Beschleunigtes Auftauen

Simulierter Erwärmungstrend in der Arktis während (links) und außerhalb (rechts der Perioden mit besonders raschem Meereisverlust. Deutlich zu sehen ist, wie sich vor allem über dem arktischen Archipel die Erwärmung verstärkt. Grafik: Lawrence et al., Geophysical Research Letters (Vol. 35, L11506)

US-Forscher beschreiben erstmalig die Auswirkungen des schrumpfenden Meereises auf die kontinentale Arktis

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Seit einigen Jahren sorgt regelmäßig im Spätsommer das arktische Meereis für Schlagzeilen in der Weltpresse. Fast jährlich bricht es neue Minusrekorde. 2005 war erstmalig die Nord-Ost-Passage offen, 2007 erstmalig die Nord-West-Passage und das Eis auf fast dem ganzen arktischen Ozean ist mittlerweile so dünn, dass sich auch in diesem Jahr das Eis von fast allen Küsten zurückziehen könnte. Wissenschaftler des US-amerikanischen National Snow and Ice Data Center (NSIDC) in Boulder, Colorado, sehen bereits einen Punkt ohne Wiederkehr erreicht. Unter den derzeitigen warmen Bedingungen könne sich das arktische Meereis vermutlich nicht wieder erholen, die Situation steuere auf einen Zustand zu, in dem das arktische Meer künftig im Sommer zeitweise eisfrei sein werde, schreiben sie auf ihrer Webseite.

Dass das für Schifffahrt, diverse Rohstoffbegehrlichkeiten und vor allem das Leben der Bewohner der Arktis weitreichende Konsequenzen haben wird, liegt auf der Hand. Auch werden sich zwei alte Kontrahenten auf einmal ganz nah sein, so dass man sich sowohl in Russland als auch in den USA inzwischen bereits konkrete Gedanken macht, wie hoch im Norden ggf. Krieg geführt werden könnte. Auch Kanada denkt an den Aufbau eines Flottenstützpunktes unweit des Nordpols.

Der Rückgang des arktischen Meereises. Die blaue Linie beschreibt die monatlichen Mittelwerte, die violette das gleitende Mittel über 12 Monate. Die Daten sind normiert, wie die Mathematiker sagen. Das heißt, sie sind auf ihren gemeinsamen Mittelwert (Nulllinie) bezogen. Auf der senkrechten Achse sind Vielfache der Standardabweichung aufgetragen. Diese ist eine statistische Größe und bezeichnet die durchschnittliche Abweichung der Datenpunkte von ihrem gemeinsamen Mittelwert. Grafik: NSIDC

Eine andere Frage ist derweil, wie die arktische Umwelt, insbesondere der Permafrost, das heißt, der dauerhaft gefrorene Boden auf die Veränderungen reagieren wird. Der Aspekt ist nicht gerade nebensächlich: Immerhin sind in diesen Böden große Mengen toten organischen Materials tiefgefroren. Einmal aufgetaut, werden sie sich zu Kohlendioxid und Methan zersetzen, beides potente Treibhausgase (Eine klimatische Zeitbombe im hohen Norden). Der Klimawandel könnte also jenseits des Polarkreises in den arktischen Tundren eine positive Rückkopplung auslösen, mit der er sich selbst verstärkt.

David Lawrence und Kollegen von der Climate and Global Dynamics Division des National Centre for Atmospheric Research, ebenfalls in Boulder beheimatet, haben sich daher gedacht, es müsse einmal etwas konkreter untersucht werden, wie sich ein sommerlich eisfreier arktischer Ozean auf den Permafrost auswirkt. Immerhin scheint während der Sommermonate rund um den Pol die Sonne ohne Unterbrechung. Wenn also die Eisdecke auf dem Wasser verschwindet, die derzeit noch etwa 60 Prozent des Sonnenlichts reflektiert, würden erhebliche Mengen an Wärmeenergie in das regionale Klimasystem aufgenommen. Das freigelegte Wasser würde sich erwärmen und einen Teil dieser Energie an die Luft abgeben. Diese könnte dann auch Teile des Festlandes erwärmen.

Die Frage ist, wie sehr, wie schnell und wie nachhaltig. Die Gruppe um Lawrence ging in ihrer Untersuchung davon aus, dass es in der Zukunft zu Episoden mit einem sehr schnellen Rückgang des Meereises kommen wird. Eine von ihnen, Marika Holland, hatte das vor zwei Jahren in einer anderen Studie demonstriert. Sie entwickelten also eine Reihe entsprechender Szenarien, die sie mit speziell auf die Arktis zu geschnittenen Klimamodellen durchrechneten. Die Ergebnisse veröffentlichten sie Mitte Juni im US-Fachblatt Geophysical Research Letters (Vol. 35, L11506).

Heraus kam erwartungsgemäß, dass sich die ohnehin beobachtete Erwärmung in den arktischen Regionen während Perioden schnellen Rückgangs des Meereises zum Teil erheblich beschleunigte. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt natürlich an den Küsten, reicht aber auch bis zu 1500 Kilometer weit ins Landesinnere. Vor allem im arktischen Archipel im Norden Kanadas in unmittelbarer Nachbarschaft zu Nordwestgrönland wird die Erwärmung durch den Eisverlust beschleunigt, und auch in den nördlichen Ecken Grönlands würde es wärmer werden. Weiter im Süden der vereisten Insel würde die atmosphärische Dynamik hingegen dafür sorgen, dass die Erwärmung abgebremst würde.

Für den Permafrost haben die Simulationsrechnungen hingegen folgendes ergeben: In der gesamten Arktis wird die Erwärmung zu einer Vertiefung der so genannten aktiven Schicht führen. Damit bezeichnen die Polarforscher die obersten Bodenschichten, die im Sommer auftauen. Darunter bleibt der Boden gefroren. Das ist zunächst nicht weiter erstaunlich. Interessant ist hingegen, dass vor allem für die Randgebiete, in denen schon jetzt wärmere Bedingungen vorherrschen, der Zeitpunkt der Meereisverlust-Episoden eine große Rolle spielt. Je früher es zu diesem sprunghaften Rückgang kommt, der die Erwärmung in weiten Teilen der Antarktis beschleunigt, desto rascher wird der Abbau des Permafrosts in den wärmeren Regionen von statten gehen.

Lawrence und Kollegen fanden nämlich heraus, dass der Effekt der verstärkten Erwärmung besonders von Oktober bis Dezember spürbar würde. In den wärmeren Gegenden wird das dazu führen, dass der Frost später einsetzt und zunächst weniger stark ist. Dadurch wird die aktive Schicht im Winter nicht mehr vollständig gefrieren. Es bildet sich ein so genannter Talik, eine Schicht nichtgefrorener Erde zwischen dem Permafrost in der Tiefe und der gefrorenen Erdoberfläche.

Ab diesem Punkt wird aber der Verfall des Permafrosts rasch voranschreiten. Jeden Sommer und Herbst dringt mehr Wärme in den Boden ein, als im Winter wieder entweicht. Die Wärme dringt rasch in den Boden ein, der Permafrost löst sich auf. Das Neue an der Studie von Lawrence und Kollegen ist, dass dieser Prozess nichtlinear verläuft. Insbesondere in den Regionen, in denen der Permafrostboden schon nicht mehr extrem kalt ist, beschleunigt sich sein Abtauen, sollte es zu einem sprunghaften Rückgang des Meereises kommen, wie ihn die Arbeit von Holland erwarten lässt.

Es gibt einige Anzeichen dafür, dass das extreme Eisminimum vom September 2007, als die Eisfläche nur noch etwas über vier Millionen Quadratkilometer und damit 23 Prozent weniger als das bisherige Rekordminimum betrug, schon der Beginn einer Episode eines raschen Rückgangs war. Aber genau wird man das natürlich frühestens im kommenden Herbst sagen können oder vermutlich sogar erst im darauf folgenden Jahr.

Davon abgesehen bietet die Arbeit von Lawrence und Kollegen einen guten Ansatz zum Weiterforschen. Denn es fehlen bisher Ergebnisse, die den Rückgang des Permafrosts in der Fläche vorhersagen und daraus Abschätzungen der Kohlendioxid- und Methanemissionen ableiten könnten. Die wären aber nötig, um eine etwaige positive Rückkoppelung in der Arktis zeitlich und vom Umfang her einzuordnen.