Bereichert Euch, digitalisiert Euch!

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Journalisten sind käuflich: Balzacs hochaktuelle Abrechnung mit den Medien zeigt deren "Verlorene Illusionen".
Wir alle wissen, dass die Zeitungen in der Undankbarkeit weiter gehen werden als die Könige, dass sie in Spekulationen und Berechnungen weiter gehen als der schmutzigste Kaufmann, dass sie unsere Intelligenzen zugrunde richten werden, indem sie jeden Morgen ihren Hirnfusel verkaufen; aber wir schreiben alle für sie, wie die Leute, die eine Quecksilbermine ausbeuten, obwohl sie wissen, dass sie daran sterben...
Honoré de Balzac, "Verlorene Illusionen"
Journalisten sind käuflich. Ein französischer Film blickt jetzt unter der Maske der Verfilmung eines 180 Jahre alten Romans von Honoré de Balzac in den Abgrund unserer Mediengegenwart: "Verlorene Illusionen" ist Medienkritik in Romanform und schildert den "Teufelspakt" zwischen Medien und Gesellschaft.
Mit lustvoller Gehässigkeit schildern Roman wie Film, wie die Zeitung ("Das Handwerk des Teufels") zur Waffe einer gnadenlosen Gesellschaft in der Welt des Hochkapitalismus wird.
Balzacs Werk ist künstlerischer Ausdruck des kapitalistischen Prozesses. Er begriff, was erst wieder Georg Simmel ähnlich empirisch feststellend 80 Jahre später auf den Punkt brachte: Dass das Geld das große Triebrad des Lebens ist.
Die Zeit des "Bereichert Euch!", der Herrschaft des spießbürgerlichen Juste-Milieu
Ein junger Mann. Er ist außergewöhnlich schön. Seine Koteletten reichen fast bis zum Kinn, so wie es der Mode der Zeit des frühen 19. Jahrhunderts entsprach. Sehr oft steht sein Mund leicht offen, scheint zugleich Erwartung und Staunen auszudrücken, wie seine Unschuld, seine Naivität – und seine Dummheit.
Er heißt Lucien Chardon, nennt sich gern nach seiner Mutter "de Rubempré", und bis zum Ende des Romans kann man nicht ganz sicher sein, ob er tatsächlich glaubt, dass ihm dieser Landadelstitel und das Wappen – "Silber auf Grün" – eigentlich zustünde, oder ob er einfach nur prätentiös ist. Egal – es ist die Zeit der Hochstapler und nicht nur deshalb unserer Epoche sehr verwandt.

Es ist die Zeit des "enrichissez vous!", des "Bereichert Euch!", der Herrschaft des spießbürgerlichen Juste-Milieu, die postnapoleonische, postheroische Epoche, die bei uns Biedermeier heißt und außer schönen Möbeln und der Einführung einer rigiden Zensur in ganz Europa vor allem die Erwartung der Revolution und die großartigsten Romane der Literaturgeschichte zu bieten hatte – außerhalb Deutschlands jedenfalls, das schon damals in den interessanten Dingen rückständig wurde.
Jenseits des Sentimentalen
Honoré de Balzac – für die Jüngeren: kein Coffee-Shop, sondern ein Schriftsteller, und einer, der sich wie sein Held das adelige "de" einfach mal nach der Bürgerrevolution von 1830 zum Namen seines Vaters hinzugefügt hatte – dieser Balzac, der im Wechsel zwischen Kaffee – angeblich um die 60 Tassen am Tag – und Rotwein – zwei Flaschen – seine Romane herunterschrieb.
Getrieben von den Verlegern, die diese als Fortsetzungsstücke in ihren Zeitungen druckten und denen er die jeweils neuen Folgen gelegentlich noch tintenfeucht und jedenfalls unkorrigiert in die Hand drückte, wie es sein Kollege Gottfried Benn hundert Jahre später beschreibt, jenseits der Sentimentalisierungen eines Hofmannsthal oder Zweig, beide Autoren berühmter Balzac-Portraits:
Balzac, der trug kein Amulett und sehnte sich nicht nach Abrahams Schoß, trank dafür fünfzig Tassen Kaffee an seinem Arbeitstag, denn er mußte liefern, Vorschuß abdecken, drei Romane im Jahr waren das Mittel, der Redaktionsbote stand neben ihm am Schreibtisch wegen der Fortsetzung für das Abendblatt. Von da auf jeder Seite das fast planmäßige Gemisch von Kolportage und Genie, von geradezu systematisch vorgebrachtem Feuilletonismus und hinreißender Caprice. Gleicherweise Zeilenschinderei wie sprachlich wachsende Visionen, Geschwätz und Unwiderstehlichkeit, Kino und Erkenntnis.
Gottfried Benn
Gesellschaft im Aufbruch
Balzac sah sich weniger als Romanautor und mehr als Historiker seiner Gegenwart, als Chronist, der die Wahrheit in fiktionaler Form formuliert für die zukünftigen Geschichtsschreiber festhielt.
Noch mehr als die anderen beiden der "großen Drei", als der Bonapartist Stendhal und der Psychologe Flaubert (Hugo, Zola und all die anderen sind in dieser Perspektive allemal Epigonen), war Balzac ein Materialist, der sich seitenlang über das Handwerk der Drucker und die Gepflogenheiten des Zeitungswesens ausließ.

Auch darum ist der Zeitgenosse von Marx der bei Kommunisten und Linken aller Flügel bis heute beliebteste Schriftsteller aus "der Epoche des bürgerlichen Romans".
Ein Serienuniversum
Der Film hält sich mit Kleinigkeiten und Details dieser Art nicht auf, das kann er nicht, nicht in nur zweieinhalb Stunden. Dafür ist er aber sehr genau. Balzac gilt rückblickend als der Erfinder der Serie und wenige Romanzyklen wäre besser geeignet für ein ganzes Streaminguniversum: "The Crown" ist nichts gegen die "Comedie Humaine"!
Diese "Menschliche Komödie" ist ein monumentaler Romanzyklus, der über 100 Texte umfasste, in denen bestimmte Figuren immer wieder auftauchten, Nebencharaktere zu Hauptfiguren wurden, und die insgesamt das chronologische Erzählen und die Heldenreisen negierten, dafür ein enzyklopädisch verzweigtes, detailliertes und aufgefächertes Bild des ganzen Zeitalters entwarfen. "Verlorene Illusionen" ist darunter nur ein einziger, wenn auch sehr großer, prominenter und berühmter Teil.
Dieser Romanzyklus, der von einer Gesellschaft im Aufbruch, die von der Börse, dem Geld und den beides umgebenden, sie feiernden Medien handelt, ist aktueller, als es bei einem 180 Jahre alten Stoff auf den ersten Blick scheinen könnte.
Das beweist nun der französische Regisseur Xavier Giannoli, der den Roman jetzt verfilmt hat. Gleich sieben Cesars, das französische Äquivalent zum Oscar, gab es für den Film, unter anderem für den "Besten Film".
Die Verwandtschaft zum jetzt so modischen Kosmos Hunderter von Streaming-Serien hat bereits lange zuvor, auch noch ein Jahrzehnt von David Lynchs bahnbrechendem "Twin Peaks" mit dem die moderne TV-Serie überhaupt begann, Wolfgang Pohrt vorgeahnt:
Schriftstellernder Egoismus im 19 Jahrhundert heißt: die Tageszeitung mit Feuilletonromanen zu beliefern und sich in Paris gegen die Konkurrenz Tausender anderer Schriftsteller zu behaupten. Also steht Balzac einschließlich seiner Affären und seiner Schulden dem Drehbuchautor näher, der für "Dallas" oder "Denver" schreibt, als irgendeinem alten, großen, langweiligen Meister.
Wolfgang Pohrt
Ein Provinzler; ein neuer junger Mann, kommt hier nach Paris, voller Ideale, die er sehr bald verliert, und wirft sich dann dort selbst der Pariser Gesellschaft zum Fraß vor.
In diesem Moment, wenn der Film von Giannoli nach gut 15 Minuten in Paris ankommt, findet er seine Sprache.
Live-Schaltung in den Kulturzirkus der Gegenwart
Der Film ist schwelgerisch, leidenschaftlich und dabei immer mehr als beflissenes Bebilderungskino. Immer wieder zeigt Giannolis Film Tempo und Ruhe im Wechsel. In einer Szene da verweilt man ein bisschen, dann zack zack geht es zum nächsten Punkt.
Und es stellt sich heraus, dass diese 180 Jahre alte Geschichte eine ganz moderne ist. Und wie! Nichts von dem, was Balzac beschreibt, hat sich geändert. Der Roman ist wie eine Live-Schaltung in den Kulturzirkus der Gegenwart.
Geschildert wird darin, wie Lucien die gesellschaftliche Leiter hinaufstolpert, ohne zu wissen, wie ihm geschieht. Das schildert Balzac und dieser Film schildert es mit einem Erzähler, dessen leicht ironischer Ton uns die Haltung vermittelt, mit der man dies nur ansehen kann: "Guter oder schlechter Geschmack, also die Eleganz hängt von unzähligen Details ab, die manche Frauen sofort verstehen andere hingegen nie."

"Die Konkurrenz war hart, die Methoden skrupellos, Erpressung war geläufig"
Oder bei der Schilderung des sogenannte "Boulevard des Crimes", dem "Boulevard der Verbrechen", der Rue du Temples, die aus drittklassigen Theaterhäusern bestand:
Die Verbrechen fanden auf der Bühne statt, in Dutzenden Theatern, die sich aneinander reihten. Das Theater war unglaublich beliebt und profitabel geworden. Die Konkurrenz unter dem Theaterdirektoren war hart, die Methoden skrupellos. Für ein neues Stück brauchte man Kritiker, um sich zu schützen. Das machte alles so. Eine Frage des Überlebens. Erpressung war geläufig. Der Boulevard war ihr Pflaster, ihr Jagdrevier und sie scheffelten Geld.
Wolfgang Pohrt
Verisse kosteten bis zu 150 Francs, Lobeshymnen gar 200 pro Artikel.
Und es gab noch andere Methoden:
Die Claqueure, die von Profis verkauft wurden. Der berühmteste von allen war Singali. Er ruinierte Stücke, demütigte Schauspielerinnen und Autoren. Er wurde von allen gefürchtet, und das zu Recht.
Zum Ausschalten eines Konkurrenten bezahlte man Singali. Für einen Triumph bezahlte man Singali. Er bildete seine Leute vor der Vorstellung aus, sie mischten sich unter das Publikum, wo sie nicht auffielen, bevor die Katastrophe geschah. Man konnte alles kaufen: Applaus, leichten Applaus, stehenden Beifall oder Pfeifen und Buhrufe, selbst faulige Tomaten und Gemüse. Man musste nur zahlen.
Geld war der neue Adel. Und den wollte niemand köpfen.
Wolfgang Pohrt
Diese Presse ist wert, dass sie zugrunde geht
"Ich brauche Arbeit, Monsieur. Ich habe enormen Respekt vor der Arbeit eines Journalisten."
Dialogausschnitt
"Und was genau für eine Art Metier ist das?"
"Sie klären Leute auf. Über die Kunst. Über die Welt."
Lachen, und dann: "Unser Metier ist es, die Geldgeber reich zu machen."
"Wir sind keine Aufklärer – unser Metier ist es, unsere Geldgeber zu bereichern." – Balzac machte sich keine Illusionen über den Journalismus und die Medien. Sein Buch und dessen Verfilmung sind brennend aktuell, in Zeiten von Fake News, in Zeiten der berechtigten wie unberechtigten Kritik an Medien und ihrer Moral, in Zeiten in denen auch die Öffentlichkeit sehr bereit ist, der Ansicht zuzustimmen, dass Medien nicht dazu da sind, der Demokratie und Erziehung der Menschen zum Besseren zu dienen, sondern nur noch dazu, auf möglichst billige und einfache Art zu unterhalten.
Balzac kritisiert genau diese Vorstellungen, nennt süffisant die skrupellosen Mechanismen des Zeitungswesens beim Namen. Seine Geschichte des Scheiterns aller Träume und Ambitionen macht diese aber nicht für das Scheitern verantwortlich. Er trauert über die allumfassende Desillusionierung, die er selbst erlebt hat.
Er klagt Dekadenz und Verlogenheit an, aber ihn interessieren die Tiefenstrukturen, sein Blick ist politisch, nicht moralisch. Und voller durchaus menschlicher Anteilnahme an denen, die das Falsche tun. Aber er redet nicht herum, er färbt Dekadenz und Verlogenheit nicht ein in die wohlfeilen Floskeln des "gesunden Menschenverstands" und der Moral, in die Sonntagsreden, die von der Bedeutung der freien Presse schwafeln, "gerade heute". Nein – diese Presse ist wert, dass sie zugrunde geht.
Balzac blickt ungerührt in seine Welt, und sein Blick zeigt uns Zeitungen, die im Verein mit Markt und Kapital, mal behindert, mal gefördert von der Politik, im Leser die Gewissheit erzeugen wollen, eine Zeitenwende, einen Epochenbruch zu erleben – so wie in unserer Gegenwart die Digitaltechnik die Öffentlichkeit durchdringt, Zeitungen durch "Neue Medien" und "Soziale Netzwerke" ersetzt und mit dem Teufelspakt aus Modernismuseuphorie und ökologischem Moralismus die Bindung des Publikums an Druck und Papier und sogar an das Geld selbst verabschiedet – digitalisiert Euch!
Aus Meinung wird Kommerz
Auch die beschriebene Produktionsmethode ist kein Zufall. Und keine persönliche Marotte, die aus der psychologischen Zufälligkeit des Autors Balzac erklärbar wäre (subjektiv erklärbar ist hieran allenfalls, dass Balzacs Persönlichkeit diese Arbeitsbedingungen offensichtlich entgegenkamen).
Sondern es war ein Geschäftsmodell der Verleger: In den zwei Jahrzehnten nach Napoleons Sturz 1815 waren in Frankreich Hunderte von Zeitungen entstanden. Es war die Geburtsstunde der Massenpresse und überhaupt des modernen Verlagswesens. Erstmals wurden Verleger zu Großunternehmern.
"Ein neues Gewerbe war entstanden", erklärt der Erzähler im Film: "Aus der Meinungspresse wurde die Kommerzpresse. Die Zeitung wurde zum Geschäft."
Dieses Geschäftsmodell funktionierte allerdings nur dann, wenn man den Anzeigenkunden auch garantieren konnte, dass jede Zeitungsausgabe unabhängig von der Nachrichtenlage einen großen Absatz fand.

Auch deswegen kreieren Medien ihren eigenen Nachrichten und ihre eigene Nachrichtenlage. Dies tun sie einerseits mit jener Methode, die Balzac in seinem Roman detailliert und voller Lust an der Bloßstellung beschreibt:
Die Presse, die ein Heiligtum hätte sein sollen, ist ein Mittel für die Parteien geworden, und aus einem Mittel ist sie Geschäft geworden; und wie alle Geschäftsunternehmungen ist sie ohne Treu und ohne Ehrlichkeit. Jede Zeitung ist, wie Blondet sagte, eine Bude, in der man dem Publikum Worte von der Farbe verkauft, die es haben will. Gäbe es eine Zeitung für Bucklige, dann würde sie morgens und abends die Schönheit, Güte und Notwendigkeit der Buckligen beweisen.
Honoré de Balzac, "Verlorene Illusionen"
Ideen wurden zur Ware
Alles was wahrscheinlich war, wurde zur Wahrheit erklärt. Um ein Ereignis zu schaffen, konnte eine Zeitung einfach irgendein Gerücht drucken. Wahr oder unwahr, solche Details interessierten niemanden. Die Journalisten wussten, dass Falschmeldungen und deren Leugnung zwei verschiedene Dinge waren. Die einzige Wahrheit, die zählte, waren Umsätze. Falschmeldungen waren frei im Umlauf und führten die Leser an der Nase herum.
Die Zeitung war von nun an ein Ladengeschäft, das der Öffentlichkeit verkaufte, was sie hören wollte. Es wurde nicht mehr informiert, sondern man war gefällig oder produzierte, "bildete" Meinungen. Nachrichten, Debatten oder Ideen wurden zur Ware, die man den Abonnenten unterjubelte. Die Journalisten wurden zu Verkäufern von Redewendungen, zu Schiebern von Wörtern, zu Maklern zwischen Künstlern und Öffentlichkeit.
Die Zeitung war, wie Balzac in seinem Roman schreibt: ein "Gedankenbordell". Der Journalist Blondet erklärt im Roman: "Am Vormittag vertrete ich die Meinungen meines Blattes; aber am Abend denke ich, was ich will: Bei Nacht sind alle Journalisten grau."
Die zweite Methode den ständigen Absatz der Zeitungsausgaben – nicht etwa nur täglich, sondern zwei bis dreimal täglich in unterschiedlichen Morgen-, Mittags- und Abendausgaben – zu garantieren, waren die Fortsetzungsromane, deren neue Folgen oft genug ebenfalls von der Mittags- zur Abendausgabe wechselten. Die Kunden waren damit gezwungen, die Tageszeitung zu kaufen, um nicht die tägliche Fortsetzung zu verpassen.
Die Kunst, auch das Kino, ist Teil der Unterhaltungsindustrie
Wir erleben das Verschmelzen von Reklame, Literatur, Unterhaltung und Politik. Was sagt die Diffusion von Literatur und Presse zur Unterhaltungsindustrie, wie sie Balzac beschreibt?
Sie sagt auch, dass die Literatur und die Kunst korrupt wird, und dass die Kunst, auch das Kino, Teil der Unterhaltungsindustrie sind. Heute sind Journalisten und Kritiker auch Künstler, wie Künstler und Filmemacher und Schriftsteller auch Lohnschreiber und Lohnfilmer sind.
Das erzählt uns auch etwas über heutige Filmregisseure. Denn was wird mit den Autoren und Filmemachern passieren, die heute ihre Seele an Netflix verkaufen, so wie Balzac seinerzeit an "La presse"? Sie werden in mancher Hinsicht zum Genie gezwungen durch den Druck, in mancher Hinsicht werden sie von ihm zerstört werden.
Wolfgang Pohrt, der das schönste und scharfsinnigste Balzac-Buch in deutscher Sprache geschrieben hat, vermeidet darin auch alles billige Journalisten-Bashing. Denn um Moralismus geht es ihm, wie Balzac, nie, sondern um einen kühlen Blick auf die Produktionsverhältnisse:
"Die moralische Haltung nämlich impliziert die Unterstellung, das Böse geschehe aus bösem Willen, und sie verkennt also die Macht der Pariser Verhältnisse, über die Balzac lakonisch schreibt."
Und weiter:
Denn wenn es auch stimmt, dass die Journalisten nach wie vor weder an der Maschine stehen noch in der Chefetage sitzen: In ihre Betrachtungen versunken oder vergrübelt sind sie deshalb nicht. Obwohl oder gerade weil ihre Tätigkeit keine fabrikmäßig betriebene Lohnarbeit ist, sind sie auf schwer definierbare Weise pausenlos auf Trab, denn längst ist die Kunst, einen Artikel zu schreiben, ein Kinderspiel geworden im Vergleich zur Kunst, diesen Artikel zu verkaufen. Um ins Geschäft zu kommen oder um im Geschäft zu bleiben, sind sie dauernd unterwegs...
Wolfgang Pohrt
Eine wunderbare freie und diverse Welt der Intrigen und der Macht
Es ist ausgezeichnet, wie Balzac Gesellschaft beschreibt, wie präzise er deren Mechanismen offenlegt. Er zeigt wie die Pariser Gesellschaft spottet über den neuen jungen Mann, darüber dass er zu viele Gesten macht, sich schlecht benimmt... Schon früh wird ein Opernbesuch ein Desaster. Lucien ist seiner älteren Geliebten, der verheirateten Louise nicht nur peinlich; er ist eine Gefahr für ihre gesellschaftliche Reputation.
Wir sehen eine Welt, in der Geschlechterunterschiede durch Klassenbewusstsein in den Schatten gestellt werden: Mehr als einmal nehmen sich hier die älteren Frauen die jungen Männer als Liebhaber - und besser sie sagen "ja", sonst wird ihre Karriere von diesen Gräfinnen und Fabrikantengattinnen zerstört.
Eine wunderbare freie und diverse Welt und eine schreckliche Welt der Intrigen und der Macht.
Nochmal Benn:
Sätze außerordentlicher Erfahrung, und hinter dem Ganzen Folgerungen, die weit gehen, nämlich: Kunst ist inhaltsreicher als das Leben und hat überraschendere Methoden als die Natur. Kein menschliches Leben zeigt so viel Wendungen, entwickelt so viel Beziehungen wie 400 Seiten dieses unerschöpflichen Werks!
Gottfried Benn
Eine Menschenmühle
Lucien hat großen Erfolg. Er wird zum gefragtesten Autoren der Saison. Er merkt nicht, wie die Gesellschaft die er nach wie vor naiv bewundert, ihn heimlich verachtet. Wie sie ihn benutzt.
Er versteht nicht, dass die, von denen er glaubt, sie liebten ihn, sich über ihn lustig machen. Und die, die in wirklich liebt, deren Liebe erkennt er erst spät. Eine Tragödie. Eine Komödie. Eine universale, zeitlose Geschichte. Die doch zugleich auch viel erzählt aus der Zeit, als Paris die Hauptstadt des 19 Jahrhunderts war.

Dieser Film erzählt davon, wie ein Landei zum Zyniker wird. Wie ein junger Mann erwachsen wird, und alle seine Illusionen verliert. Und nicht nur das. Lucien verliert auch seine Moral. Und am Ende verliert er seine Liebe und sein Geld.
Was überlebt, das sind die Gesellschaft und ihre Gesetze. Das ist die Metropole Paris und ihre Medien, die beide auch eine Menschenmühle sind, und die immer wieder neues Frischfleisch brauchen, Menschen wie Lucien.
Viel wichtiger als die Bebilderung, wie sie hier mit einigem Aufwand im Kostümdepartment und viel Dreck auf den Straßen die Welt von vorvorgestern darstellt, sind daher die Kamerabewegungen und der Blick der Kamera.
Wichtiger als dass auf Kulissen geschaut wird, ist der Blick, mit dem auf diese Kulissen geschaut wird. Dieser Blick ist ständig in Bewegung. Er ist dynamisch, wachsam, er ist nicht allein an Beobachtung interessiert, sondern auch daran, Beziehungen herzustellen, oder Beziehungen zu durchtrennen. Es ist der Blick einer Gesellschaft, es ist ein Anteilhaben an ihrem Blick.
Dieser Film ist tatsächlich eine solche menschliche Komödie. Zum Lachen und zum Weinen.
Literatur:
Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen. Roman" (neu übersetzt von Melanie Walz); Hanser, München 2018.
Theodor W. Adorno: "Noten zur Literatur" I. und III. diverse Ausgaben, Suhrkamp Frankfurt 1965 ff.
Wolfgang Pohrt: "Honoré de Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit" (Einzelband zuletzt 2012, vergriffen); zur Zeit in: Wolfgang Pohrt "Gesamtausgabe Bd. III"; edition Tiamat, Berlin 2018, 144 Seiten.
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