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Beschämendes Chaos mit System: US-Migrationspolitik

Leon Gerleit

Grenze zwischen USA und Mexiko. Bild: US-Army, Sgt. 1st Class Gordon Hyde/gemeinfrei

Wahlkampf Midterms: Die ultrarechten Republikaner Greg Abbott und Ron DeSantis lassen Migranten in Hochburgen der Elite der Demokraten bringen. Die Kritik von Präsident Biden spricht Bände. Auch die Parole der Demokraten heißt: "Don't come."

Die Republikanische Partei ist in Bedrängnis. Das Dobbs Urteil [1] des Obersten Gerichts, das Abtreibungen in vielen Bundesstaaten praktisch unmöglich macht, bringt moderate Republikaner in Erklärungsnot, und die Rechtsstreitigkeiten der Galionsfigur Donald Trump nehmen kein Ende.

Zeit also, für die altehrwürdige Partei, einen Klassiker rechtskonservativer Wahlkampf-Programmatik aus dem Hut zu ziehen: Immigration. Denn die Angst vor Immigranten und Asylsuchenden, besonders "Illegalen", hat die republikanische Wählerschaft bisher noch immer mobilisiert, besonders während der Legislaturperioden der Demokraten.

Während Trumps Amtszeit wurden immer wieder angsteinflößende Hirngespinste, unter anderem eine "Karawane voller illegaler Einwanderer" [2], unter denen sich auch Terroristen befinden sollen, heraufbeschworen, um die Wählerschaft durch Panikmache an sich zu binden.

Die Wirklichkeit an der südlichen Grenze der USA mit Mexiko sieht anders aus; allerdings auch nicht gut.

Wie Politico berichtet, sind die letzten beiden "politischen Stunts" in dem Versuch, die Aufmerksamkeit auf das Thema Immigration zu lenken, den republikanischen Gouverneuren Ron DeSantis aus Florida und Greg Abbott aus Texas [3] zuzuschreiben.

Die beiden prominenten Republikaner veranlassten den Transport größerer Gruppen von Migranten von der südlichen Grenze der USA in Hochburgen der Demokraten. Abbott schickte am Donnerstag letzter Woche eine Gruppe mit zwei Bussen zu einem Ort in Washington, unweit der Residenz der Vizepräsidentin Kamala Harris. DeSantis delegierte seinerseits vergangenen Mittwoch eine weitere Gruppe per Flugzeug nach Martha's Vineyard.

Präsident Biden zeigte sich schockiert über das rücksichtslose politische Manöver. Er beschuldigte die Republikaner während einer Gala des "Congressional Hispanic Caucus", dass sie Migranten für ihre politischen Spiele [4] missbrauchen.

Heuchelei der Demokraten

Diese Form der Kritik spricht Bände: Biden prangert nicht die menschenunwürdige Behandlung von Migranten an der Süd-Grenze der USA generell an, sondern nur die Instrumentalisierung der Schicksale der betroffenen Menschen gegen ihn persönlich und seine Regierung.

Eine tiefergehende Diskussion zu dem Thema kann auch nicht im Interesse einer Regierung liegen, deren generelle Einstellung zur Migration über die südliche Grenze der USA in Kamala Harris Botschaft an mögliche Auswanderer in Guatemala zusammengefasst werden kann: "Don’t Come!" [5]

Die Ziele der unfreiwilligen Reisegruppen waren schlau gewählt, denn Washington und Marthas Vineyard sind nicht nur Hochburgen der Demokraten, sondern auch Enklaven, in denen sich die angeblich so liberale Oberschicht der Demokraten zurückzieht, um unter sich zu sein.

Falls es also im Interesse der Republikanischen Gouverneure gewesen wäre, auf die Heuchelei der Eliten der Demokraten in Bezug auf Immigrationspolitik hinzuweisen, könnte man die Aktion als gelungen betrachten.

In aller Wahrscheinlichkeit geht es den beiden Agitatoren aber eher darum, ein überlastetes Immigrationssystem noch weiter zu strapazieren.

Ziel der Taktik ist es zu verdeutlichen, dass die USA schlicht nicht in der Lage sind, die wachsende Immigration über die Süd-Grenze zu verwalten, und daher jede Form der Einwanderung – legal oder illegal – abzulehnen sei.

Realitätsferner Biden

Aber auch wenn diese menschenverachtende, rassistisch konnotierte und eventuell illegale Verschiffung migrantischer Menschen mehr Chaos verursacht als nötig, ist Bidens Antwort auf die Aktionen realitätsfern: Die Regierung, so der Präsident, habe ein Verfahren für Migranten an der Grenze am Laufen und die Republikaner sollten sich nicht mit "politischen Stunts" einmischen [6].

Die Lage an der Süd-Grenze der USA ist nämlich beschämend. Seit dem 1. Oktober 2021 starben laut CNN, nach Angaben von "Homeland Security", ca. 750 Menschen [7] bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren. Das sind ungefähr 200 mehr Tote im Vergleich zum gleichen Zeitraum von Oktober 2020 bis September 2021.

Unterdessen scheint sich die Beziehung zwischen dem Weißen Haus und der "Homeland Security" weiter zu verschlechtern, denn auch die Behörde ist überzeugt, dass die Strukturen an den Grenzstaaten nicht ausreichen, um den steigenden Andrang von Menschen zu bewältigen. Angeblich überschreiten derzeit 8.000 Menschen die Grenze in die USA.

Angeblich hätte das Weiße Haus ab einer Anzahl von 9000, ohnehin damit begonnen, den Menschenstrom landein umzuleiten, um die Grenzstaaten zu entlasten. Die Medienaktionen von Abbott und DeSantis kommen also gerade noch rechtzeitig, um eine Reaktion bei den Demokraten hervorzurufen, und damit das derzeit von Biden verwaltete Elend des US-Immigrationssystems auf die mediale Tagesordnung zu setzen.

Biden-Regierung: Maßnahmen von Trump beibehalten

Eigentlich ist die Situation an der militarisierten und trotzdem kaum kontrollierbaren Grenze zu Mexiko ein parteiübergreifendes Projekt. Denn die Biden-Regierung hat einige Maßnahmen Trumps, besonders jene, die den Immigrationsprozess erschweren, bis heute beibehalten.

Zwar sind seit August Trumps Migration Protection Protocols [8] offiziell außer Kraft gesetzt. Die Biden Regierung hält aber weiterhin an Artikel 42 fest [9]. Was bedeutet, dass weithin Asylsuchende in menschenunwürdigen Umständen in Lagern auf der mexikanischen Seite der Grenze auf die Klärung ihres Antrags warten müssen.

Diese Orte sind keineswegs sicher. Ganz im Gegenteil, Lager, wie eines in der Nähe der Grenzstadt Reynosa, befinden sich in Gebieten, die von Drogenkartellen kontrolliert werden und immer wieder zum Schauplatz von blutigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen werden.

Die Gefährdung dieser Menschen ist besten Fall mit der Inkompetenz der Demokraten zu erklären, im schlimmsten Fall entspricht sie einer politischen Absicht, die in Kamala Harris Warnung verkörpert ist: "Don’t Come!" Da könnte es für die Demokraten schwer werden, sicher weiterhin als rein "pro-migrantische" Partei zu präsentieren.

Die Republikaner stehen vor einem anderen Problem. Abgesehen von ihnen, ihrer Basis, dem rechten Rand der konservativen Bewegung, haben immer weniger Menschen [10] in den USA etwas an legaler Immigration auszusetzen.

Daher geht es Abbott und DeSantis primär darum, die Grenzen zwischen legaler und illegaler Immigration zu verwischen, um ganz allgemein gegen Migration vorgehen zu können. Da hilft es, für Unruhe zu sorgen.

Denn trotz aller Angst-Propaganda bezüglich illegaler Einwanderung scheinen Republikaner hauptsächlich erfolgreich darin, legale Migration zu erschweren. Dagegen bleiben Maßnahmen gegen illegale Immigration trotz aller Grausamkeit, weitgehend folgenlos. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist Trumps "Migrationspolitik" [11].

So schaffte es die Trump-Regierung, dass im Vergleich zu seinem Vorgänger Obama, die monatliche Ausgabe von Greencards um 18 Prozent und die anderen Visa um 28 Prozent zu senken. Trumps Maßnahmen gegen illegale Immigration hingegen schienen sich vorwiegend auf sein, lächerliches "Wall"-Projekt zu beschränken, das zu kaum mehr als einem Spendenskandal für Steve Bannon [12] geworden ist.

Obama war im direkten Vergleich für mehr Deportationen von Menschen ohne legalen Status verantwortlich [13].

Wahlen, Migranten und Minderheiten

Vielleicht hat dieses Vorgehen einen Grund: Legale Einwanderer sind für die politische Macht der Republikanischen Partei auch gefährlicher als "Illegale", weil sie wählen können. Denn auch wenn Trump dank seines auf einem konservativen Kulturkampf-basiertem Wahlprogramms 2016 vereinzelt ein paar superkonservative "Latinos" für sich gewinnen konnte, bleibt ein Großteil dieser Stimmen weiterhin außer Reichweite der Republikanischen Partei [14].

Und auch wenn die Konservativen bekanntlich kein Problem darin sehen, das Wahlrecht von Minderheiten mit Füßen zu treten, ist diese Taktik genauso lange wirksam, als es sich weiterhin um eine Minderheit handelt.

Auch die wirtschaftlichen, teilweise angeblich progressiven Eliten sind eher an Illegalen als an legalen Migranten interessiert. Der Grund: Menschen ohne rechtliche und politische Repräsentation lassen sich bekanntlich leichter ausbeuten. Die US-Wirtschaft profitiert schon lange von der billigen Arbeitskraft, sogenannter "Undocumented Immigrants".

Den Schätzungen zufolge, die sich auf Daten des "Census Bureau" aus dem Jahre 2016 stützen, besaßen, laut der New York Times, etwa 31 Prozent der Arbeiterschaft [15] in Dienstleistungsberufen keine gültige Aufenthaltserlaubnis. In der Land-, Fischerei- und Forstwirtschaft waren es etwa 24 Prozent.

Im Baugewerbe machten Arbeiter ohne legalen Status etwa 15 Prozent der Arbeiterschaft aus. Dies ist auch die Branche, in der mit 1,35 Millionen die meisten Arbeitnehmer:innen ohne Papiere beschäftigt sind. Im Gaststättengewerbe sind laut Daten des "Bureau of Labor Statistics" über ein Viertel der Arbeitskräfte im Ausland geboren. Ein großer Teil davon ist laut Ökonomen angeblich illegal in den USA.

Kurz gesagt, weder die Arbeitgeber dieser Menschen, noch deren Vertreter in beiden Parteien sind daran interessiert, ihnen per Greencard ein paar Rechte zuzugestehen. Mit dem Unterschied, dass den Demokraten ein wenig legale Immigration aus wahlstrategischen Beweggründen ganz gelegen kommen dürfte, – wenn auch nicht nach Marthas Vineyard.

Für die Republikaner ist das Gegenteil der Fall. Besonders für Ultrarechte wie Greg Abbott und Ron DeSantis dient das Thema Immigration ausschließlich zum Anheizen rassistischer Ressentiments während des Wahlkampfes.

Bleibt nur zu hoffen, dass dieser bald wieder vorbei ist. Für die Menschen an den Grenzen und jene, die es ohne Erlaubnis in die USA geschafft haben, wird der Ausgang der kommenden Wahlen wenig ändern.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7270819

Links in diesem Artikel:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Dobbs_v._Jackson_Women%27s_Health_Organization
[2] https://www.vox.com/2018/11/26/18112360/fox-news-caravan-coverage-border-tear-gas
[3] https://www.politico.com/news/2022/09/15/desantis-migrants-marthas-vineyard-immigration-florida-00056870
[4] https://www.politico.com/news/2022/09/15/desantis-migrants-marthas-vineyard-immigration-florida-00056870
[5] https://www.bbc.com/news/world-us-canada-57387350
[6] https://www.politico.com/news/2022/09/15/desantis-migrants-marthas-vineyard-immigration-florida-00056870
[7] https://edition.cnn.com/2022/09/07/politics/us-mexico-border-crossing-deaths/index.html
[8] https://www.theguardian.com/us-news/2022/aug/09/biden-ends-remain-in-mexico-trump-policy
[9] https://www.theguardian.com/us-news/2022/sep/08/title-42-covid-policy-migrants-mexico-us
[10] https://fivethirtyeight.com/features/when-republicans-talk-about-immigration-they-dont-just-mean-illegal-immigration/
[11] https://fivethirtyeight.com/features/when-republicans-talk-about-immigration-they-dont-just-mean-illegal-immigration/
[12] https://www.theguardian.com/us-news/2022/sep/08/steve-bannon-border-wall-charges-surrender
[13] https://www.washingtonpost.com/immigration/the-trump-administrations-immigration-jails-are-packed-but-deportations-are-lower-than-in-obama-era/2019/11/17/27ad0e44-f057-11e9-89eb-ec56cd414732_story.html
[14] https://www.nytimes.com/2022/09/18/us/politics/latino-vote-polling.html
[15] https://www.nytimes.com/2018/12/11/us/undocumented-immigrant-workers.html