Bellingcat blamiert sich mit Fake-Leak über OPCW
Online-Magazin veröffentlicht Brief an Kritiker einer umstrittenen Syrien-Recherche der Organisation. Doch der hat das Schreiben nie erhalten
Seit Jahren tobt der Krieg gegen die Regierung von Baschar al-Assad nicht nur in Syrien. Seit anderthalb Jahren wird parallel ein stiller Krieg mit demselben Ziel geführt; mit unklaren Fronten, anonymen Akteuren und zunehmend schmutzigen Mitteln. Im Zentrum dieser Schlacht steht die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) mit Sitz im niederländischen Den Haag.
Seit sich die Trägerin des Friedensnobelpreises 2013 der Untersuchung eines mutmaßlichen Chemiewaffenangriffs im syrischen Douma (Duma) Anfang April 2018 angenommen hat, läuft durch die OPCW ein immer offensichtlicher Riss, der das internationale Kontrollregime für chemische Waffen zu gefährden droht.
Langjährige Mitarbeiter der OPCW vertreten vehement die These, zwei Berichte der Organisation zum Vorfall am 7. April 2018, bei dem Dutzende Zivilisten getötet wurden, seien derart manipuliert worden, dass sie die These eines Luftangriffs durch das Assad-Regime stützten und damit eine Rechtfertigung für völkerrechtlich fragwürdige Vergeltungsschläge (Gutachten des Bundestags: Luftangriffe in Syrien nicht vom Völkerrecht gedeckt) der USA, Frankreichs und Großbritanniens lieferten (Ex-OPCW-Inspekteur kritisiert Abschlussbericht über den Douma-Vorfall). Nun hat sich erneut die von Nato-Mitgliedsstaaten finanzierte Internetseite Bellingcat, die wiederholt auch mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel gearbeitet hat, in den Disput eingemischt – und offenbar schwer blamiert.
Bellingcat veröffentliche vor wenigen Tagen einen angeblich geleakten Brief des OPCW-Generaldirektors Fernando Arias an einen von zwei ehemaligen Chemiewaffen-Inspekteuren, die heftige Kritik an den Douma-Berichten geäußert hatten. In diesem Zusammenhang wurden seither zahlreiche Dokumente geleakt, die eine andere Sicht auf die Geschehnisse in Douma bieten, als sie die OPCW präsentiert. Der Auszug eines maschinellen Schreibens, das in fünf Absätzen einige Thesen der umstrittenen Douma-Berichte wiederholt, belege, "dass ein Chemiewaffenangriff stattgefunden hat" und "dass jede Vorstellung einer Vertuschung durch die OPCW falsch ist", während "die Organisation entsprechend ihrem Mandat gehandelt hat", so Bellingcat.
Das Problem ist nicht alleine, dass der geleakte Text eine solch weitreichende Interpretation gar nicht zulässt. Das Problem ist noch nicht einmal, dass Bellingcat in einem anonymen Text den bisher namentlich nicht bekannten Inspekteur mit vollem Namen nennt. Das eigentliche Problem ist, dass das angebliche Schreiben von Arias an den ehemaligen OPCW-Inspekteur nie abgeschickt wurde.
Traute OPCW-Chef Arias dem Bellingcat-Brief nicht?
Nach Angaben von Bellingcat wurde der Brief "im Juni 2019 von mehreren Mitgliedern der OPCW verfasst" und dann von Arias an den ehemaligen Inspekteur Brendan Whelan versandt. Doch wie das englischsprachige Online-Portal Grayzone zuerst berichtete, ist diese Behauptung falsch: Arias sandte im Juni 2019 zwar ein Schreiben an Whelan. Es ist aber nicht der Brief, den Bellingcat veröffentlichte. Dies konnte auch Telepolis über eigene Quellen bestätigen. Tatsächlich enthält Arias' Brief keinen einzigen Satz des Schreibens, das Bellingcat veröffentlichte.
Nachfragen von Telepolis, ob Bellingcat die Echtheit des Dokuments überprüft hat, ließ das Portal unbeantwortet, ebenso wie zuvor im Fall von Grayzone. Auch die Pressestelle der OPCW reagierte nicht auf ein entsprechendes Auskunftsgesuch von Telepolis.
Die Frage ist nun, was Bellingcat zu dem mutmaßlichen Leak bewegt hat. Der Umstand, dass OPCW-Generaldirektor Arias das von Bellingcat veröffentlichte Schreiben nicht abgeschickt hat, könnte darauf schließen lassen, dass er die inhaltlichen Aussagen nicht teilte.
Die Weitergabe des Entwurfs weist indes darauf hin, dass es OPCW-intern Kräfte gibt, die auf eine aggressive Verteidigung der Theorie eines Chemiewaffenangriffs setzen - und dafür Zweifler in zunehmender Härte angreifen. Mutmaßlich läuft eine entsprechende Kampagne auch ohne Wissen von Arias. Er hätte die Veröffentlichung des Fake-Leaks ja einfach verhindern können.
Dass Bellingcat Fake-News verbreitet, sei nicht untypisch, schrieb Aaron Maté von Grayzone: "Obwohl die Betreiber das Projekt als investigatives und quellenoffenes Medienportal darstellten, ist Bellingcat in Wirklichkeit eine von westlichen Regierungen unterstützte Organisation, die häufig sachlich fragwürdige Artikel über Nato-Gegner, darunter Russland und Syrien, veröffentlicht." Schließlich gehöre zu den Geldgebern von Bellingcat auch der National Endowment for Democracy, eine von Ronald Reagans CIA-Chef Bill Casey gegründete US-Organisation. Seine gesamte Finanzierung legt Bellingcat nicht offen.
Heftige Attacken auf WikiLeaks und Journalisten
Dies mag die Verve erklären, mit der Bellingcat-Vertreter nach Publikation des Fake-News-Textes umgehend Kritiker der OPCW-Berichte attackierten. Zunächst betraf das Whelan, dessen Namensnennung ihn unter Umständen in Gefahr bringt. Nicht ohne Grund hat die OPCW stets auf den Schutz ihrer Chemiewaffeninspekteure geachtet - und ihn selbst während interner Ermittlungen gegen ehemalige Mitarbeiter aufrechterhalten, denen die unautorisierte Veröffentlichung interner Unterlagen vorgeworfen wurde.
Nun machte Bellingcat – mutmaßlich mit Unterstützung von Kräften innerhalb der OPCW – also nicht nur den Namen von Whelan öffentlich, sondern griff auch Medien an, die über den organisationsinternen Streit berichtet hatten. Journalisten, die über die OPCW-Leaks geschrieben haben, seien entweder von ihren Quellen "ausgespielt" worden oder hätten sich, schlimmer noch, bewusst dafür entschieden, den angeblichen OPCW-Brief an Whelan zurückzuhalten, hieß es von dieser Seite.
"Dieser Brief zeigt, dass es einen klaren Versuch gab, die Wahrheit dessen, was am 7. April 2018 in Douma geschah, zu verschleiern. Die einzige Frage, die bleibt, ist, ob @wikileaks, @couragefound, @ClarkeMicah, @aaronjmate u.a. getäuscht wurden oder ob sie an der Verschleierung dieser Wahrheit beteiligt waren", twitterte Bellingcat mit Blick auf WikiLeaks und Journalisten, die sich kritisch mit der Syrien-Politik der OPCW auseinandergesetzt und über geleakte Untersuchungsergebnisse berichtet hatten, die keinen Eingang in die offiziellen Untersuchungen fanden. Offenbar, weil sie der These eines Luftangriffes der Assad-Armee mit Chlorgas auf Douma widersprachen.
Ein beachtliches Urteil, bedenkt man, dass der von Bellingcat veröffentliche Textauszug auf keines der zentralen Argumente der Kritiker der OPCW-Douma-Berichte eingeht. So hatten die beiden Inspekteure Ian Henderson und Brendan Whelan sowie weitere OPCW-Experten und Beobachter unter anderem beanstandet, dass:
- wichtige Studien über angebliche Gasbomben der syrischen Armee in den Endfassungen der OPCW-Berichte zensiert wurden;
- ein vor Ort aufgefundener Gasbehälter offenbar händisch platziert wurde;
- toxikologische Studien und Aussagen von Experten übergangen wurden, sofern sie der These eines Chlorgasangriffs widersprachen;
- die chemischen Analysen der Chlorgasrückstände nicht belastbar sind;
- das gesamte Team der Fact Finding Mission ausgetauscht und der Bericht von anderen Autoren verfasst wurde (Der OPCW-Abschlussbericht und der angebliche Giftgasangriff in Duma).
Der Vorstoß von Bellingcat – und OPCW-interner Kräfte – zeigt daher vor allem zwei Dinge: Die zunehmenden Versuche, die OPCW in laufenden Kriegen zu instrumentalisieren. Und die Unglaubwürdigkeit von Bellingcat als Rechercheportal. Daran wird auch das Schweigen der Verantwortlichen nichts ändern.