Berlinale: Antisemitismus-Skandal – Goldener Bär mit Palästinensertuch

Der Berlinale-Bär entrückt. Foto: IgorCalzone1 / CC0 1.0 Deed

Gaza-Kitsch und unfähiger Kunstbetrieb: Die politischen Exzesse der Preisverleihung. Wie sie zu einem peinlichen Armutszeugnis sondergleichen geriet. Kommentar.

Wieder gewinnt ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären bei der Berlinale: "Dahomey" von Mati Diop, einer Französin mit senegalesischen Wurzeln, ist ein so verdienter, wie vorhersehbarer Sieger.

Verdient, weil dieser Filmessay, der auch fiktionale und magische Elemente hat, damit die vielen Mittel des Kinos einmal wirklich ausreizt. Weil er politisch bemerkenswert und intelligent ist, und zudem eine uneindeutige, komplexe Meditation über das Verhältnis zwischen Afrika und Europa darstellt, die beide Seiten infrage stellt und damit vor allem unsere einfachen Gewissheiten über "den Kolonialismus" zurückweist.

Geschickter Schachzug und Armutszeugnis

Vorhersehbar, denn zwar ist dieser Film keine Verlegenheitslösung. Aber wie sollte sich die Jury auch anders elegant aus der Affäre ziehen, bei einem zwar nicht richtig schwachen, aber banalen und absolut nicht filmisch aussagekräftigen Wettbewerb, in dem eigentlich keiner der Spielfilme einen Goldenen Bären verdient hatte?

Statt das geringste Übel auszuzeichnen, wählte die mehrheitlich aus klugen Leuten bestehende Jury die geschicktere Ausflucht aus dem Dilemma und bestritt zugleich den Weg, den bereits die Bekanntgabe des Wettbewerbsprogramms vor fünf Wochen nahegelegt hatte.

Bei immerhin drei afrikanischen Filmen und nicht weniger als acht frankophonen Werken im Wettbewerb war gesetzt, dass idealerweise eine nichtweiße französische Frau gewinnen müsste, und französische Filme auch sonst mehrere Preise – tatsächlich ist auch der Film des Koreaners Hong Sang soo, der in Frankreich finanziert wurde und bei dem Isabelle Huppert die Hauptrolle spielt, in diesem Sinn ein Franzose.

Für die Berlinale ist dieser Befund allerdings ein Armutszeugnis, das endgültig deutlich macht, was längst alle Festivalspatzen von den Dächern pfeifen: Der Goldene Bär ist immer weniger wert; und die Berlinale spielt längst nicht mehr in einer Liga mit den beiden wirklich erstklassigen Festivals von Cannes und Venedig.

Eigentlich würde man jetzt gerne nur über diese Preise und über den nötigen Neustart der Berlinale, ihre Standortprobleme, finanziellen Sorgen und über die Neustrukturierung des Programms sprechen.

Eklige Show aus Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit

Aber das geht nicht, denn die Berlinale-Preisverleihung am Samstag wurde von einigen Preisträgern und Juroren missbraucht für eine eklige Show aus Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit.

Damit hatte die Berlinale ihren neuesten Skandal: Preisträger formulierten auf der Bühne antiisraelische und antisemitische Parolen und trugen das umstrittene Palästinensertuch, das Publikum schwieg dazu oder applaudierte gar.

Am Sonntag setzten Postings aus den digitalen Kanälen der Berlinale mit strafbewehrten Inhalten noch einen drauf. Aber der Reihe nach.

Zitieren wir dazu erstmal ganz nüchtern den Bericht von Susan Vahabzadeh, Filmkritikerin der Süddeutschen Zeitung. Dort beschreibt sie:

(…) das wirklich erschreckend undifferenzierte Israel-Bashing, das sich durch die Abschlussveranstaltung zog. Nur die Berlinale-Leiterin Mariette Rissenbeek hat am Anfang Empathie ausgedrückt mit den Menschen in Israel. Von da an gab es in den Reden nur noch das Leid in Gaza und Kritik an Israel, als habe es einen 7. Oktober nie gegeben. (...)

Ein Dialog war nicht gefragt. Am deutlichsten zu erkennen war das, als ganz am Anfang der Dokumentarfilm 'No Other Land' über die Zerstörung eines Dorfs im Westjordanland, der in der Reihe Panorama Dokumente gezeigt worden war, den vom RBB gestifteten Dokumentarfilmpreis erhielt. Da wurden Begriffe wie "Apartheid" und 'Terror' und 'Genozid' von der Bühne gen Israel geschleudert, und eine Jurorin verkündete, dieser Film 'transzendiert jede Kritik'. Darf man nicht mal diskutieren.

Das ist kein Dialog, das ist Rechthaberei und die Absage an jede Debatte. Sollte es dazu irgendeinen Dissens im Saal gegeben haben: In der Übertragung jedenfalls war nur Applaus zu hören. Was einiges aussagt über den im Berlinale-Palast versammelten deutschen Filmbetrieb." Fazit: "Die Preisverleihung der Berlinale wird für ein bizarres Israel-Bashing zweckentfremdet".

Susan Vahabzadeh, SZ

Peinlich, beschämend, verstörend und propagandistisch

Noch deutlicher wird der Kommentar des Berliner Tagesspiegel:

Die Abschluss-Gala hat einmal mehr verdeutlicht, dass der Kulturbetrieb nicht in der Lage ist, auch die Sichtweise Israels einzunehmen und vielleicht sogar etwas Empathie für das Leid der Israelis aufzubringen.

Im Gegenteil, nach der völlig vermurksten Documenta und der ausgebliebenen Solidarität mit Israel aus dem Kulturbetrieb kurz nach dem brutalen Überfall der Hamas zeigt nun auch die einseitige Berlinale, dass die Kultur ein massives Israel-Problem hat. Sie ist unfähig, zu differenzieren. (...)

Wo waren die Kippa-Träger auf der Bühne? Wo war die deutliche Kritik an der Terrororganisation Hamas, die Israel am 7. Oktober 2023 brutal überfiel? Wo war die klare Aufforderung, die noch immer festgehaltenen Geiseln freizulassen? Wo ist die Auseinandersetzung damit, dass die Hamas ihr eigenes palästinensisches Volk in Unterdrückung hält – ohne Wahlen, ohne Justiz? Wo ist die Kritik daran, dass Millionen an Hilfsgeldern in unterirdische Tunnel geflossen sind, statt in den palästinensischen Wohlstand?

Kein Wort dazu. Stattdessen wohlig-warmer Applaus für eine einseitige Pro-Palästina-Show auf der großen Berlinale-Bühne in Berlin.

Die Berlinale rühmt sich damit, ein politisches Filmfestival zu sein. Nur ist dies nicht ernsthaft politisch: Es ist peinlich, beschämend, verstörend und propagandistisch. Die Kultur muss sich ernsthaft fragen, wie sie ihre Rolle sieht – als Teil einer aktivistischen Bewegung oder als seriöser Ort des Dialogs. Wenn es um Letzteres gehen sollte, was zu wünschen wäre, hat die Szene noch einen weiten Weg vor sich.

Christian Tretbar, Tagesspiegel

"Super einseitige Schlachtrufe"

Die Empörung ist allgemein. Der Berliner Filmemacher RP Kahl machte seinem Entsetzen über das Geschehen am Sonntag auf Facebook in großer Klarheit Luft:

Warum ist NIEMAND von Euch gestern Abend in der Preisverleihung aufgestanden? Oder hat wenigstens reingerufen oder ein Mini-Gegenstatement oder eine Einordnung gesagt? Nein, ganz im Gegenteil habt Ihr die echt ekligen und vor allem super einseitigen Schlachtrufe, die zum Teil zu Recht als antisemitisch einzuordnen sind, bejubelt und reich beklatscht?

Wie Carlo Chatrian und Claudia Roth in der Sache ticken ist mir bekannt, von denen erwarte ich absolut nichts. Aber Ihr anderen, warum gebt Ihr Euch einen neuen Code of conduct der Berlinale, um die fünf AFD(!)-Abgeordneten auszuladen und warum ist eure FB-Timeline voller Kommentare über die fünf AFD(!)-Nasen und deren Menschenfeindlichkeit? Aber gestern Abend gilt die (neue) Moral dann nicht mehr?

RP Kahl

Und zur Berlinale:

(…) was ist da los bei Euch, setzt Ihr Euch nicht zusammen und habt irgendeine nachvollziehbare Haltung? Ich fürchte nein! Oder eine ganze andere, als man denken würde, denn wenn ich die Postings hier auf FB (Facebook, Einf. d. Red.) sehe, die einige wichtige Berlinale-Mitarbeiter in den letzten Wochen posten, dann steht das im totalen Gegensatz zu offiziellen Berlinale-Statements. Das ist wirklich beschämend und lässt auch für die Zukunft der Berlinale nichts Gutes erwarten.

RP Kahl

Kahl hat recht. Seinem Post ist nichts hinzuzufügen außer vielleicht die Nachfrage: Wo war irgendeine Reaktion des deutschen Jurymitglieds Christian Petzold? Von anderen Jurymitgliedern? Von der sogenannten "Kulturstaatministerin"? Alle blieben feige still.

Berlinale-Chefin Mariette Rissenbeek sagte zu Beginn der Veranstaltung: "Für Antisemitismus, für Hetze gibt es bei uns keinen Platz." Das war gelogen. Die Berlinale ist genau dafür zu einer Bühne geworden.

Filmemacher offenbaren ihre Ahnungslosigkeit

Der ehemalige Chefredakteur der tip Berlin und Autor der Salonkommunisten, Karl-Hermann Leukert, kommentierte auf Facebook:

Gaza-Kitsch auf der Berlinale. Strunzdumme Filmemacher offenbaren ihre Ahnungslosigkeit über den Nahost-Konflikt, fühlen sich aber als "wichtige" Künstler dazu berufen, ihre Meinung kundzutun – in pathetischen Botschaften und peinlichen Kufiya-Demonstrationen oder auf Zetteln am Rücken: Ceasefire now!

Frenetisch beklatscht vom ebenso ahnungslosen Publikum. (...) Und so geht auch diese Berlinale an uns vorüber als peinliches Event der sentimental zur Schau gestellten Mitleids-Performance. (...) Dabei darf man durchaus Mitleid mit den Menschen in Gaza haben. Der Fehler liegt nur darin, dass diese Protagonisten des falschen Mitgefühls sofort wissen, wer Schuld ist (...)

Karl-Hermann Leukert

Der Reigen aus einseitigen antijüdischen und antiisralischen Aussagen belegte zunächst einmal, dass viele Künstler, die vielleicht sogar gelungene Filme machen, viel weniger sensibel und viel weniger intelligent sind, als man es ihnen gern zuschreibt.

Was ist nur mit dieser Kunstszene los?

Am beschämensten aber war, dass, als abstoßende Parolen fielen und eitle Europäer mit frisch gebügelten Palästinensertüchern und Flugblättern auf der Bühne posierten, niemand aufstand oder buhte oder anders einschritt.

Nicht das Publikum. Denn das ist offenkundig zu sensibel für die Kulturtechnik des beherzten Buhrufes zur rechten Zeit. Stattdessen wird dies als "schlechtes Benehmen" geschmäht: "So etwas tut man nicht." Dabei ist der Verzicht auf Protest nicht Höflichkeit sondern ein peinlicher Mangel an Zivilcourage. Wer dann noch mitklatscht, darf sich in Zukunft nicht mehr bei den "Nie wieder"-Demos blicken lassen.

Auch nicht die Kulturstaatsministerin, die sogar an mancher falschen Stelle applaudierte. Und nicht die anderen Politiker aller Parteien im Saal, die erst am Tag danach ihre Empörung in die digitalen Kanäle bliesen.

Die Vertreter aller Parteien waren sich nämlich am nächsten Morgen einig, dass "Schaden für die Berlinale" eingetreten sei.

Der RBB zitierte den CDU-Bürgermeister Kai Wegner, der Maßnahmen der neuen Berlinale-Festivalleitung forderte:

Hier gibt es keinen Raum für Relativierungen. Ich erwarte hier Maßnahmen der neuen Berlinale-Festivalleitung.

Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin

Sein Kultursenator Joe Chialo (CDU) sieht die Festivalleitung in der Pflicht:

Die Kultur sollte Raum für vielfältige politische Meinungsäußerungen bieten, doch die diesjährige Preisverleihung der Berlinale war geprägt von selbstgerechter antiisraelischer Propaganda.

Joe Chialo

Auch die medienpolitische Sprecherin der SPD, Melanie Kühnemann-Grunow, kritisierte die Vorkommnisse auf der Preisverleihung:

Mir fehlte die kritische Sicht auf den 7. Oktober und die Anerkennung, dass dieser Tag für den israelischen Staat traumatisch war.

Melanie Kühnemann-Grunow

Grünen-Politikerin Daniela Billig sprach von einem "emotionalen und moralischen Tiefpunkt". Die Vorkommnisse seien ein schweres Erbe für die neue Direktorin.

Alles ist tabu. Aber Antisemitismus lässt man durchgehen.

Die bisherige Berlinale-Doppelspitze tat nichts. Zwar tritt sie jetzt ab, aber diesem Abgang verleiht sie durch ihr Schweigen eine Note, die alle vorausgegangenen wohlfeilen Lippenbekenntnisse gegen Hassreden Lügen straft, und deren bitterer Nachgeschmack noch lange anhalten wird.

Sexismus, Homophobie, Rassismus, Demokratiekritik, Leugnung von Klimawandel und des Coronavirus und vieles mehr waren und sind auf der Berlinale und in der sie tragenden Berliner Kulturszene selbstverständlich tabu. Antisemitismus aber lässt man einfach so durchgehen. Mitten in Deutschland!

Dass das Ganze kein Einzelfall ist, sondern System hat, zeigten zwei weitere Berlinale-Vorfälle: Nach einer Vorführung des Films "Through the Graves the Wind is Blowing" (der mit Palästina nichts zu tun hat) in der Akademie der Künste war eine Fragerunde vorgesehen.

Zunächst kam der Regisseur Travis Wilkerson auf die Bühne, dann erteilte er einer Frau das Wort, die erklärte, aus Gaza zu stammen und die Opfer im Gazastreifen beklagte. Vom Auslöser des israelischen Militäreinsatzes war nicht die Rede, wohl aber von einem "israelischen Völkermord".

Ein Zuschauer, der auf den Hamas-Überfall hinwies, wurde von einem Dutzend Aktivisten niedergeschrien. Die Moderatorin des Festivals griff nicht ein.

Weit schlimmer und folgenreicher sind mehrere israelfeindliche Posts auf dem Instagram-Profil des Festivals.

Hacker und Palästina-Kitsch: Hat die Berlinale ihre Mitarbeiter im Griff?

Auf X, ehemals Twitter, kursierten am Sonntag Screenshots von dem Konto der Panorama-Sektion der Berlinale. Auf einem Foto war der Slogan "Free Palestine – From the River to the Sea" ("Freies Palästina – vom Fluss bis zum Meer") zu sehen.

Mit dem Satz ist gemeint, es solle ein freies Palästina geben auf einem Gebiet vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer – dort, wo sich jetzt Israel befindet. Ein verbotener Spruch, der explizit die Auslöschung Israels fordert.

Weitere Posts forderten "Beendet den deutsch-finanzierten Staatsterror" und "Stoppt den Genozid in Gaza".

Erwartungsgemäß wurde das von der Bild-Zeitung sofort aufgegriffen:

"Neuer Judenhass-Eklat: Berlinale schockt mit verbotenem Anti-Israel-Spruch" hieß es da.

Die Berlinale distanzierte sich von den Beiträgen. "Diese Posts stammen nicht vom Festival und repräsentieren nicht die Haltung der Berlinale", teilte die Berlinale am Sonntagabend in ihrer Instagram-Story mit.

"Wir haben sie sofort gelöscht und eine Untersuchung angestoßen, wie es zu diesem Vorfall kommen konnte."

Das Filmfestival kündigte an, eine Strafanzeige gegen Unbekannt zu erstatten.

"Hacking"

Von "Hacking" war die Rede. Aber dass der Account gehackt wurde, ist bislang nur eine Behauptung der Berlinale. Möglicherweise einfach nur nachgeholte Schadensabwendung, die bislang unbewiesen ist.

Angesichts der Vorgeschichte muss man Belege einfordern – denn was gegen das "Hacken" spricht, ist zumindest, dass die Berlinale auf den gleichen Account kurz darauf wieder Zugriff hatte. Rein technisch ein ungewöhnlicher, kurioser Vorgang.

Viel wahrscheinlicher ist: Die Berlinale-Leitung hat ihre Mitarbeiter nicht im Griff. Und die sind Anhänger der unter Berliner Kulturschaffenden üblichen Palästina-Romantik und verbreiten in unbeobachteten Momenten sogar sehr bewusst ihren Gaza-Kitsch gegen die offizielle Linie der Chefs.

Erst Documenta, nun Berlinale

Die Berlinale hat nun ihren Skandal, der ähnliche Langzeitwirkung entfalten könnte, wie der Documenta vor zwei Jahren.

Deutschlands größtes Filmfestival muss seine Seele neu finden. Zu behaupten, man sei ein politisches Festival, reicht nicht mehr. Das widerspricht nicht nur den Tatsachen.

In Berlin ist diese Behauptung seit Samstag zu einer Drohung geworden.