Berliner Tagesspiegel stellt CDU-Politiker bloß: Rache mit Rechtsbruch
Zeitung veröffentlicht Namen nach Kommentaren im Leserforum. User hätte Daten selbst nennen müssen, heißt es. Doch das ist Unsinn. Warum Chefredakteur Maroldt die eigenen Richtlinien lesen sollte.
Der Berliner Tagesspiegel hat die Identität eines Users des eigenen Diskussionsforums rechtswidrig öffentlich gemacht. Anlass war offenbar zumindest auch dessen Kritik an der Berichterstattung der Zeitung. Die Veröffentlichung der Personendaten ist nach Experteneinschätzung ein klarer Rechtsverstoß – und bricht womöglich sogar mit den Regeln des Pressekodexes des Deutschen Presserats.
Die Geschichte, die der Tagesspiegel in seinem morgendlichen Newsletter Checkpoint brachte, begann zunächst reportagenhaft:
Am 22. September 2022, die Wahlwiederholung war absehbar, eine Entscheidung stand unmittelbar bevor, meldete sich um 13.13 Uhr ein neuer User für das Diskussionsforum auf der Tagesspiegel-Website an. Sein Nutzername: @reh383.
Seitdem hat @reh383 genau 131 Kommentare verfasst, in denen er sich an Linken, Grünen, Klimaschützern ("Mit solchen Leuten spricht man nicht"), der SPD und dem Tagesspiegel abarbeitet.
Tagesspiegel Checkpoint vom 12. Mai 2023
Jener User "@reh383" habe seitdem 131 Kommentare im Tagesspiegel-Forum geschrieben, "in denen er sich an Linken, Grünen, Klimaschützern ('Mit solchen Leuten spricht man nicht'), der SPD und dem Tagesspiegel abarbeitet", berichten die Checkpoint-Autoren Margarethe Gallersdörfer und Lorenz Maroldt, der Chefredakteur der Zeitung.
User "@reh383" kritisierte demnach vor allem die politische Ausrichtung und Berichterstattung des Tagesspiegels. Gallersdörfer und Maroldt schreiben:
Die Artikel im Tagesspiegel zu den Koalitionsverhandlungen nennt er eine "Kampagne". Er sieht "geschlossene linke Weltbilder in der Hauptstadtpresse". Einem Gastautor von der SPD bescheinigt er "krude Thesen", nennt ihn "bekloppt" und fragt: "Warum dürfen hier ständig Sozialdemokraten ihr Gift ablassen?" Zu Franziska Giffey heißt es: "Nett vom Tagesspiegel, der Frau ein wenig Wahlkampfunterstützung zu geben."
Maroldt und Gallersdörfer sind der Ansicht, die Öffentlichkeit habe ein Recht zu erfahren, wer hinter "@reh383" steckt, der Kommentator müsste "seinen Namen und seine Funktion" als Disclaimer zu jedem seiner Posts setzen. Ihre Argumentation:
Denn @reh383 ist Hannes Rehfeldt, Pressesprecher des CDU-Kreisverbands Neukölln sowie Koordinator und Verantwortungsträger im Stab des bisherigen CDU-Sozialstadtrats Falko Liecke, der im neuen Senat Jugendstaatssekretär wurde.
Woraus die Journalisten allerdings ableiten, bestimmte User des Diskussionsforums müssten mit Klarnamen auftreten, legen sie nicht dar. In den Community-Richtlinien des Tagesspiegels findet sich dazu nichts.
"Keine Angaben, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind"
In den Community-Richtlinien des Tagesspiegels heißt es:
Bitte beachten Sie auch bei der Wahl des Namens die geltende Richtlinie und geben sich möglichst ein seriöses Pseudonym. (...) Bitte beachten Sie auch, dass Kommentare, die Sie auf den Seiten von Tagesspiegel.de abgeben, öffentlich sind. Sie können von jedermann gelesen werden. Machen Sie in Ihren Beiträgen deshalb keine Angaben, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Dies gilt insbesondere für Post- und E-Mail-Adressen.
Community-Richtlinien Verlag Der Tagesspiegel
Wenn Politiker oder konkret Pressesprecher von Parteien beim Tagesspiegel nur unter ihrem Klarnamen diskutieren dürfen – für wen gilt das dann noch? Nach dem bei Rehfeldt angelegten Maßstab muss künftig wohl jeder Lobbyist mit seiner "Enttarnung" rechnen, ob aus Industrie, Gewerkschaft oder etwa Klimaschutzbewegung.
Darf künftig niemand mehr anonym bleiben, der in das kommentierte Thema involviert oder von diesem betroffen ist? Jedes aktive Mitglied eines Vereins könnte zur Angabe eines "Disclaimers" verpflichtet sein. Und alle Journalisten?
Der Tagesspiegel äußerte sich auf eine Anfrage von Telepolis innerhalb einer siebenstündigen Frist am Freitag nicht dazu.
Im Beitrag leitet das Blatt ein öffentliches Interesse, das offenbar die zugesagte und gesetzlich geschützte Vertraulichkeit überwiegen soll, von einem vagen Verdacht des Arbeitszeitbetrugs bzw. einer nicht zulässigen privaten Internetnutzung her.
>Mehr als 100 Kommentare zu Texten, die auf tagesspiegel.de erschienen sind, hat Rehfeldt zwischen 10 und 16 Uhr geschrieben, die meisten davon am Vormittag. Das fällt in die Kernarbeitszeit des Bezirksamts. Die Nutzung dienstlicher E-Mail-Adressen ist in der bezirklichen "Dienstvereinbarung zur Nutzung des Internet" geregelt. Unter Punkt 2.2 heißt es da: "Die private Nutzung des Internet und der anderen Dienste ist grundsätzlich nicht zulässig."
Margarethe Gallersdorfer und Lorenz Maroldt im Checkpoint
Rehfeldt sagt laut Tagesspiegel dazu allerdings, er habe "stets darauf geachtet, die stets als private Meinung zu verstehenden Kommentare nicht in der Dienstzeit zu verfassen, sondern das in Pausen zu tun".
Im Bezirks-Newsletter für den Berliner Stadtteil Neukölln zitiert Tagesspiegel-Redakteurin Madlen Haarbach am 31. Mai Rehfeldt dazu knapp und indirekt, aber wohl sehr relevant: "Ein entsprechendes Verfahren gegen ihn sei mittlerweile abgeschlossen."
Hannes Rehfeldt war eine Woche zuvor zum Stadtrat für Gesundheit und Soziales gewählt worden, wobei die vorherige Berichterstattung des Tagesspiegels eine wichtige Rolle spielte. Seine Kandidatur war zum Zeitpunkt der Enthüllung bereits bekannt.
Berichterstattung wurde von Linken gegen CDU-Mann verwendet
So wird Carla Assmann (Linke) mit den Worten zitiert: "Wir brauchen keinen Kommentarspaltentroll in der Leitung eines derart wichtigen Amtes."
Joerg Heidrich, Fachanwalt für IT-Recht und Datenschutzbeauftragter bei Heise Medien, des Verlagshauses von Telepolis, schätzte das Verhalten des Tagesspiegels am Freitag wie folgt ein:
Die Offenlegung des Klarnamens halte ich in diesem Fall für einen Verstoß gegen Datenschutz und auch gegen die Presseethik. Das Vorgehen des Tagesspiegels wäre vergleichbar mit der Veröffentlichung des Namens eines Leserbriefschreibers, der anonym bleiben möchte. Auch ein Verstoß gegen den Pressekodex wäre möglich. Dies gilt insbesondere aufgrund der Tatsache, dass hier kein prominenter Politiker die Postings verfasst hat. Doch sogar, wenn dies der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, selber gewesen wäre, hätte sein Name nicht ohne Weiteres veröffentlicht werden dürfen, da sogar der darauf vertrauen können muss, dass hier die Identität der Schreiber gewahrt bleibt.
Die Behörde der Berliner Beauftragten für den Datenschutz, Meike Kamp, konnte sich am Freitag aus personellen Gründen noch nicht inhaltlich zu dem Fall äußern. Eine Beschwerde oder Anfrage zu dem Fall liege dort bislang nicht vor, hieß es.
Der ebenfalls um eine Stellungnahme gebetene "DJV Berlin Journalistenverband Berlin-Brandenburg" reagierte am Freitag auf Anfrage nicht.
In jüngster Zeit sind mehrere journalistische Enthüllungen in die medienethische Kritik geraten. So machte der Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, publik, dass ihm der frühere Bild-Chefredakteur Julian Reichelt internes Material angeboten hatte, welches schließlich bei der Zeit veröffentlicht wurde.
Der Presserat prüft den Fall nun aufgrund von Beschwerden bezüglich der offensichtlichen Verletzung des Informantenschutzes.
Aber auch die Veröffentlichung des Materials wird kontrovers diskutiert, weil sie die Frage aufwirft, welche private Kommunikation privat bleiben muss. Das von Reichelt angebotene Material enthielt private E-Mails von Bild-Herausgeber Mathias Döpfner, deren Inhalte ihm heftige Kritik einbrachten.
Auch anonyme Anschuldigungen gegen Schauspieler und Regisseur Til Schweiger stehen in der Debatte.
Jan Böhmermann hatte vor einem Jahr mit der Veröffentlichung interner Geschäftsunterlagen großen Wirbel um Entertainer Fynn Kliemann entfacht, juristisch ergaben die von ihm "aufgeworfenen Fragen" allerdings wenig. Im April 2019 hatte Böhmermann durch öffentliche Äußerungen den zentralen Informanten in der "Ibiza-Affäre" jedenfalls für Insider kenntlich gemacht. Böhmermann beruft sich darauf, keine Vertraulichkeit zugesagt zu haben.
Im Fall des Tagesspiegels nun wurde die in den Richtlinien zugesagte Anonymität von Name und E-Mail-Adresse eines Community-User gebrochen. Über die weitere Einschätzung dazu wird Telepolis berichten.