Behandlung je nach Gen
Kommt der Abschied von der Medizin "nach Waschzettel"?
Sie arbeiten in den Gerüsten des Humangenomprojekts und zimmern eifrig an den ersten wetterfesten Räumen: Allerorten verkünden Pharmakogenomiker in diesem Herbst den Aufbruch in die molekulargenetische Zukunft der Heilkunde. Wie wird sie aussehen? Ein Ausblick in ein nebliges Land.
Wir dürfen begrüßen: Eine neue medizinische Disziplin. Auf Kongressen und in medizinischen Zeitschriften platziert sich in diesem Herbst die Pharmakogenomik in der ersten Reihe. Sie ist kein neues Spezialgebiet, eher eine Grenzwissenschaft zwischen den Spezialisierungen. Ihr Ziel ist es, unsere genetischen Gerüste mit dem Alltag der Krankheitsbehandlung und der Krankheitsvorbeugung in Einklang zu bringen. Sie will klären, ob individuelle Gene individuelle Medikamente nötig machen, oder ob und wenn ja, wie die Zahl der Pillen, die ich brauche, mit meinem Erbgut zusammenhängt. Sie will Aussagen treffen darüber, wie anfällig ein bestimmtes Individuum für eine bestimmte Krankheit ist. Und sie möchte individuelle Empfehlungen zur Vorsorge aussprechen.
Kurz: Die Pharmakogenomik soll einlösen, was uns das Humangenomprojekt versprochen hat. Oder waren das damals eher voreilige journalistische Hyperboliker, wie der Krebsforscher und Nobelpreisträger Harold Varmus vermutet, der im hoch angesehenen New England Journal of Medicine die Laudatio zur Begrüßung der neuen Disziplin im medizinischen Mainstream hält? Wir wissen es besser und schweigen vornehm.
Tablette X oder lieber Dragee Y? Die Antwort könnte in den Genen liegen
Der erste große internationale Kongress, der ausschließlich der Pharmakogenomik gewidmet war, fand vor wenigen Wochen am Institut Pasteur in Paris statt. Es war ein stattliches zweitägiges Programm, das leicht auf drei Tage hätte verteilt werden können. Das Themenspektrum reichte von psychischen Erkrankungen über Herzinfarkte, Bluthochdruck und Vergiftungen bis zu Narkose und natürlich Krebsbehandlung. Der Gesamttenor bei den Referenten war vorsichtig optimistisch.
Gute Chancen auf einen raschen Einsatz in der Patientenbehandlung werden pharmakogenomischen Verfahren bei der medikamentösen Behandlung von psychischen und neurologischen Störungen eingeräumt. Viele Medikamente, die hier zum Einsatz kommen, haben starke Nebenwirkungen. Gerade in der Psychiatrie haben Ärzte zudem das Problem, dass es nicht immer sofort sichtbar ist, ob ein gewähltes Medikament auch wirklich wirkt.
Hier können Genanalysen im Vorfeld einer Behandlung helfen. Sie können Anhalt für die richtige Dosierung liefern und können auch bei der Auswahl des Medikaments behilflich sein. So setzt etwa die Psychiaterin Maria Arranz vom Institute of Psychiatry in London große Hoffnung auf die Analyse von Genen, die am Aufbau von Rezeptoren im Gehirn beteiligt sind. Erste Studien, die Arranz in Paris vorstellte, zeigen, dass sich mit solchen Gentests in mehr als 80 Prozent der Fälle vorhersagen lässt, ob zum Beispiel das als heikel geltende Psychopharmakon Clozapin bei einem Patienten anschlägt.
Interessant könnte auch der Einsatz von Gentests sein, um bei Gesunden abzuschätzen, wie groß das Risiko ist, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden. Die Untersuchung einzelner Gene hat sich dabei als wenig hilfreich erwiesen. Mit der Kombination mehrerer Merkmale, etwa auf einer Gentestkarte, ließe sich die Vorhersagekraft vielleicht erhöhen. Hier herrscht aber noch große Uneinigkeit unter den Wissenschaftlern. Francois Cambien vom gastgebenden Institut Pasteur ist sehr skeptisch: "Ich bin mir nicht sicher, ob solche Genanalysen in Zukunft überhaupt eine größere Bedeutung haben werden."
Enzyme füttern: Raucherentwöhnung ist auch eine Frage der Leber
Über eine spannende Anwendung berichtete die Genetikerin Rachel Tyndale von der Universität Toronto. Sie studiert Enzyme, die in der Leber Nikotin abbauen. Von diesen sogenannten Cytochromen gibt es eine ganze Reihe verschiedener "Modelle" aus unterschiedlichen "Modellreihen". Süchtige Raucher, die sehr viele Zigaretten täglich benötigen, haben häufig Cytochrome, die das Nikotin schneller abbauen als andere. Diese individuellen Unterschiede können die Forscher in Toronto mittels Gentests sichtbar machen.
Sollte sich der Test als zuverlässig genug herausstellen, dann könnten bei Menschen, die sich das Rauchen abgewöhnen wollen, in Zukunft vor dem Beginn einer Nikotinersatztherapie die Gene befragt werden. Auf diesem Weg kann dann die optimale Nikotindosierung in Pflastern, Kaugummis oder Tabletten ermittelt werden.
Erst Gentest, dann Pille? In fünf Jahren könnte es soweit sein
Wann haben wir also mit den ersten routinemäßigen Gentests in der Arztpraxis zu rechnen? Pharmakogenomiker schätzen, dass vor allem in den Bereichen Psychiatrie und Krebsbehandlung erste Tests in etwa 5 Jahren im klinischen Alltag eingesetzt werden. Risikoabschätzungen sind komplexer und es ist noch unklar, ob sie je größere Bedeutung erlangen werden.
Wer das Thema (auf Englisch) begleiten möchte, dem bietet das New England Journal of Medicine dazu jetzt eine gute Gelegenheit. Beginnend mit einer Einführung in das Thema in der letzten Ausgabe werden in den nächsten Monaten alle Ecken des pharmakogenomischen Raums ausgeleuchtet.
Bleibt noch die Frage zu klären, was eigentlich Genomik ist. Zyniker sagen, dass jeder, der jünger ist als vierzig Jahre, von "Genomik" spricht, während ältere Semester eher "Genetik" sagen. Etwas Wohlgesonnenere betonen den funktionellen Schwerpunkt der Genomik im Vergleich zur eher strukturell vorgehenden Genetik.