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Beschleunigte Machtverlagerung nach Asien

Alexander S. Neu

Die Weltpolitik verändert sich ohne westliches Verständnis (Teil 1).

Dem aufmerksamen Beobachter der internationalen Politik dürfte die Kräfteverschiebung auf dem Globus von West nach Ost nicht verborgen geblieben sein.

Seit über einem Jahrzehnt vollzieht sich dieser Prozess in verschiedenen weltgeografischen Räumen – zunächst noch sehr langsam und unauffällig. China, Indien, die Türkei und weitere Staaten bauen beharrlich ihre ökonomischen, zunehmend auch militärischen Potenzen und Einflussräume stetig aus.

Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine – und damit auch stellvertretend gegen den Westen und seiner geopolitisch motivierten Raumexpansion bis an Russlands Grenzen – nimmt die Kräfteverschiebung indes rasant an Fahrt auf, sodass ohne Übertreibung von tektonischen Verschiebungen im globalen Machtgefüge gesprochen werden kann:

Die vom Westen geführte unipolare Weltordnung – die gern zitierte "regelbasierte internationale Ordnung" – befindet sich im freien Fall und eine noch nicht genau ausbuchstabierte multipolare Ordnung oder ggf. auch Unordnung ist zu erkennen.

Welche Rolle und Position Europa und Deutschland darin spielen und einnehmen wird, ist noch nicht klar. Was sich jedoch abzeichnet: Die ausschlieĂźlich westzentrierte Welt, zumindest mit Blick auf Europa, wie wir sie kennen, ist zunehmend Geschichte.

Die Beschleunigung der Machtverlagerung von Westen, insbesondere, nach Asien (inklusive Russland), aber auch in die gesamte nicht-westliche Welt ist beachtlich und soll an neueren Entwicklungen illustriert werden:

So erklärte jüngst der südafrikanische Außenminister per Tweet, Saudi-Arabien, UAE, Ägypten, Algerien, Argentinien, Mexiko und Nigeria bitte um Aufnahme in die von China und Russland geführte Brics-Gemeinschaft. (Tweet [1] veröffentlicht am 31.03.2023).

Bei keinem dieser Länder aus den verschiedenen Kontinenten handelt es sich um Leichtgewichte – im Gegenteil. Saudi-Arabien, eigentlich ein enger Verbündeter des Westens, insbesondere der USA, fasste kürzlich darüber hinaus den Beschluss, der von China und Russland geführten "Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit" ("SCO") als Dialogpartner sich anzunähern.

Der Iran möchte Mitglied des "SCO" werden. Iran und Saudi-Arabien, beide seit langem Erzfeind in der Region, nähern sich auf Vermittlung Chinas einander wieder an. Die Konsequenzen dieser Entwicklungen werden ganz offensichtlich vom Westen, gefangen in seiner ideologischen Hybris, nicht so ganz verstanden. Der Einfluss des Westens auf die globalen Geschicke schwindet sehenden Auges.

Russland-Ukraine Konflikt als Katalysator des Epochenbruchs

Der – letztlich erfolgreiche – Versuch der EU mit Unterstützung Washingtons 2014, die Ukraine in das westliche Lager zu ziehen, ohne dabei die historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen der Ukraine mit Russland sowie die innerukrainische Diversität zu respektieren, ja sogar das entweder-EU-oder-Russland-Ultimatum gegenüber Kiew zu stellen und diese Entscheidung Kiews mit der Unterstützung eines Umsturzes gegen die gewählte Regierung W. Janukowitsch in die "richtige Richtung" zu befördern, führte dann tatsächlich zu dem offenen Bruch zwischen Russland und dem Westen.

Die darauffolgende Sezession und völkerrechtswidrige Integration der Krim in die Russische Föderation entzürnte wiederum den Westen. Halbiert sich doch der strategische Wert der Ukraine ohne die Krim für die westliche Geostrategie zumindest mit Blick auf den Schwarzmeerraum und das östliche Mittelmeer.

EU und USA reagierten angesichts des nur halben Sieges in dem "Schachspiel", um die Ukraine – um es mit den Worten des verstorbenen US-Geostrategen Z. Brzezinski zu formulieren – mit massiven Sanktionen gegen Russland. Galt das externe Selbstbestimmungsrecht bei der Zerlegung Jugoslawiens als das Non plus ultra eines in den Augen des Westens dynamischen Völkerrechts, betrachtet man diese Norm im Falle der Krim und weiterer potentieller Sezessionsräume, die sich zum Nachteil westlicher Raumpolitik erweisen, doch eher als kontraproduktiv.

Plötzlich werden die einst als überkommen erklärten und ad acta gelegten Normen der territorialen Integrität und Souveränität wieder entdeckt.

Das Jahr 2014 hat den langen schwelenden Bruch zwischen dem Westen und Russland offen zu trage treten lassen. Die Entfremdungen begannen aber viel früher: Die Rede Wladimir Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, in der er die fortgesetzte unipolare Weltordnung ablehnte und einen Platz Russlands in der Gestaltung der Weltpolitik einforderte, hätte als Warnsignal verstanden werden müssen.

Russland ist in seiner Wahrnehmung nie wirklich trotz aller westlichen Lippenbekenntnisse in der post-Kalten-Kriegs-Ära als gleichberechtigter Partner und Gestaltungsakteur in Europa und der Welt akzeptiert worden. Im Gegenteil, der Westen nutzte die russische Schwäche in den 1990er und 2000er Jahren, um seine Macht- und Raumpositionen auszubauen: Seien es – entgegen den Versprechungen-, die diversen Runden der Nato-Osterweiterung. Oder sei es die auch militärische Einmischung des Westens in Jugoslawien, einem traditionellen Verbündeten Russlands etc.

Hinzu kommt: Die USA kündigten bilaterale Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge (ABM-Vertrag, Open-Sky-Vertrag, INF-Vertrag) mit Russland auf oder ratifizierten den multilateralen Nachfolgevertrag (A-KSE-Vertrag) zur Rüstungsbegrenzung im konventionellen Bereich mit fadenscheinigen Begründungen einfach nicht.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, der russische Krieg gegen die Ukraine ist unbestreitbar ein Bruch des Völkerrechts, ebenso die darauffolgenden Annexionen von vier ukrainischen Gebieten. Diesem offenen regionalem Krieg liegt indessen, wie oben erwähnt, ein viel länger währender Krieg unterhalb der Schwelle einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland zugrunde.

Dieser noch nicht-militärische, verdeckte Krieg (Propaganda-, Medien-, Cyber-, Wirtschafts-, Handels-, Sanktions-, und nachrichtendienstlicher Krieg) wird von beiden Seiten, dem Westen und Russland mit zunehmender Härte geführt.

Die Gefahr des Überspringens in einen direkten militärischen Schlagabtausch wächst mit jedem Tag und jeder weiteren Waffenlieferung, da Russland das westliche Engagement in der Ukraine als das einer Kriegspartei qualifiziert.

Es bleibt zu hoffen, dass Russland, obschon es den Westen als Kriegspartei bezeichnet, nicht auf die wahnsinnige Idee kommt, den Krieg räumlich auf die Nato auszudehnen.

Entgegen vielfacher Verkürzungen und Verzerrungen über die Kriegsursachen hierzulande wie auch in Russland, muss folgendes hervorgehoben werden: Der am 24. Februar 2022 begonnen militärische Angriff Russlands auf die Ukraine hat sicherlich imperiale ("Sammeln russischer Erde"), nicht jedoch imperialistische Motive (diese Termini werden beabsichtigt undifferenziert verwendet).

Was im Westen jedoch gerne übersehen wird: Dieser Krieg hat auch oder sogar primär eine sehr starke sicherheitspolitische Dimension: Die Nato-Erweiterung nach Osten bis in den post-sowjetischen Raum und somit unmittelbar an Russlands Grenzen.

Die Beendigung der Nato-Osterweiterung war und ist eine der zentralen Forderungen Moskaus an die Nato, so auch in den beiden Vertragsentwürfen Moskaus adressiert im Dezember 2021 an die Nato und die USA und zugleich, was ungewöhnlich ist, weltöffentlich gemacht. Die Originale sind auf Englisch auf dem sicherheitspolitischen Blog Augen geradeaus [2] hinterlegt.

Auch hier waren die Antworten – veröffentlicht, leider hinter einer Paywall, von der Tageszeitung El Pais [3] - der Nato und der USA von Januar 2022 alles andere als von kooperativer Natur im Sinne der Charta von Paris. Und dennoch rechtfertigt die westliche Abfuhr keinen Angriffskrieg.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-8516426

Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/TobiAyodele/status/1641339628316753920?t=dcW3XCwaT6NOTPPIAUIHoA&s=19
[2] https://augengeradeaus.net/2021/12/russlands-vorschlaege-fuer-vertraege-ueber-sicherheitsgarantien-faktisch-ein-ende-der-nato-neufassung/
[3] https://elpais.com/internacional/2022-02-02/ee-uu-ofrece-acuerdos-de-desarme-a-cambio-de-desescalar-en-ucrania.html