Bildungssystem: Wie Palästina aus deutschen Klassenzimmern verschwindet

Schwarze Regenschirme im Vordergrund einer Straßenszene, im Hintergrund die Fahne Palästinas

Propalästinensische Proteste im Mai 2021 in Köln

(Bild: Hussain Abdullah/Shutterstock.com)

Anna Younes ist Rassismusforscherin. Sie kritisiert die Marginalisierung und Kriminalisierung palästinensischer Stimmen im Bildungswesen. Ein Telepolis-Interview.

Der Gaza-Krieg wirkt bis in deutsche Schulen und Hochschulen hinein. Am 30. Januar 2025 wurde eine Resolution im Bundestag beschlossen, die härteres Vorgehen gegen Haltungen fordert, die gegenüber den Palästinensern solidarisch sind und der israelischen Regierung kritisch gegenüberstehen, auch unter Schülern und Studierenden. Ob es sich hierbei stets oder vorrangig um Antisemitismus handelt, ist umstritten.

Das Urteil über diese politische Debatte wird zunehmend an pädagogische, administrative und disziplinarische Institutionen übertragen. Anna Younes ist eine deutsch-palästinensische Wissenschaftlerin. Ihre Forschungen konzentrieren sich auf die Analyse der Bekämpfung des "Neuen Antisemitismus" mit Mitteln der Aufstandsbekämpfung.

Im Telepolis-Interview spricht sie zur Löschung palästinensischer Stimmen aus dem Bildungssystem, zur Kriminalisierung von Akteuren, die sich mit den Palästinensern solidarisieren, und über Folgen für die deutsche Innenpolitik.

▶ Sie nahmen an der Konferenz "Talking about (the silencing of) Palestine" teil. Frau Younes, was hat Sie dazu bewogen?

Anna-Esther Younes
Unsere Gesprächspartnerin Anna-Esther Younes
(Bild: HU Berlin)

Younes: Meine Kollegin Hanna Al-Taher und ich haben zum Thema antipalästinensischer Rassismus im deutschen Bildungssystem zwei Artikel veröffentlicht. Daraufhin wurden wir von den Veranstaltern angefragt. Mir war wichtig, nicht einfach einen Vortrag zu halten.

Im derzeitigen Kontext finde ich es fehl am Platz, einfach weiterzumachen wie bisher, so als wäre nichts passiert. Wir haben uns für einen Workshop entschieden, wo es auch um Austausch und Vernetzung ging.

▶ Sie sprachen über die Löschung Palästinas aus dem deutschen Bildungskanon. Welche Maßnahmen, um palästinensische Stimmen zu marginalisieren, wurden seit dem 7. Oktober 2023 ergriffen?

Younes: Bildung spielte immer eine wichtige Rolle in der Ausbildung und Durchführung von Kolonialismus. Bildung sorgt dafür, dass koloniale Ideologien durchgesetzt, ausgeführt und an die nächsten Generationen weitergegeben werden kann.

Was jetzt mit Palästinensern passiert, ist keine Ausnahme, sondern eine Fortführung kolonialer und imperialer Interessen. Dass palästinensische Geschichte und Identität aus der Bildung herausgeschrieben werden, ist auch nichts Neues.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders ab dem Jahr 2000 aber institutionalisierten europäische Staaten den Holocaust als identitätsstiftend für ein "Neues Europa" und ein "Neues Deutschland" und gleichzeitig zum Repräsentanten des schlimmsten Gewaltverbrechens der Menschheit.

Das führte dazu, dass die europäische Kolonialgeschichte dabei an den Rand gedrängt und im Falle Palästinas komplett herausgeschrieben wird.

Der neue Kampf gegen Antisemitismus, den ich wegen seiner kriegerischen Rhetorik und Praxis in Anlehnung an den "War on Terror" und den "War on Drugs" als "War on Antisemitism" bezeichne, fing mit der zweiten Intifada, einer Änderung und Erweiterung im deutschen Staatsbürgerschaftsgesetz und dem War on Terror an.

Seit dem 7. Oktober beobachten wir nun vermehrte Überwachung von Schülern und Studenten durch Lehrpersonal, Verwaltung, Polizei, Legislative und Judikative sowie ihre Kriminalisierung und Markierung als Terroristen oder gar als "neue Nazis".

Wer etwa in einem Instagram-Post "From the River to the sea …" schreibt oder das Wort "Genozid" zur Beschreibung der Vorgänge in Palästina benutzt, kann Volksverhetzung vorgeworfen bekommen. Das Tragen einer Kufiya, das Kleben eines Palästina-Stickers können auch schon ausreichen.

Auch die Migrationspolitik wird enger gezogen. In Deutschland kann eine erworbene Staatsbürgerschaft nach zehn Jahren mittlerweile wieder aberkannt werden, wenn bekannt wird, dass jemand sich auf Social Media für Palästina positioniert hat oder auf einer Demonstration war.

▶ Sie besprachen, wie Bildungseinrichtungen zur Durchsetzung der deutschen Staatsräson umgebaut werden. Welches Narrativ wird hier gebildet und welche Interessen werden bedient?

Younes: Wir sehen sozusagen eine Palästinensisierung der "Muslimfrage" in der Innen-, Immigrations- und Antirassismuspolitik. Antimuslimischer Rassismus und Rassismus im Kontext von Migration wird immer mehr durch die "Palästinafrage" gelesen.

Die Figur des Palästinensers wird darin als nicht in den Westen integrierbares Subjekt gesehen. Wenn Muslime, Geflüchtete oder andere mit Palästina in Verbindung gebracht werden, werden sie zur System- und Demokratiegefahr erklärt.

Ziel ist es, ein Europa, ein Deutschland "aufrechtzuerhalten", das sich mit weiß-deutscher und eurozentrischer Geschichte, Kultur und Politik identifiziert.

▶ Welche Spielräume für Kritik sehen Sie?

Younes: Es gibt einen guten Spruch: Die Linke bestimmt die Wortwahl, die Rechte bestimmt die Realpolitik. In Deutschland haben wir eine sogenannte feministische Außenpolitik, die angeblich sogar antirassistisch ist. Aber was durchgesetzt wird, ist die gleiche konservative Realpolitik wie zuvor.

Es wurde nur der semantischen Spielraum unserer Eliten erweitert. Das führt dazu, dass viele nicht mehr wissen, was passiert – oder sich gegen Feminismus und Antirassismus wenden, weil ohnehin alles als gelogen oder als Identitätspolitik verstanden wird.

Diese Umbenennungspolitik ist eines der wichtigsten Scharniere, wie sich die neoliberale kapitalistische Politik neu positioniert hat. Die Mächtigen werden als Opfer und die Opfer als übermächtige Eindringlinge dargestellt.

Hinzu kommt, dass Konflikte immer unversöhnlicher werden. Das kennen wir aus dem War on Terror: Entweder seid Ihr für uns oder gegen uns! Ob hierzulande, in den USA, England, Frankreich oder Osteuropa: Kritik an politischer Macht oder Eliten gerät immer mehr unter Beschuss.

Jede Form antikapitalistischer Kritik – seien es antikoloniale, ökologische, feministische oder antirassistische – kann betroffen sein. Leute, die sich tatsächlich für eine gerechtere Welt einsetzen, werden als die dargestellt, die Konflikte und Terrorismus stiften wollen.

Es scheint, als bliebe "Kritik" in dieser neuen Realität denen mit politischer und ökonomischer Macht vorbehalten.

▶ Was fordern Sie von Beschäftigten im Bildungswesen angesichts dieser Entwicklungen?

Younes: Aufstehen gegen rechts! Das ist sehr rechte Politik auf allen Ebenen. Jener Lehrer, der in Berlin einen Schüler ohrfeigte, der eine Palästinaflagge auf dem Schulhof schwang, hatte eine Vorgeschichte rassistischer und sexistischer Bemerkungen gegenüber muslimischen Schülerinnen. Er warf eine Schülerin aus seiner Klasse, die eine Palästinakette trug – vor dem 7. Oktober 2023.

Die Handreichung des LKA Nordrhein-Westfalen forderte, mitunter Terrorgesetze und den Volksverhetzungsparagraphen gegen Minderjährige anzuwenden. Als ich fragte, inwieweit dies dem Bildungsauftrag im Jugendstrafrecht gerecht werde, sagte mir die Polizei, das müsse dann der Richter entscheiden.

Eine solche proaktive Auslegung von Rechtsprechung durch die Polizei dient womöglich der Abschreckung gegenüber einer Bevölkerungsgruppe, die kollektiv als "gefährlich" gebrandmarkt wird. Letztlich wird Kindern und Jugendlichen die Minderjährigkeit abgesprochen und sie werden wie Erwachsene behandelt.