Blockade Leningrads: "Das schaurigste Stadtdrama, das die Geschichte jemals gesehen hat"

Sowjetische Flak in Leningrad. Bild: RIA Novosti Archiv, Bild #62364 / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0

Am 27.01.1944 endete die Blockade der deutschen Wehrmacht, eines der größten Kriegsverbrechen der Geschichte. Rückblick über den geplanten Hungertod von Millionen (Teil 1).

Heute vor 80 Jahren wurde die russische Metropole Leningrad befreit, nachdem neun Tage zuvor die Rote Armee den Blockadering der deutschen Wehrmacht durchbrochen hatte. Damit endete "die größte demographische Katastrophe, die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste" (John Barber).

Ganze 872 Tage hatten die Einwohner der Stadt gehungert. Rund eine Million Zivilisten starben hierbei. Das sind rund doppelt so viele Zivilisten, wie sie im Deutschen Reich während des gesamten Zweiten Weltkriegs durch alliierte Luftangriffe umgekommen sind.

Als am 8. September 1941 die deutsche Wehrmacht den Vorort Schlüsselburg eroberte, war Leningrad auf dem Landweg komplett abgeschnitten und weiträumig eingeschlossen. Die einzige Verbindung zum Hinterland bildete der größte See Europas, der Ladogasee, der mehrere Monate im Jahr vereist ist.

Aufgrund der Lufthoheit der deutschen Armee war die Stadt auch nicht von Hilfsflugzeugen zu erreichen. Das Leiden während der knapp drei Jahre in Leningrad ist kaum vorstellbar (daher sollen im zweiten Teil dieser Artikelserie den Opfern das Wort zukommen).

Geplante Hungerkatastrophe

Die deutsche Militärstrategie zielte von Anbeginn darauf ab, möglichst schnell eine Hungerkatastrophe in der Millionenstadt herbeizuführen. So hatten die deutschen Piloten den expliziten Befehl, Lebensmittellager, Kraftwerke und Wasserwerke zu bombardieren. Schon am 12. September 1941 zerstörten sie das größte Lebensmittellager der Stadt.

Reichsmarschall Hermann Göring, der die ökonomische Ausbeutung der besetzten Gebiete koordinierte, erklärte lapidar den geltenden Grundsatz:

Aus wirtschaftlichen Überlegungen ist die Eroberung großer Städte nicht erwünscht, ihre Einschließung ist vorteilhafter.

Das Schicksal der großen Städte, speziell Leningrad, sei ihm "vollständig egal. Dieser Krieg wird die größte Hungerkatastrophe seit dem 30-jährigen Krieg zeigen".

Entsprechend formulierte Generalquartiermeister Eduard Wagner in einem Brief an seine Frau:

Der Nordkriegschauplatz ist so gut wie bereinigt, auch wenn man nichts davon hört. Zunächst muss man sie in Petersburg schmoren lassen, was sollten wir mit einer 3,2 Mill. Stadt, die sich nur auf unser Verpflegungsportemonnaie legt. Sentimentalitäten gibt’s dabei nicht.

Sentimentalitäten gab es tatsächlich keine, wie die Weisung der Heeresgruppe Nord beweist:

Jedes Ausweichen der Zivilbevölkerung gegen die Einschliessungstruppen ist – wenn notwendig unter Waffeneinsatz – zu verhindern.

Kalte Berechnung

Ein Dokument, das hier in Gänze zitiert werden soll, offenbart, mit welcher Menschenverachtung über das Schicksal einer Millionenstadt diskutiert wurde.

Die Vortragsnotiz des Wehrmachtführungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht über eine mögliche Variante der Belagerung von Leningrad vom 21. September 1941 spielte die verschiedenen möglichen Zukunftsszenarien der Stadt durch:

Möglichkeiten:

1.) Stadt besetzen, also so verfahren, wie wir es mit anderen russischen Großstädten gemacht haben: Abzulehnen, weil uns dann die Verantwortung für die Ernährung zufiele.

2.) Stadt eng abschließen, möglichst mit einem elektrisch geladenen Zaum umgeben, der mit M.Gs. bewacht wird. Nachteile: Von etwa 2 Millionen Menschen werden die Schwachen in absehbarer Zeit verhungern, die Starken sich dagegen alle Lebensmittel sichern und leben bleiben. Gefahr von Epidemien, die auf unsere Front übergreifen. Außerdem fraglich, ob man unseren Soldaten zumuten kann, auf ausbrechende Frauen und Kinder zu schießen.

3.) Frauen, Kinder, alte Leute durch Pforten des Einschließungsringes abziehen, Rest verhungern lassen:

a) Abschieben über den Wolchow hinter die feindliche Front theoretisch gute Lösung, praktisch aber kaum durchführbar. Wer soll Hunderttausende zusammenhalten und vorwärtstreiben? Wo ist dann die russische Front?

b) Verzichtet man auf den Abmarsch hinter die russische Front, verteilen sich die Herausgelassenen über das Land. Auf alle Fälle bleibt Nachteil bestehen, daß die verhungernde Restbevölkerung Leningrads einen Herd für Epidemien bildet und daß die Stärksten noch lange in der Stadt bleiben.

4.) Nach Vorrücken der Finnen und vollzogener Abschließung der Stadt wieder hinter die Newa zurückgehen und das Gebiet nördlich dieses Abschnitts den Finnen überlassen. Finnen haben inoffiziell erklärt, sie würden Newa gern als Landesgrenze haben, Leningrad müsse aber weg. Als politische Lösung gut. Frage der Bevölkerung Leningrads aber nicht durch Finnen zu lösen. Das müssen wir tun.


Ergebnis und Vorschlag


Befriedigende Lösung gibt es nicht. H.Gr. Nord muß aber, wenn es so weit ist, einen Befehl bekommen, der wirklich durchführbar ist.

Es wird vorgeschlagen:

a) Wir stellen vor der Welt fest, daß Stalin Leningrad als Festung verteidigt. Wir sind also gezwungen, die Stadt mit ihrer Gesamtbevölkerung als militärisches Objekt zu behandeln. Trotzdem tun wir ein Übriges: Wir gestatten dem Menschenfreund Roosevelt, nach einer Kapitulation Leningrads die nicht in Kriegsgefangenschaft gehenden Bewohner unter Aufsicht des Roten Kreuzes auf neutralen Schiffen mit Lebensmitteln zu versorgen oder in seinen Erdteil abzubefördern und sagen für diese Schiffsbewegung freies Geleit zu (Angebot kann selbstverständlich nicht angenommen werden, nur propagandistisch zu werten).

b) Wir schließen Leningrad zunächst hermetisch ab und schlagen die Stadt, soweit mit Artillerie und Fliegern möglich, zusammen (vorerst nur schwache Fliegerkräfte verfügbar!).

c) Ist die Stadt dann durch Terror und beginnenden Hunger reif, werden einzelne Pforten geöffnet und Wehrlose herausgelassen. Soweit möglich, Abschub ins innere Rußland, Rest wird sich zwangsläufig über das Land verteilen.

d) Rest der "Festungsbesatzung" wird den Winter über sich selbst überlassen. Im Frühjahr dringen wir dann in die Stadt ein (wenn die Finnen es vorher tun, ist nichts einzuwenden), führen das, was noch lebt, nach Innerrußland bzw. in die Gefangenschaft, machen Leningrad durch Sprengungen dem Erdboden gleich und übergeben den Raum nördlich der Newa den Finnen.

Vortragsnotiz des Wehrmachtführungsstabes

Wenig später wurde von höchster Stelle eine Entscheidung gefällt.

Eine Kapitulation ist nicht anzunehmen

Die jahrelange Aushungerung Leningrads war keineswegs Ausdruck einer erbitterten Belagerung zweier gleicher Militärkräfte. Tatsächlich hatte die deutsche Kriegsführung nie geplant, die Stadt einzunehmen und die Einwohner überleben zu lassen.

Entgegen einem jahrzehntelang in der Bundesrepublik Deutschland gepflegten Glaubens hätte Leningrad seinem Schicksal auch durch eine Kapitulation nicht entgehen können. Da dieser Punkt von fundamentaler Bedeutung für die Bewertung der deutschen Schuld und des Ausmaßes der Blockade ist, soll er hier sehr ausführlich dargestellt werden.

Schon vor Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion hatte Goebbels in seinem Tagebuch das geplante Schicksal Leningrads festgehalten:

Vom Bolschewismus darf nichts mehr übrig bleiben. Der Führer hat die Absicht, Städte wie Moskau und Petersburg ausradieren zu lassen. Es ist das auch notwendig. Denn wenn wir schon Russland in seine einzelnen Bestandteile aufteilen wollen, dann darf dieses Riesenreich kein geistiges, politisches oder wirtschaftliches Zentrum mehr besitzen.

Bereits zwei Wochen nach Kriegsbeginn notierte Franz Halder, Generalstabschef des Heeres:

Feststehender Entschluss des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten.

In einem Schreiben der Seekriegsleitung heißt es ebenso unmissverständlich:

Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung.

Auch die Weisung für die Heeresgruppe Nord am 28. September 1941 war eindeutig:

Eine Kapitulation ist nicht zu fordern.

Ein weiteres Schreiben der Seekriegsleitung war noch schärfer formuliert:

Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden, da das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung von uns nicht gelöst werden kann und soll. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.

In einer Geheimen Anweisung des Chefs des Stabes der Seekriegsleitung, Admiral Kurt Fricke vom 29. September 1941 heißt es:

Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrußlands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung. Auch Finnland hat gleicherweise kein Interesse an dem Weiterbestehen der Stadt unmittelbar an seiner neuen Grenze bekundet.

Eine Woche später betonte Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabs:

Der Führer hat erneut entschieden, dass eine Kapitulation von Leningrad oder später von Moskau nicht anzunehmen ist, auch wenn sie von der Gegenseite angeboten würde.

Die moralische Berechtigung zu dieser Maßnahme liegt vor aller Welt klar. Ebenso wie in Kiew durch Sprengungen mit Zeitzündern die schwersten Gefahren für die Truppe entstanden sind, muß damit in Moskau und Leningrad in noch stärkerem Maße gerechnet werden. Dass Leningrad unterminiert sei und bis zum letzten Mann verteidigt würde, hat der sowjetrussische Rundfunk selbst bekannt gegeben.

Gegenüber Walther von Brauchitsch, Oberbefehlshaber des Heeres, bestätigte Hitler die Entscheidung.

Am 12. Oktober 1941 schreibt Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb: "Es ist heute die Entscheidung des Oberkommandos der Wehrmacht bezüglich der Stadt Leningrad gekommen; danach darf eine Kapitulation nicht angenommen werden."

Das Schicksal der Weltstadt war entschieden. 3,2 Millionen Menschen würden verhungern (wie in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang das Schicksal als tragische, aber normale Belagerung erinnert werden konnte, ist Gegenstand des dritten Teils der Artikelserie).