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Seite 3: Aus Meinung wird Kommerz

Auch die beschriebene Produktionsmethode ist kein Zufall. Und keine persönliche Marotte, die aus der psychologischen Zufälligkeit des Autors Balzac erklärbar wäre (subjektiv erklärbar ist hieran allenfalls, dass Balzacs Persönlichkeit diese Arbeitsbedingungen offensichtlich entgegenkamen).

Sondern es war ein Geschäftsmodell der Verleger: In den zwei Jahrzehnten nach Napoleons Sturz 1815 waren in Frankreich Hunderte von Zeitungen entstanden. Es war die Geburtsstunde der Massenpresse und überhaupt des modernen Verlagswesens. Erstmals wurden Verleger zu Großunternehmern.

"Ein neues Gewerbe war entstanden", erklärt der Erzähler im Film: "Aus der Meinungspresse wurde die Kommerzpresse. Die Zeitung wurde zum Geschäft."

Dieses Geschäftsmodell funktionierte allerdings nur dann, wenn man den Anzeigenkunden auch garantieren konnte, dass jede Zeitungsausgabe unabhängig von der Nachrichtenlage einen großen Absatz fand.

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Auch deswegen kreieren Medien ihren eigenen Nachrichten und ihre eigene Nachrichtenlage. Dies tun sie einerseits mit jener Methode, die Balzac in seinem Roman detailliert und voller Lust an der Bloßstellung beschreibt:

Die Presse, die ein Heiligtum hätte sein sollen, ist ein Mittel für die Parteien geworden, und aus einem Mittel ist sie Geschäft geworden; und wie alle Geschäftsunternehmungen ist sie ohne Treu und ohne Ehrlichkeit. Jede Zeitung ist, wie Blondet sagte, eine Bude, in der man dem Publikum Worte von der Farbe verkauft, die es haben will. Gäbe es eine Zeitung für Bucklige, dann würde sie morgens und abends die Schönheit, Güte und Notwendigkeit der Buckligen beweisen.

Honoré de Balzac, "Verlorene Illusionen"

Ideen wurden zur Ware

Alles was wahrscheinlich war, wurde zur Wahrheit erklärt. Um ein Ereignis zu schaffen, konnte eine Zeitung einfach irgendein Gerücht drucken. Wahr oder unwahr, solche Details interessierten niemanden. Die Journalisten wussten, dass Falschmeldungen und deren Leugnung zwei verschiedene Dinge waren. Die einzige Wahrheit, die zählte, waren Umsätze. Falschmeldungen waren frei im Umlauf und führten die Leser an der Nase herum.

Die Zeitung war von nun an ein Ladengeschäft, das der Öffentlichkeit verkaufte, was sie hören wollte. Es wurde nicht mehr informiert, sondern man war gefällig oder produzierte, "bildete" Meinungen. Nachrichten, Debatten oder Ideen wurden zur Ware, die man den Abonnenten unterjubelte. Die Journalisten wurden zu Verkäufern von Redewendungen, zu Schiebern von Wörtern, zu Maklern zwischen Künstlern und Öffentlichkeit.

Die Zeitung war, wie Balzac in seinem Roman schreibt: ein "Gedankenbordell". Der Journalist Blondet erklärt im Roman: "Am Vormittag vertrete ich die Meinungen meines Blattes; aber am Abend denke ich, was ich will: Bei Nacht sind alle Journalisten grau."

Die zweite Methode den ständigen Absatz der Zeitungsausgaben – nicht etwa nur täglich, sondern zwei bis dreimal täglich in unterschiedlichen Morgen-, Mittags- und Abendausgaben – zu garantieren, waren die Fortsetzungsromane, deren neue Folgen oft genug ebenfalls von der Mittags- zur Abendausgabe wechselten. Die Kunden waren damit gezwungen, die Tageszeitung zu kaufen, um nicht die tägliche Fortsetzung zu verpassen.

Die Kunst, auch das Kino, ist Teil der Unterhaltungsindustrie

Wir erleben das Verschmelzen von Reklame, Literatur, Unterhaltung und Politik. Was sagt die Diffusion von Literatur und Presse zur Unterhaltungsindustrie, wie sie Balzac beschreibt?

Sie sagt auch, dass die Literatur und die Kunst korrupt wird, und dass die Kunst, auch das Kino, Teil der Unterhaltungsindustrie sind. Heute sind Journalisten und Kritiker auch Künstler, wie Künstler und Filmemacher und Schriftsteller auch Lohnschreiber und Lohnfilmer sind.

Das erzählt uns auch etwas über heutige Filmregisseure. Denn was wird mit den Autoren und Filmemachern passieren, die heute ihre Seele an Netflix verkaufen, so wie Balzac seinerzeit an "La presse"? Sie werden in mancher Hinsicht zum Genie gezwungen durch den Druck, in mancher Hinsicht werden sie von ihm zerstört werden.

Wolfgang Pohrt, der das schönste und scharfsinnigste Balzac-Buch in deutscher Sprache geschrieben hat, vermeidet darin auch alles billige Journalisten-Bashing. Denn um Moralismus geht es ihm, wie Balzac, nie, sondern um einen kühlen Blick auf die Produktionsverhältnisse:

"Die moralische Haltung nämlich impliziert die Unterstellung, das Böse geschehe aus bösem Willen, und sie verkennt also die Macht der Pariser Verhältnisse, über die Balzac lakonisch schreibt."

Und weiter:

Denn wenn es auch stimmt, dass die Journalisten nach wie vor weder an der Maschine stehen noch in der Chefetage sitzen: In ihre Betrachtungen versunken oder vergrübelt sind sie deshalb nicht. Obwohl oder gerade weil ihre Tätigkeit keine fabrikmäßig betriebene Lohnarbeit ist, sind sie auf schwer definierbare Weise pausenlos auf Trab, denn längst ist die Kunst, einen Artikel zu schreiben, ein Kinderspiel geworden im Vergleich zur Kunst, diesen Artikel zu verkaufen. Um ins Geschäft zu kommen oder um im Geschäft zu bleiben, sind sie dauernd unterwegs...

Wolfgang Pohrt

Eine wunderbare freie und diverse Welt der Intrigen und der Macht

Es ist ausgezeichnet, wie Balzac Gesellschaft beschreibt, wie präzise er deren Mechanismen offenlegt. Er zeigt wie die Pariser Gesellschaft spottet über den neuen jungen Mann, darüber dass er zu viele Gesten macht, sich schlecht benimmt... Schon früh wird ein Opernbesuch ein Desaster. Lucien ist seiner älteren Geliebten, der verheirateten Louise nicht nur peinlich; er ist eine Gefahr für ihre gesellschaftliche Reputation.

Wir sehen eine Welt, in der Geschlechterunterschiede durch Klassenbewusstsein in den Schatten gestellt werden: Mehr als einmal nehmen sich hier die älteren Frauen die jungen Männer als Liebhaber - und besser sie sagen "ja", sonst wird ihre Karriere von diesen Gräfinnen und Fabrikantengattinnen zerstört.

Eine wunderbare freie und diverse Welt und eine schreckliche Welt der Intrigen und der Macht.

Nochmal Benn:

Sätze außerordentlicher Erfahrung, und hinter dem Ganzen Folgerungen, die weit gehen, nämlich: Kunst ist inhaltsreicher als das Leben und hat überraschendere Methoden als die Natur. Kein menschliches Leben zeigt so viel Wendungen, entwickelt so viel Beziehungen wie 400 Seiten dieses unerschöpflichen Werks!

Gottfried Benn