Big Data, kleine Rechte: Die Elektronische Patientenakte und personalisierte Medizin
Koalitionsvertrag fordert: An Innovationen angepassten Datenschutz und neue Regeln für Zell- und Gentherapien. Was ein Marktimperativ und Ihr persönlicher Gesundheitszustand damit zu tun haben.
Der Koalitionsvertrag von Union und SPD ("Verantwortung für Deutschland", 9. April) sieht unter anderem eine umfassende Reform des Gesundheitswesens vor. Eine zentrale Rolle spielt dabei die datengestützte Medizin, deren Verheißungen die Koalitionäre offenbar mit gehörigem Nachdruck verfolgen.
Deutlich wird das zum Beispiel in Bezug auf die elektronischen Patientenakte (ePA), die ab heute, dem 29. April, im Rahmen einer Testphase für alle Gesundheitseinrichtungen zunächst freiwillig nutzbar ist, bevor das Angebot ab dem 1. Oktober laut Koalitionsvertrag in eine "verpflichtende sanktionsbewehrte Nutzung" überführt werden soll.
Der Arbeitskreis Datenschutz und Datensicherheit der Gesellschaft für Informatik e.V. hat kürzlich eine kritische Stellungnahme zu Koalitionsvertrag und ePA veröffentlicht, wonach entsprechende Pläne "wegen gravierenden Verstoßes gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sogar verfassungswidrig" sein könnten.
Dabei bezieht sich der Verein ausdrücklich auf die bisherige "opt-out"-Regelung, welcher zufolge Patienten sich nicht aktiv für die ePA entscheiden, sondern erst nachträglich Widerspruch dagegen einlegen müssen.
Der Verein folgt außerdem dem Chaos Computer Club (CCC) in seiner Kritik, dass die ebenfalls geplante Verarbeitung und Verknüpfung pseudonymisierter persönlicher Informationen durch Forschungsdatenzentren nicht als sicher gelten könne.
"Zeitgemäße Regelung von Zell- und Gentherapien"
Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Stärkung der Gesundheitsforschung erstreckt sich auch auf das Fachgebiet der personalisierten Medizin – ein Behandlungskonzept, wonach Therapien gezielt an individuelle genetische, molekulare und zelluläre Besonderheiten eines Patienten angepasst werden. Möglich machen das unter anderem neuartige Behandlungsmethoden.
So beabsichtigt die designierte Regierung, den "strategischen Ansatz bei der Gen- und Zelltherapie fortzuführen", eine "zeitgemäße Regelung von Zell- und Gentherapien" zu ermöglichen und "Hürden" in der klinischen Forschung abzubauen.
Die mRNA- (oder treffender: modRNA-)Präparate, die in der Corona-Krise per Notfallzulassung verfügbar gemacht wurden, gelten als Durchbruch auf dem Gebiet jener Zell- und Gentherapie.
Im Zusammenhang mit der personalisierten Medizin nennen die Autoren des Koalitionsvertrags auch die Harmonisierung der Regelungen mit anderen EU-Staaten, beispielsweise in der CAR-T-Zelltherapie, und die Vereinfachung der Rahmenbedingungen für Labore der (niedrigsten) Sicherheitsstufe S 1.
Mit diesen Schritten knüpfen die Koalitionäre unmittelbar an die Pharma-Strategie der scheidenden Ampel-Regierung an. Telepolis hat zu diesen Harmonisierungsbestrebungen an anderer Stelle bereits ein kritisches Fazit gezogen.
Der Fortschritt in der Biotechnik ist aber nur eine der wesentlichen Voraussetzungen für die personalisierte Medizin. Die andere sind freilich: Daten. Auch der Umgang mit diesen sowie das vertretbare Ausmaß ihres Schutzes spielt folglich eine wesentliche Rolle in der digitalen Gesundheitsstrategie.
Eine "offenere (...) Kultur des Datenteilens"
Im Koalitionsvertrag wird an mehreren Stellen die Bedeutung des Datenschutzes betont, speziell sticht es aber dort hervor, wo ihm zugestanden werden kann, eine Rolle bei "Digitalisierungsfortschritten sowie Forschung und Innovation" zu erfüllen.
So sollen Verwaltungsprozesse automatisiert und effizienter gestaltet werden, insbesondere durch den Einsatz sogenannter Künstlicher Intelligenz. Die Forschung soll von einem Zugang zu relevanten Daten und deren Verknüpfung profitieren.
Auch hier können KI und Big Data dazu eingesetzt werden, große Mengen an Gesundheitsdaten auszuwerten und etwa neue Biomarker für die Entwicklung personalisierter Therapien zu identifizieren.
Der Schlüssel zu diesem Erfolgsversprechen muss aus Sicht der Unterzeichner ein "offeneres und positiveres Datennutzungsverständnis" ein, um Daten strategisch zu bündeln und besser nutzen zu können. Am Ende soll eine "Kultur der Datennutzung und des Datenteilens" stehen, die Innovationen fördert und gleichzeitig die Grund- und Freiheitsrechte zu schützen verspricht.
Auch diesem unkonventionellen Verständnis des Datenschutzes hat sich Telepolis an anderer Stelle bereits gewidmet. Die "digital only"-Strategie für die Verwaltung der Bundesrepublik fügt sich ebenfalls in dieses Bild.
Bei aller Effizienz und Fortschrittlichkeit: Rund um die personalisierte Medizin bündeln sich nicht nur Daten, sondern auch handfeste Wirtschaftsinteressen.
Personalisierte Medizin als "Marktimperativ"
So gilt die personalisierte Medizin als einer der dynamischsten und wachstumsstärksten Märkte im Gesundheitswesen. Für das Jahr 2035 wird auf dem Gebiet der personalisierten Medizin ein Umsatz von rund 1,3 Billionen US-Dollar sowie eine jährliche Wachstumsrate von über acht Prozent erwartet. Manche Branchenvertreter sprechen gar von einem "Marktimperativ".
Besonders in der Onkologie hat sich der Anteil individueller Therapieansätze mit sogenannten "small molecules" in den letzten Jahren deutlich erhöht. Über die Krebstherapie hinaus wächst der Markt auch in Bereichen wie Neurologie, Kardiologie und Immunologie. Die Zahl der zugelassenen personalisierten Medikamente steigt kontinuierlich; in Deutschland sind derzeit über 70 Präparate im Einsatz.
Personalisierte Medizin ist aber nicht nur ein attraktives Geschäftsfeld. Daten, die Rückschlüsse auf ein individuelles Krankheitsgeschehen erlauben, können auch zur Prävention eingesetzt werden – zur Prävention von Krankheiten, aber auch zur Prävention von Mehrausgaben innerhalb des öffentlichen Gesundheitshaushalts.
Genetische "Risiko-Scores": Individuell intervenieren, kollektiv schützen
Anfang 2023 berichteten deutsche Medien über den Wechsel von Lothar Wieler ans Hasso-Plattner-Institut (HPI), das sich nicht zuletzt durch die Investitionen des gleichnamigen SAP-Mitbegründers als renommierte Ausbildungsstätte und Elite-Institut für digitale Technologie etablieren konnte.
Der ehemalige Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) bekleidet dort seitdem die Stelle des Sprechers im Cluster Digital Health, das sich der Digitalisierung von Medizin und Gesundheitswesen verschrieben hat.
Der neue Arbeitgeber rühmt Wieler dafür, sich am RKI für eine "datengestützte Wissenschaft eingesetzt und die digitale Transformation des Instituts beschleunigt" zu haben.
Ein paradigmatisches Vorhaben für die zukunftsgewandte Arbeit des HPI markiert das EU-geförderte Projekt Intervene (deutsch: einschreiten, intervenieren), bei dem das Institut gemeinsam mit 16 weiteren Forschungseinrichtungen daran arbeitet, neue Methoden für die Prävention, Diagnose und personalisierte Behandlung von Krankheiten zu entwickeln.
Ziel des bis Ende 2025 laufenden Projekts ist es, KI-basierte Technologien auf einen großen Pool von genomischen Gesundheitsdaten anzuwenden, um statistische Vorhersagen zum individuellen Erkrankungsrisiko und Krankheitsverläufen von Volkskrankheiten zu treffen.
Der Bioinformatiker Christoph Lippert sieht in "personalisierte(n) Therapie- und Präventivmaßnahmen basierend auf individuellen genetischen Risiko-Scores ein enormes Potenzial, die Lebenserwartung in der EU zu verlängern". Und es gibt noch einen willkommenen, vermeintlichen Nebeneffekt:
Fokussieren werden sich die Projektpartner auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und Brustkrebs, die alle eine enorme Belastung für die öffentlichen Gesundheitssysteme darstellen. aus der HPI-Pressemitteilung zum Projekt Intervene
Mit der Universität Potsdam und seinem alten Arbeitgeber bzw. dem Zentrum für KI in der Gesundheitsforschung am RKI, arbeitet Wieler beim Europäischen Laboratorium für Lernende und Intelligente Systeme (Ellis) zusammen, wo ebenfalls die Entwicklung und Anwendung von KI in den Bereichen Nachhaltigkeit und Gesundheit auf der Agenda stehen.
Gesundheitsverhalten als Maßnahmen-Grundlage
Die Erhebung von Daten zur Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen im Allgemeinen sowie zur Umsetzung "zielgruppenspezifische(r) Präventionsmaßnahmen" im Besonderen wurden 2023 auch als wesentlicher Schwerpunkt des Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit (Biög, vormals Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin, Bipam) festgelegt.
Die Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) hätte ursprünglich zu Beginn dieses Jahres ihre Arbeit aufnehmen sollen. Zu diesen Daten zählte der entsprechende Gesetzentwurf "Gesundheitsbedingungen, Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten der Bevölkerung".
Ziel der neuen Behörde ist es in diesem Zusammenhang, die öffentliche Gesundheit zu stärken, um einerseits Lebensqualität und Lebenserwartung zu steigern sowie andererseits "Kosten im Gesundheits- und Sozialsystem zu reduzieren". Wörtlich heißt es in der Pressemitteilung von 2023:
Die hohen Kosten im deutschen Gesundheitssystem gehen auch auf einen Mangel an Primärprävention zurück.
Inwiefern solche Präventionsmaßnahmen für Patienten ebenso "verpflichtend und sanktionsbewehrt" umzusetzen sind wie die elektronische Patientenakte für Gesundheitseinrichtungen, bleibt noch offen. Ebenso, welche Aspekte des Gesundheitsverhaltens in die betreffende Bewertung einfließen könnten.
In der Corona-Krise öffnete der Genetiker Wolfram Henn bekanntlich das Overton-Fenster eines Verzichts auf intensivmedizinische Behandlung für diejenigen, die es vorzogen, sich keiner neuartigen Immuntherapie zu unterziehen.
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Redaktionelle Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels war die Rede von einem prognostizierten Marktvolumen der personalisierten Medizin in Höhe von 3,18 Billionen US-Dollar im Jahr 2025. Diese Angabe ist unzutreffend. Wir bitten unsere Leser, diesen Fehler zu entschuldigen.