geschichte des europäischen Kolonialismus' und die postkoloniale Entwicklung der letzten Jahrzehnte anschaut, kann die eindeutige historische Schuld der europäischen Mächte nicht abstreiten. In Namibia haben die Deutschen Völkermord begangen, in anderen Ländern sind die Ursachen nicht so eindeutig, aber strukturell durchaus vergleichbar. Es bestehen also gute Gründe, ein BGE in den arm gemachten Ländern von denen finanzieren zu lassen, die diese Armut im Verlauf der Kolonialgeschichte verursacht haben, also von den reichen Ländern.
Diese drei Punkte verdeutlichen, dass ein BGE die soziale Ungleichheit sowohl innerhalb einzelner Länder als auch zwischen reichen und armen Ländern verringerte. Das hätte in Bezug auf internationale Spannungen, Migration usw. recht positive Effekte.
In Namibia und Finnland wurden die Experimente wieder eingestellt, offenbar hat das Establishment in Politik und Wirtschaft kein Interesse an einer Umsetzung.
Werner Rätz: In Finnland existierte nie die Absicht, ein BGE einzuführen, es wurde nur in den deutschen Medien so dargestellt. Es handelte sich um ein zweijähriges Projekt der finnischen Arbeitslosenverwaltung, die herausfinden wollte, wie weit sich das Geld für Erwerbslose verringern lässt, damit sie sich zur Arbeitssuche aufmachen. Bei der Auswertung stellte man fest, dass es funktioniert, einkommenslosen Menschen nur 560 Euro zu zahlen (statt über 1.000 Euro, was der normale finnische Satz für Erwerbslose ist) und dabei jeglichen Druck zur Arbeitsaufnahme auf sie einstellt, also jede behördliche Bevormundung unterlässt. Diese Gruppe bestand aus 2.000 BezieherInnen; die Vergleichsgruppe, die die üblichen Leistungen bezog, waren 120.000. Es stellte sich heraus, dass die Testgruppe der 2.000 intensiver Arbeit suchte als die Vergleichsgruppe.
In Namibia hingegen zeigten sich die politischen Widerstände. Die Steuerkommission als zuständige Stelle, die von der Regierung eingesetzt worden war, hatte die landesweite Einführung des BGE empfohlen. Die Regierung selbst war zunächst unschlüssig. Der jetzige Präsident Hage Geingob war damals Minister, er befürwortete die Einführung, aber andere im Kabinett waren eher dagegen oder unentschieden. Dabei haben Weltbank und Internationaler Währungsfonds massiv gedroht, jegliche Zusammenarbeit mit Namibia einzustellen, falls ein landesweites BGE-Experiment durchgeführt werde.
Es gab also eine Kooperation eines Teils der lokalen Eliten, die das BGE nicht wollten, mit internationalen Finanzinstitutionen. Diesen Widerstand wird man überwinden müssen, sowohl in einzelnen Ländern wie auch im globalen Rahmen, das ist bislang nirgends gelungen. Das bleibt eine politische Aufgabe, die nicht leicht zu bewältigen sein wird, weil die Eliten an solchen Projekten in der Tat kein Interesse haben. Die Projekte funktionieren, doch Eliten mit ihren beträchtlichen Vermögen würden zur Kasse gebeten.

Die Lohnarbeitsgesellschaft

Die Herstellung nützlicher Konsumgüter - Waschmaschinen etwa, oder Staubsauger - erfordert Arbeitsteilung, die nur als Lohnarbeit mit gewissem Arbeitszwang organisiert werden kann.
Werner Rätz: Es ist wie bei der Toilettenreinigung stets eine Frage der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung. Hinzu kommt die produktive Entwicklung. Autos werden schon im Wesentlichen von Robotern gebaut. Zwar wird immer noch mehr, als man anfangs dachte, bei der Roboterisierung von Menschen gemacht. Aber das sind spannende Tätigkeiten, die hohe Ausbildung und Qualifikation verlangen.
Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn schwere oder stumpfsinnige Arbeiten von Maschinen verrichtet werden. Der Grund, weshalb sogar Gewerkschafter heutzutage der Ansicht sind, dass eine weitere Rationalisierung der Fabriken nicht wünschenswert sei, liegt darin, dass sie um Arbeitsplätze kämpfen. Das ist allerdings technologischer Unsinn. Da, wo es möglich ist, dass Arbeit von Maschinen übernommen wird, sollten Menschen über die Entlastung froh sein. Wenn dann weniger Zeit benötigt wird, um die gleiche Menge herzustellen wie zuvor, sollte die Arbeitszeit verkürzt werden.
Ein BGE könnte unter Umständen dazu führen, dass die Produktivität einer Gesellschaft tatsächlich abnimmt, wie es beispielsweise Heiner Flassbeck befürchtet. Wer ein BGE beziehe, arbeite seiner Ansicht nach nicht gleich weniger, aber er züchtet vielleicht seine Tomaten selber, statt sie von der Agrarindustrie erzeugen zu lassen. Flassbeck glaubt nicht, dass alle in Urlaub fahren und weniger tun, einzelne würden in der BGE-Gesellschaft vielleicht sogar mehr arbeiten, aber sie wären eben weniger produktiv.
Tomaten vom Balkon sind hübsch, gesund und lecker, aber sie werden mit viel geringerer Produktivität erzeugt als in arbeitsteiliger Herstellung. Hier lässt sich Verhalten schlecht prognostizieren. Sollte es tatsächlich soweit kommen, dass eine zu geringe Produktivität die allgemeine Versorgung gefährdete, müsste man über Anreize diskutieren, um diesen Mangel wieder auszugleichen.
Diese Frage hängt sehr stark mit ökologischen Aspekten zusammen. Aus ökologischen Gründen muss die Arbeitsteilung in vielen Bereichen sowieso zurückgenommen werden. Wir können es uns nicht länger erlauben, dass die Bestandteile des Autos oder der Joghurt erst dreimal um die Welt fliegen, bevor Konsumenten sie kaufen. Solcher Unsinn muss ohnehin aufhören. Das ist schon mehr eine ökologische Debatte, die hier zu führen ist.
André Gorz sprach von "Elitearbeitern", privilegierte Angestellte mit gut honoriertem Festvertrag, die sich mit ihrer höheren sozialen Stellung identifizieren. Die Mittelschicht hat womöglich kein Interesse daran, das Prekariat durch ein BGE zu emanzipieren und damit den eigenen sozialen Status zu gefährden.
Werner Rätz: Ich bin mir nicht sicher, ob die Statusdebatte eine große Rolle spielt. Bei einigen Leuten mag das der Fall sein. Bedeutsamer ist meiner Ansicht nach, dass sich Menschen an gewisse Abläufe gewöhnt haben und sie diese nicht mehr in Frage stellen wollen. Das habe ich in Gesprächen festgestellt, bei denen BGE-Skeptiker im Lauf der Jahre ihre Meinung doch verändert haben. Für sie war im Nachhinein entscheidend, dass sie sich das lange gar nicht vorstellen konnten.
Bei einem BGE müssten die Menschen ihre Arbeitskraft nicht mehr um jeden Preis verkaufen. Die allermeisten würden allerdings nicht dauerhaft von einem BGE von 1.000 Euro (bzw. inzwischen wohl etwas höher) leben wollen. Aber jede Person könnte zumindest für eine Übergangszeit davon existieren. Die Hälfte der Beschäftigten steht mindestens einmal im Leben vor der Frage, sich eine bestimmte Lohnarbeit nicht mehr antun zu wollen. Das BGE schafft ihnen die Möglichkeit "Nein, danke! Ich gehe jetzt!" zu sagen und sich nach einer besseren Tätigkeit umzuschauen.
Das stärkt die Verhandlungsmacht der Individuen gegenüber der Kapitalseite deutlich. Denkbar ist, dass Gewerkschaftsfunktionäre kein Interesse daran haben, die Verhandlungsmacht des einzelnen zu stärken, sondern die der Gewerkschaften. Da entsteht durchaus ein Konkurrenzdenken. Aber das muss nicht im Widerspruch stehen. Die Argumente der Unternehmer dagegen sind natürlich völlig einleuchtend: Sie haben kein Interesse daran, dass Beschäftigte die Wahl haben, ob sie ihre Arbeitskraft verkaufen müssen oder eben nicht.
Der Kapitalismus lebt zentral davon, dass ein Großteil der Bevölkerung seine Arbeitskraft verkaufen muss; diesen Zwang aufzuheben, kann nicht im Interesse der Kapitalbesitzer sein, das ist völlig klar.

keine Kompetenz für sozialpolitische Fragen auf EU-Ebene

Sie engagieren sich mit der Arbeitsgruppe "Genug für alle" bei Attac im Verbund europäischer Initiativen für ein BGE in der gesamten EU. Wie ist der Stand der Dinge?
Werner Rätz: Eine große Schwierigkeit besteht darin, dass es auf EU-Ebene keine Kompetenz für sozialpolitische Fragen gibt. Bei den letzten beiden Runden der EU-Erweiterung hat man das ursprüngliche Prinzip aufgegeben, sozialpolitische Regulierungen auf möglichst hohem Niveau für die gesamte EU durchzusetzen. Stattdessen bleiben unterschiedliche Regulierungen in den einzelnen Ländern bestehen.
So ist ein sozialpolitischer Wettlauf nach unten entstanden. Wenn in einem Land das Arbeitsrecht streng und die Steuern für Unternehmen hoch sind, in einem anderen EU-Land dagegen das diesbezügliche Recht locker und die entsprechenden Steuern gering, dabei aber die Kapitalseite frei entscheiden darf, wo sie Unternehmen ansiedelt, dann ist die Folge offenkundig: Die Unternehmer verlagern ihre Betriebe dorthin, wo sie für sich die günstigsten Bedingungen vorfinden.
Die anderen EU-Länder werden danach trachten, solche Verlagerungen zu verhindern und lockern ihre Regeln ebenfalls. Dieser Prozess ist innerhalb der EU seit mindestens 30 Jahren zu beobachten. Zugleich besteht keine Regulierungskompetenz auf EU-Ebene, um diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren.
Auch innerhalb der Nationalstaaten bestehen wirtschaftliche Gefälle zwischen einzelnen Regionen, das ist überhaupt nichts Ungewöhnliches. Eine nationale Politik ist allerdings bestrebt, solche Unterschiede zumindest teilweise auszugleichen; eine solche Struktur fehlt auf EU-Ebene. Deshalb lässt sich ein BGE EU-weit nicht so leicht einführen; man muss die entsprechenden Strukturen immer gleich mit erfinden und mit vorschlagen. Deshalb fordert die europäische Bürgerinitiative ausdrücklich im Plural bedingungslose Grundeinkommen, die auf den unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedsländern basieren. Von der EU-Kommission fordern wir, dass sie Vorschläge macht, wie solche BGE in den einzelnen Ländern gestaltet werden sollen.
Ein zweites Problem besteht darin, dass in der globalisierten Welt die Handelskompetenz bei der EU und nicht bei den Mitgliedsländern liegt. Die EU bestimmt also die Welthandelsbedingungen, aber die einzelnen Mitgliedsstaaten regulieren soziale Rechte und stehen in wirtschaftlicher Konkurrenz gegeneinander. Daraus entsteht ein Ungleichgewicht, das sich nur auf höherer Ebene ausgleichen ließe. Auf nationaler Ebene verlieren jene, die soziale Rechte einfordern, in diesem Wettbewerb um Industrie-Standorte immer. Das ist für viele Betroffene, die unter Sozialabbau leiden, nur schwer verständlich. Sie sehen nur, dass ihre konkrete Ausbeutung und ökonomische Überforderung, ihre schlechte soziale Situation vor Ort geschaffen werden und erleben die Brüsseler Institutionen als ziemlich weit weg.
Vor diesem Hintergrund fällt es uns immer noch schwer, Menschen von der europäischen Bürgerinitiative zu überzeugen. Bislang haben wir nur eine recht überschaubare Zahl von Unterschriften, sowohl EU-weit als auch in Deutschland, wo noch im Frühjahr eine Million Unterschriften für ein Corona bedingtes Kriseneinkommen gesammelt wurden. An dieser Zahl sind wir noch lange nicht dran, aber ich bin überzeugt, dass wir das noch bis im Dezember 2021 schaffen werden. Aber die Überzeugungsarbeit gestaltet sich schwieriger als ursprünglich gedacht.
Aber viele fordern dagegen, wieder mehr Kompetenz auf die Nationalstaaten zurück zu verlagern, nicht nur von politisch rechter Seite.
Werner Rätz: Die EU hat massiven Einfluss auf das Leben der Menschen vor Ort, verhandelt zugleich im globalen Rahmen über Handelsbeziehungen. Aber sie hat derzeit keine Kompetenz, hohe soziale Standards in den Nationalstaaten durchzusetzen, wobei ich der EU-Kommission nicht unterstellen möchte, dass sie das überhaupt beabsichtigt. Doch selbst, wo sie mittlere Standards nur halten will, gerät sie oft unter Druck. Um es an Konzernen wie Amazon zu verdeutlichen: Solche Unternehmen sind sogar innerhalb der EU in der Lage, Steuervermeidungspolitik zu betreiben und Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen.
Auf nationaler Ebene besteht keine Chance, das zu verhindern. Wenn die EU Amazon nicht zum Steuerzahlen zwingen kann, dann Slowenien erst recht nicht. Die sozialen Probleme werden von den Kritikern der EU durchaus richtig beschrieben, zumindest soweit sie aus der Linken kommen und kein rechter Nationalismus dahinter steckt. Aber die Lösung solch komplexer Probleme kann nur auf der Ebene liegen, wo sie entstehen, nämlich auf globaler Ebene, dort müssen Regulierungen vereinbart werden. Deshalb wäre es eine ganz, ganz dringende Aufgabe, den Kampf um soziale Rechte auf die EU-Ebene zu übertragen.

Bedingungsloses Grundeinkommen sichert Menschenrecht

Von rechter Seite bevorzugt man dagegen wohlstandschauvinistisch die Festung Europa, die AfD möchte ein BGE nur für Deutsche.
Werner Rätz: Wenn man das BGE nicht als reine armutspolitische Maßnahme versteht, sondern als Antwort auf eine menschenrechtspolitische Diskussion, dann hat das bestimmte Konsequenzen. Wir sagen nicht, dass Geldzahlungen ein Menschenrecht seien, aber ein anständiges Leben in materieller Sicherheit. Das BGE ist ein Mittel, dies im Kapitalismus zu gewährleisten. Als Menschenrecht muss ein solches Grundeinkommen also allen Menschen gewährt werden. Ein solches BGE ist mit Vorstellungen rechter Kreise und NationalistInnen nicht vereinbar.
Die AfD hat über ihren Vorschlag, ein BGE nur an Deutsche auszuzahlen, auf ihrem Parteitag nicht einmal abgestimmt, sie sind sich ja auch intern uneins. Sie können das, was sie eigentlich wollen, nämlich ein BGE nur an sogenannte Biodeutsche zu zahlen, juristisch gar nicht verfassungsgemäß formulieren. Bei Staatsbürgern hat schon ein Großteil Migrationshintergrund. Damit will ich mich nicht weiter befassen, das ist ein Schwachsinnsansatz mit rechtsideologischem Hintergrund.
Bei unserem Ansatz basiert das BGE auf den Menschenrechten und ist Teil eines globalen Prozesses, der zu einem gewissen Ausgleich der weltweiten ökonomischen Gegensätze führt, worüber wir schon am Beispiel Namibia gesprochen haben. Solange auf dem Planeten einerseits wohlhabende Regionen bestehen, andererseits Regionen, in denen man kaum überleben kann, wird ein BGE, das nur in reichen Ländern eingeführt wird, ein Problem darstellen, man muss von vornherein die Perspektive der armen Länder mit bedenken.
Ein BGE lässt sich nicht von heute auf morgen in einer Gesellschaft verwirklichen, die Einführung müsste sich als längerer Prozess gestalten. In einer sozial gespaltenen Welt muss man über Maßnahmen nachdenken, den Spalt zu beseitigen. Man könnte mit einem BGE für Kinder beginnen. Man könnte mit BGE-Leistungen beginnen, die nicht aus Geldzahlungen bestehen. Öffentlicher Nah- und Fernverkehr könnten beispielsweise steuerfinanziert sein, so dass sich niemand eine Fahrkarte kaufen muss, dann bräuchte der einzelne deutlich weniger Geld. Viele weitere staatliche Leistungen könnten steuerfinanziert werden, so dass der einzelne sie nicht mehr bezahlen müsste.
Öffentliche Mobilität würde die Gesamtkosten deutlich verringern, weil die vielen unsinnigen Ressourcen, die der Privatverkehr benötigt, eingespart würden. Auch eine öffentliche Energieversorgung wäre günstiger als eine private. Wegen einer solch gebührenfreien Nutzung öffentlicher Infrastruktur wäre noch kein Anreiz geschaffen, massenhaft nach Deutschland zu migrieren.
Wie ist die Reaktion auf Eure Initiative in den Massenmedien? Besteht ein journalistisches Interesse am Thema, das doch das Leben der BürgerInnen entscheidend verändern könnte?
Werner Rätz: Wenig. Ein paar Berichte gab es; ich habe einen Kommentar in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht; Ronald Blaschke publizierte einen Artikel im Neuen Deutschland und es gab weitere kleine Veröffentlichungen. Aber das ist nicht nur bei unserem Thema zu beobachten. Vor einigen Jahren war die europäische Bürgerinitiative gegen TTIP trotz des mangelnden Medienechos recht erfolgreich.
Die EU-Kommission tat damals so, als sei sie für diesen Bereich nicht zuständig, was definitiv die Unwahrheit ist. Die einzelnen Initiativen beschlossen damals, selbst eine Unterschriftenaktion zu organisieren und kamen allein in Deutschland schnell über eine Million. Auch da fehlte zu Beginn die Aufmerksamkeit. Zwar war TTIP mediales Thema, aber nicht die Initiative, die dagegen kämpfte. Erst ihr enormer Erfolg brachte sie in die Schlagzeilen.
Das könnte bei uns auch der Fall sein. Insgesamt wird über europäische Prozesse vergleichsweise wenig berichtet. In den großen deutschen Medien ist die Auslandsberichterstattung ohnehin dürftig. Die EU-Berichterstattung greift eher Skandalisierbares als schwierig darstellbare Themen auf, die den Alltag aller betreffen. Von Medien erfahren wir bislang keinerlei Unterstützung für unser Projekt, wir geben sie aber nicht auf und veröffentlichen regelmäßig Pressemitteilungen. Wir konzentrieren uns auf kleinere Medien, besonders im Online-Bereich. Wir haben erst damit begonnen, aber das ist die Öffentlichkeitsarbeit, die man machen muss.

Werner Rätz ist in Bonn im globalisierungskritischen Netzwerk Attac aktiv. Zuvor hatte er von der CDU bis zur LINKEN alle Parteien erfolglos ausprobiert. "Genutzt hat es nichts", sagt er. Der Politikwissenschaftler publiziert zu Themen wie Welthandelsbeziehungen, Lateinamerika, Europa und eben dem BGE, das im Folgenden das Gesprächsthema ist.


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