Biden-Demütigung und Kriegseskalation: Hat Netanjahu den Bogen überspannt?
Regierungschefs streiten über Palästinenserstaat. Gleichzeitig agieren beide als Getriebene eines irrationalen Kriegs. Sie könnten darin untergehen. Einordnung.
Wie heißt es so schön: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Diese Weisheit könnte sich beim israelischen Premierminister und wegen Korruption angeklagten Politiker schon bald bewahrheiten. Jedenfalls lässt er keine Möglichkeit aus, selbst seine treuesten Verbündeten immer mehr gegen sich aufzubringen.
Schlagabtausch Netanjahu und Biden
Gestern lieferte er sich mit US-Präsident Joe Biden einen Schlagabtausch. Der Hintergrund: Netanjahu hatte am Donnerstag in einer vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz erklärt, dass Israel nach dem Krieg volle Kontrolle und Souveränität über alle Territorien "westlich des Jordans" ausüben werde.
"Seit 30 Jahren bin ich sehr konsequent. In diesem Konflikt geht es nicht um das Fehlen eines palästinensischen Staates, sondern um die Existenz eines jüdischen Staates", sagte Netanjahu, der sich immer wieder damit brüstet, die international geforderte Zweistaatenlösung zu blockieren. Das kollidiere zwar mit dem "Prinzip der Souveränität", so Netanjahu, aber egal.
Daraufhin griff Biden am Freitag zum Telefon und rief nach fast einem Monat Funkstille zum ersten Mal seinen Amtskollegen in Israel an. Danach hieß es vom Weißen Haus, dass die Unterhaltung Biden darin gestärkt habe, dass ein unabhängiger Palästinenserstaat auch unter eine Netanjahu-Regierung möglich sei.
Netanjahu erklärt Zweistaatenlösung für tot
So weit, so gut. Doch Netanjahu ließ es mit dieser diplomatischen Klärung nicht auf sich beruhen. Er legte nach.
So erklärte Netanjahus Sprecher gestern, der israelische Regierungschef habe dem US-Präsidenten im Telefonat vielmehr verdeutlicht, dass die Sicherheitsbedürfnisse seines Landes keinen Raum für einen souveränen palästinensischen Staat ließen. Damit demütigte er Biden auf offener Bühne.
Und das in einer Phase, in der die Kritik bis hin zur Völkermord-Anklage von Südafrika vor dem Internationalen Gerichthof an Israels Gaza-Krieg zunimmt und die US-Regierung immer stärker, auch in den USA, unter Druck steht wegen ihrer weiter uneingeschränkten Unterstützung Israels, in Form von massiven Waffenlieferungen und Vetos im UN-Sicherheitsrat, die einen von der großen Mehrheit der Staatengemeinschaft geforderten Waffenstillstand blockieren.
Es ist hier nicht der Ort darzulegen, dass die USA, wie auch die Europäer, in der Öffentlichkeit zwar die Zweistaatenlösung propagieren, aber seit Jahrzehnten nicht nur nichts für deren Realisierung unternehmen, sondern ihre Verhinderung seitens Israels aktiv unterstützen. Die UN-Vetos und die Parteinahme der USA bei den bilateralen Verhandlungen bezüglich eines Palästinenserstaats sind gut dokumentiert.
Das Feigenblatt
Doch was Netanjahu als israelischer Regierungschef nun veranstaltet, ist, einen gefährlichen Schritt weiterzugehen: Er zieht das Feigenblatt der westlichen Wertegemeinschaft gegenüber den Palästinensern weg, das Versprechen auf einen eigenen Staat.
Denn es ist eine Sache, einen Palästinenserstaat aufzuschieben, immer wieder auf Eis zu legen und zu erklären, es sei gerade nicht die richtige Zeit dafür. Eine andere ist es, das international verbürgte Recht auf nationale Selbstbestimmung den Palästinenser an sich abzusprechen.
Daher die Aufregung in den USA und Europa über die "Demütigung". Der sogenannte Schatten-Außenminister David Lammy von der britischen Opposition kritisierte die öffentliche Ablehnung eines palästinensischen Staates durch Netanjahu als "moralisch" und "praktisch" für falsch. Ein Sprecher der britischen Regierung nannte die Äußerungen "enttäuschend".
In den USA forderte der Senator vom Bundesstaat Vermont, Bernie Sanders, dass die Biden-Regierung nach Netanjahus Klarstellung der israelischen Regierungsposition die Militärhilfe für den Krieg im Gazastreifen einstellen müsse.
Wenn Netanjahu den Weg der militärischen Dominanz fortsetzt, muss er es allein tun. Die Vereinigten Staaten können dabei nicht zum Komplizen werden.
Biden und Netanjahu als Getriebene
Biden wie Netanjahu agieren immer mehr als Getriebene. Der US-Regierung fliegt der Gaza-Krieg an mehreren Fronten um die Ohren.
Den Demokraten drohen wegen der Waffenstillstands-Blockade wichtige Wählerschichten verloren zu gehen für die Präsidentschaftswahl im November, die Huthi ziehen die USA in eine nicht zu gewinnende Konfrontation im Roten Meer und die Region droht insgesamt in einen großen Krieg zu rutschen.
Derweil sehen sich leitende US-Vertreter einer Anklage in US-Gerichten gegenüber, Israel beim Völkermord zu assistieren.
Die Regierung in Washington scheint jedoch weiter der Ansicht zu sein, dass ein Kurswechsel angesichts der Verheerungen im Gazastreifen und der vielfältigen Risiken nicht angezeigt ist. Die Frage ist, wie lange sie diese Meinung noch aufrechterhalten können.
Druck auf Netanjahu wächst
Netanjahu hingegen spekuliert darauf, dass der fortgesetzte Krieg und die Eskalation ihn schützen. Nicht nur vor den Korruptionsklagen, sondern auch vor der ansteigenden Welle an Frust im Land. So werden die Stimmen lauter, die Aufklärung über die Reaktion auf den Hamas-Angriff am 7. Oktober und das Versagen der Streitkräfte und Geheimdienste fordern.
Am Mittwoch reichte der israelische Oppositionsführer Yair Lapid einen Misstrauensantrag gegen die rechtsextreme Netanjahu-Regierung ein, weil sie nicht in der Lage ist, die Freilassung der 136 israelischen und anderen Geiseln zu erreichen, die noch immer von militanten Palästinensern in Gaza festgehalten werden.
"Diese Regierung kann nicht weiterbestehen", erklärte Lapids Partei Jesch Atid in einer Erklärung. "Ihr Versagen kostet Menschenleben und die Zukunft des Landes."
Gestern demonstrierten wieder Tausende in Tel Aviv. Sie fordern ein sofortiges Ende des Krieges und eine Rückkehr der von der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln.
Waffenstillstand gefordert
Eine Demonstrierende in Jerusalem hielt ein Plakat mit der Aufschrift hoch: "Schrei der Mütter: Wir werden unsere Kinder nicht im Krieg opfern, um den rechten Flügel zu retten".
Selbst in Netanjahus Kriegskabinett wächst die Unzufriedenheit mit seiner Führung. Gadi Eisenkot, ein ehemaliger Chef des israelischen Militärs, sagte diese Woche, ein "totaler Sieg" über die Hamas sei unwahrscheinlich und nur ein Waffenstillstandsabkommen könne die Geiseln nach Hause bringen. Auf die Frage, ob Netanjahu den Krieg aus politischen Gründen verlängern wolle, hielt er inne, bevor er antwortete: "Ich hoffe nicht."
Die meisten Umfragen zeigen, dass die gegenwärtige israelische Regierung ihre Macht an die Oppositionskoalition verlieren würde. Eine Befragung von Anfang Januar ergab, dass nur 15 Prozent der Israelis wollen, dass Netanjahu nach dem Gaza-Krieg im Amt bleibt.
Ohne realistisches Endgame
Während der israelische Krieg in Gaza weitergeht und bisher rund 25.000 Bewohner dort getötet hat, der größte Teil davon Kinder und Frauen, klammert sich die Netanjahu-Biden-Allianz an den fatalen Glauben, dass mit der Zeit schon eine Lösung, eine Beruhigung eintreten wird.
Ein irriger Glaube ohne realistisches "Endgame". Denn die Hamas und das, was sie repräsentiert, wird nicht durch noch so viele Militärschläge verschwinden.
Die politische Zukunft Bidens und Netanjahus könnte derweil in den von ihnen beförderten Eskalationsspiralen, die sich ins Nichts drehen, schneller beendet werden, als manche meinen.